Eine Freude und ein Ärgernis
Julia Wolf erhält den Nicolas-Born-Debütpreis, Franzobel den Nicolas-Born-Preis 2017
Von Karl-Josef Müller
Nach einem Herzinfarkt wird Rudnik, Pilot bei der Lufthansa, vorzeitig pensioniert. „Nun kann ich durch die Weltgeschichte fliegen für wenig Geld“, so seine Worte, gerichtet an Laschen, den Reporter für ein Hamburger Magazin. Beide treffen sich im Winter 1976 in Beirut, Laschen soll für seinen Auftraggeber über den Bürgerkrieg im Libanon berichten.
„Ich bin gerade da, wo etwas passiert. Das hält mich jung, ich sollte besser sagen, am Leben, wenn Sie verstehen.“ Das, was passiert und Rudnik am Leben hält, ist der Bürgerkrieg im Libanon. Am 18. Januar 1976 kommt es zum Massaker von Karantina: christliche Milizen töten an die Tausend Zivilisten, die Opferzahlen sind umstritten. Am 20. Januar erfolgt die Gegenreaktion, das Massaker von Damur:
Der christliche Friedhof wurde zerstört, Särge wurden aufgebrochen, Tote ausgeraubt, Krypten geöffnet und Leichen und Skelette über den Friedhof verstreut. Die Kirche wurde angezündet und eine Außenmauer mit einem Bild von Fatah-Kämpfern bedeckt, die AK-47-Gewehre hielten. Ein Porträt von Jassir Arafat wurde an einem Ende angebracht. […] Zwanzig Phalangisten wurden exekutiert, dann wurden Zivilisten entlang einer Mauer aufgestellt und mit Maschinengewehren erschossen. Eine unbekannte Anzahl von Frauen wurde vergewaltigt, Babys aus naher Distanz erschossen und Leichname geschändet und verstümmelt. Keiner der verbliebenen Einwohner überlebte. Die Angaben über die Anzahl der getöteten Zivilisten reichen von 25 bis 30 bis zu 582, wobei die wahrscheinlichste Schätzung bei etwa 330 liegt. Unter den Getöteten waren auch Mitglieder der Familie Elie Hobeikas sowie dessen Verlobte.
Die Fälschung lautet der Titel des letzten Romans von Nicolas Born, dessen Hauptfigur Laschet an der Aufgabe verzweifelt, wie er über den libanesischen Bürgerkrieg berichten soll.
Was für Rudnik, den ehemaligen Flieger der Legion Condor, einer Fliegerstaffel der deutschen Luftwaffe, die für die Zerstörung der Stadt Guernica im Spanischen Bürgerkrieg verantwortlich war, ein Lebenselixier bedeutet, treibt Laschet an den Rand des Erträglichen. Der Wehrmachtsflieger giert nach den Zeichen des Krieges, nach Tod, Verstümmelung und Zerstörung. „Er nannte es Euphorie, verstand es nicht mehr so genau, aber es war doch nur irgendein umgeleitetes Interesse an Pornografischem.“ Merken wir uns den Begriff des Pornografischen.
„Das Land Niedersachsen vergibt seit 1979 jedes Jahr einen Literaturpreis. Dieser heißt seit 18 Jahren Nicolas-Born-Preis – in Gedenken an das vielschichtige Werk des Wahl-Niedersachsen.“ So zu lesen in einem schmalen Buch von 47 Seiten, herausgegeben vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. Der genaue Titel lautet: Nicolas-Born-Preis 2017. Franzobel – Julia Wolf. Verliehen wird der Preis an „Autorinnen und Autoren aus dem deutschsprachigen Raum ‚für ihr herausragendes literarisches Schaffen‘, das sich ‚an der literarischen Qualität und gesellschaftlichen Wachheit Nicolas Borns orientiert und die in Werk und Stil ganz eigene literarische Wege gehen.‘“
Walter Nowak bleibt liegen – so der Titel des Romans von Julia Wolf, für den sie den Nicolas-Born-Debütpreis des Jahres 2017 verliehen bekommen hat. In ihrer Dankesrede bezieht Wolf sich direkt auf Borns oben erwähnten letzten Roman Die Fälschung und benennt zielsicher das zentrale Thema des Werkes, nämlich die „Sprachskepsis“: „In seiner [Nicolas Borns, K.-J. M.] Furcht, der Wirklichkeit mit dem Beschriebenen nicht gerecht zu werden, finde ich mich wieder (auch wenn literarische Repräsentation natürlich etwas anderes ist als journalistische).“
Eine besonders beeindruckende Szene bringt Julia Wolfs Können zum Leuchten. Walter Nowak erinnert sich an seinen Großvater, genauer an dessen Ankunft als Spätheimkehrer 1953. Er, der Enkel, trifft nicht auf einen liebevollen Opa, sondern auf ein Wrack, wenn auch ein brutales:
Der Mann wie ein Denkmal, nach dem Beschuss. Im Moment vor dem Sturz. Lädiert, aber immer noch Stein. Die Falten mit einem Meißel in sein Gesicht getrieben, seine Augen wie Murmeln, ohne Blick. […] Ich gehe hinter Mutter her und sehe ihren Pferdeschwanz tanzen, ihren Rock, die Wogen bei jedem Schritt. Himmel, Gemäuer, dahinter Ruine, alles grau, Mutter die einzige Farbe. Mit ihren Nägeln, ihrem roten Mund. Das Gesicht des Mannes, als er sich umdreht, grauer, Grauen. Er dreht sich um und holt aus. Mutters Pferdeschwanz beschreibt einen Bogen, die Zigarette landet im Rinnstein.
Zwei Welten prallen aufeinander. Die Mutter von Walter Nowak – „die einzige Farbe“ –, die sich mit einem GI eingelassen hat, dessen Sohn Walter Nowak ist, strahlt eine Lebensfreude aus, wie sie auch Elvis Presley paradigmatisch verkörpert.
Und dann sind da der Großvater und der Vater. „Viele zurückgekehrte Soldaten prügelten ihre Kinder. In den Familien herrschte nun meist ein weit strengerer Ton als vor der Heimkehr der Väter.“ Der Enkel dieses beschädigten und doch noch so gewaltsamen Denkmals – „Mein Großvater hat mich einmal, der hat mich zweimal, hat mich verdroschen, wann es nur ging. Doch irgendwann. Hielt ich die Axt in der Hand. Danach war Schluss mit den Schlägen“ – möchte dieser Spirale der Gewalt entfliehen. Symbol dieser anderen, besseren und freieren Welt ist der Pferdeschwanz, zuerst der seiner Mutter, dann der seiner ersten Frau und schließlich der Pferdeschwanz von Yvonne, der zweiten Ehefrau. Dafür wurde Wolf in der Zeit kritisiert: „Dass Nowaks wiederholt explizierte Fixierung auf Frauen mit baumelndem Pferdeschwanz mit dem eigenen gegen seinen Willen allenfalls baumelnden Gemächt korreliert, kommt dabei über einen schmerzhaft quietschenden Herrenwitz kaum hinaus.“
Eine solche Deutung wird dem literarischen Verfahren von Julia Wolf nicht gerecht, denn nur wer sich als Leser die Mühe macht, das Leitmotiv des Pferdeschwanzes genauer in Augenschein zu nehmen, erkennt, wie präzise die Autorin ihre stilistischen Mittel einsetzt, immer begleitet von der „Furcht, der Wirklichkeit mit dem Beschriebenen nicht gerecht zu werden“.
Von dieser Furcht ist in Franzobels Roman ‚Das Floß der Medusa‘ nichts zu spüren. „Wie bei den Konzentrationslagern, Völkermorden, Foltergefängnissen oder Tragödien um die Flüchtlingsschiffe im Mittelmeer bekam die Öffentlichkeit auch vom Unglück der Fregatte Medusa zunächst nichts mit.“ Ohne Bedenken stellt der österreichische Autor die Konzentrationslager neben die Geschehnisse auf der Medusa aus dem Jahr 1816. Die Kritik folgt dieser fragwürdigen Gleichsetzung: „Die Kunst inszeniert Grauen oder rekonstruiert es nachträglich. Auf dem Floß der Medusa war es Realität. So wie auch in Konzentrationslagern, Foltergefängnissen und bei Völkermorden, auf die der Erzähler verweist.“ (Quelle: Deutschlandfunk)
„Dass der Holocaust ein einzigartiges Verbrechen war, ist heute in weiten – allerdings nicht in allen – Teilen der deutschen Gesellschaft Konsens. (…) Sie konstatieren dies allerdings oftmals, ohne die Frage nach dem Warum zu beantworten. (…) Nur allzu oft wurden und werden die Verbrechen der Nazis mit Vergleichen relativiert und die spezifisch deutsche Verantwortung für den Mord gleich mit eingeebnet. Gleichwohl hat Gültigkeit, was Micha Brumlik einmal feststellte: ‚Von Einzigartigkeit kann nicht sprechen, wer den Vergleich scheut.‘ (…) Yehuda Bauer (…) führt für den singulären Charakter des Holocaust gleich mehrere Gründe an. Zunächst basiere kein anderer Genozid so ‚vollständig auf Mythen und Halluzinationen‘, die dann auf so rationale Weise in die Tat umgesetzt wurden. Präzedenzlos sei der Holocaust zudem wegen seines ‚globalen Charakters‘, denn das Ziel der Nationalsozialisten sei es gewesen, die Juden überall auf der Welt zu ermorden. Drittens sei die Vernichtung überall dort, wo Nazis Juden in die Hände bekamen, total und Ergebnis einer ‚ausdrücklichen Staatspolitik‘ gewesen. Und schließlich sieht Bauer im Holocaust ein neues, revolutionäres Element, mit dem weltweit ein biologistisches ‚Rassenprinzip‘ durchgesetzt werden sollte.“ (Quelle: Tagesschau)
Franzobel wie seine ihn lobenden Rezensenten stellen nicht nur wie selbstverständlich die Konzentrationslager neben Flüchtlingsschiffe, der Autor lässt in seinem Text zudem zwei jüdische Figuren auftreten, die nach unserem Kenntnisstand in der literarischen Vorlage (Jean-Baptiste H. Savigny, Alexandre Corréard: Der Schiffbruch der Fregatte Medusa. Ein dokumentarischer Roman aus dem Jahr 1818) so nicht auftauchen. Ihre Namen lauten Kimmelblatt und Kummer. Handelt es sich bei Kimmelblatt um eine von Franzobel erfundene Figur, wird Kummer in der Vorlage von Savigny und Corréard mehrfach erwähnt und als „Naturforscher Kummer“ bezeichnet. Er wird in dem Bericht als besonnener und sympathischer Mensch beschrieben, von einer jüdischen Herkunft ist nicht die Rede. In seinem Text Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein spricht Jean Améry davon, dass er sich selbst nie als Jude gefühlt oder definiert hat. Zum Juden gestempelt wird er trotzdem und gegen seinen Willen: „Die Gesellschaft, sinnfällig im nationalsozialistischen deutschen Staat, […] hatte mich soeben in aller Form um mit aller Deutlichkeit zum Juden gemacht“. Man könne sich zu seinem Judentum bekennen, zur jüdischen Religion oder Kultur, so Améry, etwas anderes hingegen sei es, „durch den Antisemiten […] in eine Situation gedrängt“ zu werden, „in der er sich das Bild seiner selbst vom Feinde habe aufdrängen lassen.“ Améry zitiert hier zustimmend Jean-Paul Sartre. Untrennbar verbunden ist diese Fremdzuweisung seiner selbst als Jude mit dem Entzug der Würde, so Jean Améry.
Bei Franzobel werden beide jüdische Figuren zutiefst gedemütigt. Kimmelblatt leidet an Verstopfung, die sich schließlich nach einem unter Zwang verabreichten Klistier auflöst:
Dann hörte man ein Glucksen in diesem aufgeblähten Leib, der wie ein Vulkan kurz vorm Ausbruch stand, und wenig später, kein Geräusch, doch der Körper explodierte wie der indonesische Vulkan Tambora, schoss eine braune Fontäne aus ihm heraus, spuckte dieser kleine muskulöse Hintern eine jaucheartige mit Brocken angereicherte Flüssigkeit, ein Fäkalgeysir, um eine Klimakatastrophe anzurichten.
Franzobel lässt nichts aus, Kimmelblatt nach antisemitischem Vorbild zu zeichnen. Er legt ihm ein verballhorntes Jiddisch in den Mund und macht ihn so, um auf Jean Améry zurückzukommen, „in aller Form und mit mit aller Deutlichkeit zum Juden“.
Kummer wird bei einer Äquatortaufe ebenfalls gedemütigt. Den Höhepunkt der Geschmacklosigkeit erreicht der österreichische Autor mit einem Vergleich zwischen der Schlachtung des Schweines, dessen Rüssel Kummer anschließend küssen muss, und der sich lösenden Verstopfung von Menachim Kimmelblatt: „Während ihn die Schweinsäuglein entsetzt anstarrten, der mächtige Allesfresserkörper zuckte und die paarhufigen Beine zitterten wie bei einem Stromschlag, schoss (ähnlich dem Kimmelblattʼschen Fäkalgeysir) ein Schwall Blut in die Schüssel.“ Aus unserer Sicht geht es Franzobel nicht darum, mit der Demütigung der beiden jüdischen Figuren etwa kritisch Stellung zu beziehen gegen französischen Antisemitismus oder gegen Antisemitismus überhaupt. Nein, und hier kommen wir zurück auf Nicolas Born, es geht ihm um „irgendein umgeleitetes Interesse an Pornografischem.“
Franzobel ist die Furcht fremd, „der Wirklichkeit mit dem Beschriebenen nicht gerecht zu werden“, um nochmals Julia Wolf und mit ihr indirekt auch Nicolas Born zu zitieren. Er suhlt sich in der Darstellung überbordender Gewalt, die angesichts ihrer allgegenwärtigen medialen Verbreitung keinerlei Provokationspotential mehr hat. Darüber wäre kein Wort zu verlieren, gäbe es nicht die beiden jüdischen Figuren im Roman, das unbändige Lob der meisten Kritiker und die Verleihung des Nicolas-Born-Preises. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Franzobel es mit seinem Text auf die Shortlist für den Buchpreis 2017 geschafft hatte.
Wer sich dieser lobenden Übermacht gegenüberstellt, gerät in Erklärungszwang. Welche Maßstäbe machen einen Roman, den wir bestenfalls als ein zweitklassiges Ärgernis bezeichnen würden, in den Augen vieler professioneller Leser zum Meisterwerk? Und warum scheint niemand Franzobels mehr als zweifelhaften Umgang mit den beiden jüdischen Figuren zu bemerken?
Fragen, die auch in dem hier vorgestellten Büchlein, herausgegeben vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, unbeantwortet bleiben. Unbeantwortet bleibt auch die Frage nach der Qualität literarischer Texte. Die Laudatorin Ulrike Sárkány bezeichnet folgende Autoren als Franzobels „Vorväter“: „Das sind wohl eher Ernst Jandl, Thomas Bernhard, Heimito von Doderer, vielleicht auch Arthur Schnitzler.“ Die Toten können sich nicht gegen den Missbrauch ihrer Werke wehren. Einzig Arthur Schnitzler könnte als Vorvater in Frage kommen – mit seinem Lieutenant Gustl als Vorläufer von Julia Wolfs lesenswertem Roman Walter Nowak bleibt liegen.