Eros versus Tod
John Updikes Roman "Landleben" ist eine Erinnerungsorgie und erzählt zugleich eine uramerikanische Biografie
Von André Hille
Das Ganze beginnt mit einem leisen Hauch von "Ulysses". Ein Mann im Bademantel rasiert sich am Morgen, die Gedanken schweifen ab und erzählt wird schließlich, aus diesem Moment heraus, ein ganzes Leben. Owen, ein ehemals erfolgreicher Computeringenieur, blickt auf die 70 Jahre seines Daseins zurück - ein Leben, das sich um Computer, Kleinstädte, vor allem aber um die Frauen drehte. Es fängt damit an, dass der kleine Owen staunend vor einem Graffito an der Wand der Grundschule steht (ein fettes M mit Kraushaar in der Mitte) und endet mit Haarausfall und den lüsternen Blicken auf die noch immer straffen Waden seiner 65jährigen Frau Julia. Dazwischen liegen so einige Frauengeschichten. Elsie, die Jugendliebe, Phyllis, die Mathematikerin, mit der er vier Kinder zeugt, Faye Dunham und Alissa Morissey, Kleinstadtfrauen - Frauen von besten Freunden, Vertreterinnen, mit denen Owen "die Möglichkeiten einer Nacht fern von zu Hause erforscht".
Die alten Männer und der Sex - verpasste Chancen, Erinnerungen und Trauer um verflossene Potenz: Wie schon in seinem Kurzgeschichtenband "Wie war's wirklich" (2004) scheint der Mechanismus der Sublimierung bei Updike bestens zu funktionieren: Die Triebe werden direkt in die Prosa umgelenkt, bis auch wirklich die letzte sexuelle Praxis abgehakt ist. Streckenweise ist auch "Landleben" nichts weiter als ein typisches Stück Altherrenprosa, das sich dadurch auszeichnet, dass ein Großteil der Motivation zum Schreiben in der Motivation zum Be-Schreiben nackter Frauen und von Sexszenen besteht. Das allerdings beherrscht Updike nach einem mit dem Schreiben verbrachten Leben perfekt. Die Präzision seiner Sätze ist atemberaubend. Einige Absätze sind von einer solchen Unbedingtheit und Klarheit, das man unweigerlich in heftiges Kopfnicken verfällt und ein lächelndes "Ja, genau so ist das Leben" auf den Lippen hat. Man hört es förmlich knistern, wenn der Held Owen auf dem Rücksitz eines alten Chevys seine junge Freundin Elsie entkleidet, dann aber vor Angst "den Schwanz einzieht", man fiebert mit beim ersten Ehebruch und wird abgebrühter mit dem zweiten, dritten, vierten. All das ist großes Kino, nur eben etwas zu lang, zu ausführlich geraten. Die Genauigkeit der Updike'schen Bilder kann den Mangel an Spannung nicht wettmachen. So entsteht die paradoxe Situation, dass die Figuren zugleich übergenau gezeichnet sind und sie doch in ihrem tiefen Handeln und Streben seltsam blass bleiben.
Die Neigung zur Häufung von Adjektiven ("während ihre dünnen, sommersprossigen und mit weißlichem Flaum bedeckten Arme bis zum staubigen Grund reichten und ihr langes Haar, rot wie Tonerde und fein wie der Staub, zwischen ihren Armen herabhing") sei Updike verziehen. Aber zu oft, vor allem im ersten Drittel, driftet "Landleben" in ebenso richtungslose wie unnötige Assoziationsketten oder Dialoge ab, die man mit einer Mischung aus Rührung über diese Erinnerungs- und/oder Imaginationsorgie und einem ungeduldigen "Wann passiert denn nun endlich etwas" überfliegt. Erinnerungsbücher sind immer solipsistisch, denn sie stellen den sich Erinnernden in den Mittelpunkt des Universums, und das gilt für den 70jährigen Owen aus "Landleben" privat wie politisch: Owen ist der typische Repräsentant des eitlen, aufstrebenden Amerika des 20. Jahrhunderts, das nichts als die eigenen Bedürfnisse gelten lässt und niemals einen Triebaufschub duldet.
Nach dem nahezu einhellig als unlesbar titulierten Roman "Sucht mein Angesicht" (2005), in dem Updike sich an dem Leben des großen amerikanischen Malers Jackson Pollock versuchte, kehrt der mittlerweile 74jährige Autor mit "Landleben" zu seinen alten Sujets zurück: Ehe, Sex, Amerika. Stärker als alle seine vorherigen Bücher ist der Roman durchdrungen, ja angetrieben von einer großen Trauer. Hier schreibt einer, der nicht loslassen will vom Leben, der manisch jede Einzelheit festhält, damit sie ihm nicht vom Tod entrissen wird. Hier lehnt sich einer auf gegen das Altern und das Vergessen und vergisst dabei manchmal, dass er für ein Publikum schreibt.
Updike erzählt nicht wirklich eine Geschichte, sondern eine an der Chronologie der Ereignisse orientierte imaginäre Biografie: intelligent, psychologisch feinsinnig, aber im Großen und Ganzen unspannend. Was an dem Roman vor allem überzeugt, ist die stilistische Gewandtheit der Sprache. Wer sich von ihr in das amerikanische Jahrhundert forttragen lassen will, in verrückte Kleinstadtamouren und die Gründerzeit der Computerindustrie, dem sei dieses Buch empfohlen. Großen Wert auf eine spannende Story darf man dabei allerdings nicht legen.
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