Täter
Nils Weise beleuchtet in seiner Schwerpunktbiografie „Eicke“ Beziehungsgeflechte im NS-Herrschaftssystem und Niklas Frank fordert in „Bruder Norman!“ seinen Bruder zur Auseinandersetzung mit dem Vater und Naziverbrecher Hans Frank auf
Von H.-Georg Lützenkirchen
Das Foto auf dem Buchumschlag zeigt Theodor Eicke bei einem Besuch des KZ Lichtenburg im März 1936. Eine feiste Gestalt im SS-Dienstmantel mit tumb-mürrischem Gesichtsausdruck. Der Zigarettenstumpen im Mundwinkel vermittelt den umstehenden lachenden Wachmännern eine kumpelhafte Lässigkeit, hinter der brutale Bösartigkeit lauert. Einer jener Typen, die furchtbare Bedeutung gewinnen, wenn man ihnen eine Uniform verpasst und sie Macht ausüben lässt.
Theodor Eicke war zum Zeitpunkt der Aufnahme Leiter der IKL, der Inspektion der Konzentrationslager im Deutschen Reich. In diesem ‚Amt‘ besorgte Eicke in Heinrich Himmlers Auftrag den Aufbau des Konzentrationslagersystems nach dem Vorbild des „Musterlagers“ Dachau. Seitdem er im März 1934 zum Kommandanten des Dachauer Lagers berufen worden war, hatte Eicke dort seine Vorstellungen eines von der SS geführten Konzentrationslagers umgesetzt. Das „Dachauer Modell“ zielte darauf, den Terror und die Brutalität in den Lagern zu systematisieren und durch Zentralisierung gegenüber ‚zivilen‘ Instanzen und jeder Öffentlichkeit abzuschotten. Immerhin hatte es zu Anfang der Dachauer Lagerzeit noch Ermittlungen wegen Mordverdachts gegen das Lagerpersonal gegeben. Vor solchen Anwandlungen ziviler Stellen sollte das Lagersystem der SS endgültig geschützt sein. Zum Modell Dachau gehörte auch die Ausbildung der KZ-Wachmannschaften und jener Führungskader, die später als KZ-Kommandanten ‚Karriere‘ machten. Aus der „Dachauer Schule“ kamen Rudolf Höß, Hans Aumeier, Richard Baer, Kommandanten in Auschwitz, Karl Koch, Kommandant in Buchenwald und Majdanek, Josef Kramer, Kommandant in Natzweiler, Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen – um nur diese wenigen Namen zu nennen.
Theodor Eicke war ein typischer Vertreter des NS-Herrschaftssystems. Es ist aufschlussreich, wenn der Historiker Nils Weise in seinem Buch „Eicke. Eine SS-Karriere zwischen Nervenklinik, KZ-System und Waffen-SS“ feststellt, dass Eicke „soziologisch betrachtet ein absolut durchschnittlicher SS-Führer mit einer für zahlreiche Nationalsozialisten typischen Biografie der Entwurzelung, der Ziellosigkeit und des beruflichen Scheiterns“ war. Aufschlussreich deshalb, weil die Naziherrschaft, und hier insbesondere das Himmler’sche Terrorsystem, Menschen wie Eicke Karrierechancen bot. Jemand wie Eicke ergänzte die „Generation der Unbedingten“ in der SS, junge intellektuelle Karrieristen wie Werner Best, die an ihren Schreibtischen die Verbrechen planten und in Gang setzten, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Eicke aber „mordete eigenhändig, handelte emotional und irrational“ – und weist damit Merkmale eines anderen Typus auf, der gleichwohl zum Wesen des NS-Regimes gehörte.
Im normalen zivilen Leben blieb Eicke erfolglos. Die aufkommende Nazibewegung schuf für jemanden wie ihn neue Perspektiven. Das eigene Versagen konnte mit den Umständen eines ‚Systems‘, in dem jemand wie er niemals eine Chance hätte haben können, erklärt werden. Umso fanatischer geriet nun die Anhängerschaft an das neue System. Das schuf für das NS-System typische Abhängigkeiten, was sich bei Eicke besonders drastisch zeigen lässt. 1933 wurde er infolge einer Rivalität in der pfälzischen Nazibewegung in eine Nervenklinik eingewiesen. Weise interpretiert diesen Zwangsaufenthalt als Maßnahme zur ‚Erziehung‘ eines Gefolgsmanns: „Eickes Schutzhaft in der Psychiatrie … war eine pädagogische Maßnahme Himmlers.“ Am Beispiel Eickes zeigt der Autor, „wie in der SS höhere Führerkarrieren gelangen und wie Himmlers Führungspersonal heranzog, erzog und sich durch ein Netz von Loyalitäten verpflichtete“. Am 3. Juni 1933 wurde Eicke aus der Psychiatrie entlassen, drei Wochen später trat er in Dachau zum Dienst an. Als er im März 1934 zum Lagerkommandanten aufstieg, hatte er bereits die ersten Morde hinter sich. Erziehung gelungen! Mehr noch: Von nun an erzog „Papa Eicke“, wie ihn seine Männer bald nannten, selbst seine Schergen. Seit 1936 trugen die von ihm aufgestellten Wachmannschaften die Bezeichnung „SS-Totenkopfverbände“.
Weises Darstellung der ‚Karriere‘ Eickes vom verkrachten Zivilisten zum fanatisch-willigen SS-Führer, der nach seinem Tod im Februar 1943 an der Ostfront zum ‚Helden‘ erklärt wurde, bietet interessante und anschauliche Einblicke in das Funktionieren des NS-Herrschaftssystems und seiner Organisationen. Insofern ergänzt diese „Schwerpunktbiografie“ die in den letzten Jahren vorgelegten Forschungsergebnisse zur Thematik.
Bereits kurz nach der Einrichtung des Dachauer Lagers im März 1933 war es dort zu den ersten Morden gekommen. Bis Ende Mai wurden 13 Menschen ermordet. Diese Vorfälle missfielen dem bayrischen Justizminister Hans Frank. Nicht, dass ihn humanitäre Gründe motiviert hätten, vielmehr missbilligte Frank das „Sonderstrafrecht“, mit dem in Dachau hantiert wurde. Es drohte eine Machtfrage: Wer hat in den Konzentrationslagern das Sagen? Himmler bot ein Bauernopfer, den damaligen Kommandanten Wäckerle. Nach ihm kam Eicke und mit ihm gelang es Himmler schließlich, das Lagersystem von allen äußeren Einflüssen abzuschotten. Hans Frank kümmerte das nicht mehr. Als bayrischer Justizminister hatte er noch die Morde im Zusammenhang mit dem sogenannten „Röhm-Putsch“ im Sommer 1934 (darunter auch die Erschießung Röhms in seiner Stadelheimer Gefängniszelle, die eigenhändig Theodor Eicke vorgenommen hatte) gedeckt und unterstützt. Seine ‚große‘ Zeit kam nach Ausbruch des Krieges. Hans Frank wurde Generalgouverneur der besetzten Gebiete in Polen mit Amtssitz im Krakauer Schloss. Seine auf Ausbeutung, private Bereicherung und Terror gründende Herrschaft brachte ihm die Bezeichnung „Schlächter von Polen“ ein. Dennoch geriet er abermals in Konflikt mit Himmler, denn in der Frage der „totalen Bereinigung“ des Generalgouvernements von Juden beanspruchte Himmler die alleinige Mordzuständigkeit.
1939 wurde als jüngstes von vier Kindern der Franks, Sohn Niklas Frank geboren. Die frühe Kindheit war geprägt vom abgeschotteten Luxus der Krakauer Herrschaftsresidenz. Alles endete 1946. Hans Frank wurde als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt und gehängt. 1959 verstarb die Mutter. Nach ihrem Tode begann der 20-jährige Niklas Frank eine lange und beschwerliche Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte, die schließlich 1987 in dem Buch „Der Vater – Eine Abrechnung“ mündete. Es folgte ein Buch über die Mutter (2005) und schließlich das Buch „Bruder Norman! ‚Mein Vater war ein Naziverbrecher, aber ich liebe ihn.‘“
Der Text dokumentiert eine Auseinandersetzung mit dem älteren Bruder, der 2009 starb. Er ist Ausdruck einer schmerzhaft andauernden Wunde. Niklas Frank tritt seinem Bruder provozierend, fordernd gegenüber. Er konfrontiert ihn mit all dem, was er im Laufe seiner langen und schmerzhaften Aufarbeitung gefunden und erkannt hat. Fast verzweifelt versucht er seinen Bruder zu zwingen: Schau her! Sieh das! Verhalte Dich dazu! Der seinerseits lässt sich aber nicht auf das Fordern des Bruders ein, wehrt statt dessen die ‚Beweise‘ und Fundstücke zur Familienlüge teilweise mit zynisch-ironischen Äußerungen ab. Beharrt auf Eigenständigkeit, will sich nicht vom Bruder für dessen Kreuzzug gegen seine Erinnerungen vereinnahmen lassen – obwohl er doch weiß, dass er damit falsch liegt. Er leugnet auch nicht die Tatsachen ab. Untergründig wühlt auch bei ihm die Wut über den Vater, den Verursacher eines Familientraumas, dass sie alle zu „emotionalen Krüppeln“ gemacht hat. Darin liegt das Tragische dieses von Niklas Frank wütend provozierend initiierten Bruderkampfes. Irgendwo ist Liebe, aber sie ist verschüttet. Tief verschüttet von den Trümmern, die die Verbrechen des Vaters hinterlassen haben.
![]() | ||||
|
||||
![]() |