Der ärztliche Blick
Maria Hermes untersucht psychiatrische Krankheitsfälle als Folge des Ersten Weltkriegs am Beispiel des Bremer St. Jürgen-Asyls
Von Jonas Nesselhauf
Der Erste Weltkrieg – die vielbeschworene „Urkatastrophe“ Europas, die sich 2014 zum einhundertsten Mal jährt – hinterließ seine Opfer nicht nur millionenfach auf dem Schlachtfeld. Die drastischen Fronterfahrungen, die teils unmenschlichen Strapazen und die nachhaltigen Schrecken sorgten für eine bis dahin nicht gekannte Anzahl verschiedener „Krankheiten des Nervengebiets“. Unzählige Soldaten kehrten traumatisiert von den Schützengräben nach Hause zurück – der sogenannte ‚Kriegszitterer‘ wurde zu einem omnipräsenten medizinischen Phänomen, ausgerechnet zu einer Zeit, als die Psychoanalyse noch in den Kinderschuhen steckte und Nervenkrankheiten ohnehin nur schwer zu erklären und zu therapieren waren.
Die Historikerin Maria Hermes legt mit ihrer Untersuchung „Krankheit: Krieg. Psychiatrische Deutungen des Ersten Weltkrieges“ eine zugleich exemplarische und umfassende Untersuchung dieses Phänomens vor. Der Fokus ihrer kulturhistorischen Dissertation liegt auf dem St. Jürgen-Asyl, dem psychiatrischen Krankenhaus der Hansestadt Bremen, und 396 ausgewählten Krankenakten aus den Jahren von 1914 bis 1918, doch wird diese Fallstudie von allgemeinen historischen (besonders militär- und medizingeschichtlichen), psychologischen und psychiatrischen sowie kulturwissenschaftlichen Beobachtungen begleitet. Die untersuchte Klinik war aber interessanterweise keineswegs auf traumatisierte Soldaten spezialisiert, sondern behandelte als reguläre städtische Einrichtung Frauen und zivile Männer aller Alters- und Gesellschaftsschichten. Die Zahl der Patienten lag sogar während des Krieges relativ konstant zwischen 500 und 600, während die Spannbreite von verstörten und den „ungewöhnliche[n] Anstrengungen im Kriege“ gezeichneten Soldaten bis zur Diakonissin Weerdine L. reichte, bei der eine „abnorm heitere u. labile Stimmung“ diagnostiziert wurde.
Die Untersuchung dieser psychiatrischen Anstalt in den Jahren von 1914 bis 1918 sowie die Vorstellung einiger ihrer Patienten und deren Therapierung erfolgt – neben einer ausführlichen Einleitung – in sechs thematischen Kapiteln und wird von einer abschließenden Zusammenfassung und einem umfangreichen Anhang abgerundet.
Einleitend stellt Hermes ausgewählte Theorien und Methoden vor und erläutert die Ausgangspunkte ihrer Studie. Dabei wird der aktuelle Forschungsstand ebenso reflektiert wie Ansätze zur wissenschaftlichen Untersuchung von Krankenakten, die später angewendet werden. Im ersten Kapitel stellt sie die Geschichte des Bremer St. Jürgen-Asyls kurz vor; nach mehreren Vorläuferanstalten wurde das Krankenhaus schließlich in das etwas ländlichere Ellen verlegt und in den ersten Jahren nach 1900 schrittweise errichtet. Während des Ersten Weltkriegs hatte das Asyl zunächst die Funktion eines Reservelazaretts und versorgte schließlich auch Militärangehörige aus allen Teilen des Deutschen Reichs.
In den beiden folgenden Kapiteln widmet sich Hermes dem medizinischen und psychiatrischen Verständnis des frühen 20. Jahrhunderts – sowohl der „Rolle sozialdarwinistischer und rassenhygienischer Vorstellungen bei ärztlichen Krankheitskonstruktionen“ als auch der Simulation von ‚nervösen Symptomen‘. Dieser Aspekt war von besonderer Brisanz, da der Staat für die finanziellen Ansprüche von Kriegsneurotikern aufkommen musste. Auch wenn diese Diagnose im St. Jürgen-Asyl verhältnismäßig selten gestellt wurde, können Untersuchungsablauf und dessen Folgen an der Krankengeschichte von Herbert E. beispielhaft aufgezeigt werden.
Das vierte und anschließende fünfte Kapitel wenden sich den zeitgenössischen Geschlechter- und Klassendiskursen zu. So stellt Hermes unter anderem in verschiedenen Exkursen Männlichkeitsentwürfe und Männerbilder vor oder skizziert die Geschichte der Hysterie. In diesem Kontext untersucht sie darüber hinaus Zusammenhänge zwischen militärischem Rang und medizinischer Behandlung, sowohl auf die jeweilige ärztliche Versorgung bezogen als auch im Hinblick auf die Schwere der psychischen Krankheit.
Im letzten Kapitel untersucht Hermes die gängigen ‚psychiatrischen‘ Behandlungsmethoden im St. Jürgen-Asyl; konkret wurden in der Bremer Anstalt wohl vorwiegend die passive Bettbehandlung und Dauerbadbehandlung sowie die aktive Arbeitstherapie angewandt, während es kaum Nachweise für die Anwendung psychiatrischer Zwangsmethoden gibt. Abgeschlossen wird die Untersuchung durch eine Zusammenfassung sowie einen umfangreichen Anhang, der neben bibliografischen Verzeichnissen und Statistiken auch ein umfassendes Glossar medizinischer Fachausdrücke beinhaltet, wenn auch leider kein Sachregister.
Die von Hermes vorgelegte Untersuchung eröffnet neue Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg und dessen Folgen. Am Beispiel des Bremer St. Jürgen-Asyls werden der ärztliche Blick und das medizinische Wissen ebenso wie Behandlungs- und Therapiemethoden des frühen 20. Jahrhunderts exemplarisch vorgestellt. Zentral sind dabei die zeitgenössischen Diskurse zu Rassenhygiene und Simulation sowie zu Geschlecht und Klassenzugehörigkeit. Dabei gelingt Hermes ein guter Spagat zwischen einem eher allgemeinen geschichtlichen Fokus auf den Ersten Weltkrieg auf der einen Seite und ihrem speziellen Fokus auf das Fallbeispiel des Bremer Krankenhauses auf der anderen Seite.
Ihre Arbeit ist nachvollziehbar geschrieben, die zahlreichen Exkurse sind gut recherchiert und bereichern die Untersuchung ebenso wie die hilfreichen Zusammenfassungen am Ende eines jeden Kapitels. Die Ergebnisse, die sie aus 396 Krankenakten und 16 Einzelbeispielen auswählt, werden anschaulich vorgestellt und durch ein erschöpfendes Detailwissen – „So versorgten die arbeitenden Kranken noch 1907 die komplette Anstalt durch das Melken der 24 Kühe mit Milch“ – begleitet. Auch wenn ihr Hauptaugenmerk trotz des leicht irreführenden Titels und des ausgewählten Untersuchungszeitraums nicht nur auf heimgekehrten Soldaten liegt, entsteht ein neuer, ein individueller Blick auf die europäische „Urkatastrophe“, auf das medizinische und psychiatrische Verständnis des frühen 20. Jahrhunderts, vor allem aber auf Einzelschicksale, die aus der anonymen Masse der Opfer herausstechen.