Fingerübungen für die Kunst der Lüge
Bille Haags „Königin der Nacht“ – ein gelungener Roman über ein Frauenleben im 20. Jahrhundert
Von Anton Philipp Knittel
Lilith, genannt Lili, geboren 1906, stammt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen in Düsseldorf. Vater Adam Kordewan ist Schuhmachermeister, Mutter Louise spielt gerne Klavier, traktiert ansonsten ihre anderen Töchter Lisbeth, Leonie und Lotte sowie ihren Mann mit den „Losungen des Tages“. Ihre Zeugung verdankt Lilith einer Vergewaltigung. Denn der Vater ist erzürnt darüber, dass seine drei Töchter bei einem von spielenden Kindern verursachten Brand dabei waren. Zudem hält ihm seine Frau den Tod des Sohnes, der an der „französischen Krankheit“ gestorben war, vor. Adam Kordewan hatte die Krankheit von der Weltausstellung in Paris mitgebracht.
Rasch lernt das ungeliebte Kind, dem die Mutter aus Rache an ihrem Mann den biblischen Namen Lilith gegeben hat, sich gegen ihre Eltern und auch gegenüber den Geschwistern zu behaupten, indem sie sie gegeneinander ausspielt, wie diese auch untereinander wechselnde Allianzen zu schmieden versuchen. Insbesondere Lili, das gesangs- und klavierbegabte Kind, „verfeinert ihr taktisches Geschick, macht Fingerübungen für die Kunst der Lüge in allen Variationen.“
In den 1930er Jahren verliebt sich Lili – zum Leidwesen des platonischen und älteren Gefährten Franz Schmidt, genannt Zigarrenfranz, der übrigens die wichtigsten Stationen im Leben der Kordewans auf Fotos festhält – in den verheirateten, finanziell stets klammen Tunichtgut Johann Ohne. Lili wird sein „Mädele“, später gar sein „Mutti-Mädele“. Ihr ersehnter Prinz und vermeintlicher Tamino verhilft ihr zu Auftritten bei Nazi-Größen und die Mitläuferin genießt es. Eine Tatsache, die sie nach dem Krieg wie selbstverständlich verdrängt. Ihr probates Mittel, um sich wegzuträumen sind „Zauberflöten“-Arien.
Fasziniert und beklommen verfolgt man die Schicksale der sich verzweigenden Kordewans. Sie tragen die Signaturen ihrer Zeit deutlich, ohne dass die Autorin Details analysieren oder belehrende Fingerzeige geben müsste.
Die Freiburger Autorin Bille Haag (geb. 1942) hat mit ihrem zweiten Roman ein überzeugendes Frauenporträt des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Pointiert erzählt, mit Tempo und Witz, folgt man einem Frauenleben im letzten Jahrhundert. Entstanden ist ein Psychogramm der Jahre zwischen 1905 und 1989. Königin der Nacht ist ein Roman über maßloses Glücks- und Erfolgsstreben wie auch das Verleugnen und Verdrängen. Eine faszinierende Familienerzählung über Macht und Moral, die viele Leser verdient.
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