Im Streit um die Schönheit

Olaf Müller untersucht die Rolle der Ästhetik in den Naturwissenschaften

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Samuel Kuhns Ideen zum Ablauf wissenschaftlicher Revolutionen und wissenschaftlicher Paradigmenwechsel aus dem inzwischen weit zurückliegenden Jahr 1962 haben eine dauerhafte Wirkung in der Wissenschaftsphilosophie gehabt. Kuhn behauptete unter anderem, dass sich wissenschaftliche Paradigmen auch infolge ästhetischer Vorzüge durchsetzen oder umgekehrt aufgrund von ästhetischen Überlegungen zurückgewiesen werden können. Der Mitbegründer der Quantenphysik Paul Adrien Maurice Dirac trieb seinerseits die Idee, dass Ästhetik in der Physik eine Rolle spiele, auf die Spitze, als er über Einstein schrieb: „Wer die fundamentale Harmonie zu würdigen weiß, die den Lauf der Natur mit allgemeinen mathematischen Grundsätzen verbindet, wird spüren, dass eine Theorie im wesentlichen wahr sein muss, die so schön und elegant ist wie diejenige Einsteins.“ (Kursiv im Original) Gegen die Überschätzung der Rolle der Ästhetik in den Naturwissenschaften haben manche Wissenschaftler und Wissenschaftsphilosophen dennoch protestiert. So hat neulich Sabine Hossenfelder in ihrem sehr lesenswerten Buch Lost in Math. How Beauty Leads Physics Astray (2018, dt. Das hässliche Universum: Warum unsere Suche nach Schönheit die Physik in die Sackgasse führt) davor gewarnt, sich in den Naturwissenschaften bei der Wahrheitssuche von der Schönheit als Richtschnur leiten zu lassen. Der Berliner Wissenschaftsphilosoph Olaf Müller hingegen hält es eher mit Dirac und plädiert in seinem neuesten Buch Zu schön, um falsch zu sein. Über die Ästhetik in der Naturwissenschaft dezidiert für die Schönheit als Faktor in der naturwissenschaftlichen Forschung.

Müllers Buch ist sehr umfangreich, da es aber mit Elan und auf eine kurzweilige, meist leichtfüßige Art und Weise geschrieben ist, wird es viele Leser ansprechen. Neben dem Titel, der genau auf Diracs Aussage Bezug nimmt, ist folgendes Motto von Werner Heisenberg ein zentraler Ausgangspunkt: „… und die Schönheit der Natur spiegelt sich auch in der Schönheit der Wissenschaft“. Müller formuliert und variiert beziehungsweise ergänzt seine Thesen an vielen Stellen im Buch, präsentiert mehrere davon in nuce aber schon in seinem Vorwort. Er folgt zum einen dem Credo, dass Schönheit „überall gut am Platze“ sei, zum anderen stellt er die Behauptung auf, dass „der Sinn für Ästhetik einen herausragende Rolle für den wissenschaftlichen Fortschritt“ (Kursiv im Original) spiele. Das Buch enthält eine Menge konkrete Belege für diese Thesen. Es spannt einen weiten Bogen von Kopernikus über Kepler zu Newton, Einstein und Heisenberg und zeichnet einige dieser Physiker „im Rausch der Schönheit“ nach. Im Zentrum steht bei Müller die Rolle der Schönheit für das wissenschaftliche Experiment, er weist aber auch faktenreich nach, wie ästhetische Überlegungen in wissenschaftliche Theorien eingehen. Nicht selten untersucht er das von den besagten Physikern verwendete Vokabular, um ihre Einstellung zur Schönheit festzustellen. Wichtige, von Müller erstellte Zusammenhänge sind außerdem diejenigen zwischen Schönheit und Glaubwürdigkeit sowie zwischen Schönheit und Erkenntniszugewinn. Am Ende des Buches wird die Argumentation kapitelweise zusammengefasst, wobei noch einmal Müllers Ziel deutlich wird: Nachzuweisen, dass unser Schönheitssinn „unseren Erkenntnissinn“ maßgeblich „mitkonstituiert“. Damit will er eine „humanistische Sicht der Naturwissenschaft“ entwerfen. Zahlreiche Abbildungen, Farbtafeln und Fotos enthalten weitere Beweise und erhöhen gleichzeitig den ästhetischen Reiz des Buches.

Schönheit – der Brennpunkt von Müllers Publikation – wurde im Lauf der Jahrtausende unterschiedlich definiert und bewertet. Georg Wilhelm Friedrich Hegel beispielsweise hat seinen Schönheitsbegriff bekanntlich auf die prägnante Formel, Schönheit sei „das sinnliche Scheinen der Idee“ gebracht. Er setzte das Kunstschöne über das Naturschöne und differenzierte zudem historisch von Epoche zu Epoche verschiedene Kunstformen. Müller hingegen verzichtet auf eine klare Definition des Schönheitsbegriffs und auf solche Unterscheidungen: weil er Reduktionismus vermeiden möchte und weil sein Buch vom Bewusstsein geprägt ist, dass es „kein einheitliches Verständnis von Schönheit“ geben kann. Sein Schönheits- und auch sein Ästhetikbegriff bleiben demnach etwas unterbestimmt und vage. Dennoch konturiert er einige Ingredienzen der Schönheit, so die Einheit in der Vielheit, die Einfachheit, die Ordnung, die Harmonie und insbesondere die Symmetrie. Die moderne Ästhetik des Hässlichen kommt zwar zur Sprache, spielt für den Autor allerdings keine große Rolle, ist sein Bild der Natur und der Naturwissenschaft doch ausschließlich von der Idee der Schönheit dominiert. Kein klares Profil erhalten im Buch auch der viel beredete „Schönheitssinn“ oder die ästhetische Urteilskraft. „Unser Schönheitssinn“ wie auch der Schönheitssinn der untersuchten Naturwissenschaftler wird meist ahistorisch gesetzt und nicht kontextualisiert, zum Beispiel als ein jeweils zeittypisches, auch von der Kunst der spezifischen Epoche geprägtes Schönheitsideal. Positiv wiederum ist, dass der Autor  versucht, eine Relation zwischen dem Schönheitssinn des Rezipienten und demjenigen des Schöpfers einer Theorie herzustellen, der „eine Saite  im Rezipienten zum Schwingen“ zu bringen habe.

Interessant und erfrischend sind darüber hinaus die Parallelen, die Müller zwischen naturwissenschaftlichen Werken (Experimenten, Theorien usw.) und Kunstwerken aus verschiedenen Künsten und künstlerischen Formen zieht. In dem hier dargebotenen Ausmaß sind viele dieser Parallelen allerdings redundant, leuchtet die Idee von der ästhetischen Verwandtschaft zwischen Wissenschaft und Kunst dem Leser des Buches doch recht schnell ein. Die häufig vorkommende Beteuerung, dass es sich dabei nur um Parallelen und nicht um identische Erscheinungen handle, ist ebenfalls überflüssig. Von Müller besprochene Parameter wie Überraschung, Provokation und Überrumpelung mögen als ästhetische Parameter für die Rezeption wissenschaftlicher Theorien von Bedeutung sein, der konkrete Zusammenhang mit der Schönheit ist für den Leser jedoch nicht immer nachvollziehbar. Als eine gewisse Orientierung im ,Streit um die Schönheit‘, aber letztendlich als wenig hilfreich erscheint außerdem die eingeführte Unterscheidung zwischen dem Optimismus und dem Pessimismus der Naturwissenschaftler, insbesondere der Physiker, wenn es um die Schönheit geht. Nicht ohne Reiz, aber trotzdem nur rein spekulativ sind Setzungen eines „theoretischen Schönheitssinns“, eines „Gestaltungswillens“ des Menschen oder eines „Willens zur Idealisierung“ sowie die Idee, dass Menschen „symmetrische Wesen“ seien. Letztere Idee entspricht Müllers Faible für die Symmetrie und für die „Ästhetik naturwissenschaftlicher Symmetrien“, die seine Leser auch aus seinem vorigen Buch Mehr Licht: Goethe mit Newton im Streit um die Farben (2015) kennen. Unschärfen sind auch bei der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Schönheit als Eigenschaft der Natur beziehungsweise wissenschaftlicher Schönheit und dem Beschönigen wissenschaftlicher Daten und Theorien erkennbar. Hier ist zudem die Engführung zwischen beschönigendem Umgang mit Daten und wissenschaftlicher Kreativität bedenklich.

Trotz einiger Schwächen des Buches – dazu gehört als ,Schönheitsfehler‘ auch die ziemlich ausufernde Darstellung, die dem Ideal der „Einheit in der Vielfalt“ zuwiderläuft –, transportiert Müller doch gut die Begeisterung und Hochachtung vor der Schönheit des Universums, die große Physiker wie beispielsweise Werner Heisenberg empfanden. Die Aufforderung, Schönheitskriterien in den Naturwissenschaften nicht über Bord zu werfen und der Aufruf  zu mehr Kreativität in der Wissenschaft und zu mehr Mut zum „kühnen Entwurf“, der „Flügel verleihen“ kann, machen Zu schön, um falsch zu sein. Über die Ästhetik in der Naturwissenschaft  ebenfalls zu einem guten und anregenden Buch. Olaf Müller stellt sich im Streit um die Schönheit auf die Seite der Schönheit, betrachtet die Wissenschaft als „ästhetisches Faszinosum“ und versucht in goethescher Manier, eine Brücke zwischen Wissenschaft und Kunst zu bauen. Wie eine schönere Physik aber eine humanistische Physik beziehungsweise Naturwissenschaft nach sich ziehen kann oder anders gesagt wie das Wahre, Schöne und Gute zusammengeführt werden können – so Müllers nur knapp angerissene Vision am Finale des Buches –, bleibt noch zu klären.

Titelbild

Olaf L. Müller: Zu schön, um falsch zu sein. Über die Ästhetik in der Naturwissenschaft.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
576 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783100507099

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