Abgebrochen, aber vollendet

Kurt Oesterles Großessay „Wir & Hölderlin?“ betrachtet Aktualität, Werk, Person und Rezeption Friedrich Hölderlins

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus der schier unübersehbaren Flut an neuen (und auch älteren, wiederveröffentlichten) Büchern zu Hölderlins 250. Geburtstag in diesem Jahr ragt der Großessay des Schriftstellers und Essayisten Kurt Oesterle heraus. In Verbindung mit zwei älteren (bereits andernorts erschienenen) Texten zu Hölderlin stellt sich der neue, umfangreiche Essay die Frage, was möglicherweise Friedrich Hölderlin heute noch seinem deutschen Publikum zu sagen oder zu bieten habe. Dazu greift Oesterle, ohne systematisch zu argumentieren, weit aus: Er versucht, ohne sich dabei von allzu bündigen und kurrenten Deutungen des Dichters – etwa als Apologeten der Französischen Revolution (so immer wieder Pierre Bertaux) oder als des wahnsinnig Gewordenen und damit Ver- und Entrückten – anstecken zu lassen, ein Bild zu zeichnen, das die Widersprüche ebenso der Persönlichkeit (oder wahlweise Psyche) wie auch des Werks und seiner Poetik stehen lässt. Sowohl, als auch. In der Terminologie Hegels, des Freunds und Vertrauten aus Tübinger Stiftstagen: Es geht um das ‚auch‘, die Fülle an Bestimmungen, die Hölderlin auszeichnen. Dieser durchaus schöne Mensch, oftmals von Trauer überfallen, war zugleich „jäh und ungezügelt“; ein Mensch der Extreme eben, was Oesterle im längsten Teil seines Essays im Durchgang durch das Werk aufzeigt: durch den Hyperion, das Empedokles-Fragment wie die Lyrik, weniger im Blick auf die Aufsätze. Er versteht Hölderlin als den „geborenen Naturmystiker“, der sich selbst in antiker Tradition als ‚Vates‘, als Seher, Künder und Mahner verstanden und dabei beständig an einem poetischen Bildungskonzept, der „Umschaffung des menschlichen Bewußtseins“, gearbeitet habe. Insofern müsse Hölderlins (wenn man so will) weltanschaulich-ideologische Ausrichtung, mag er auch zeitweilig mit der Französischen Revolution (wie auch die anderen Stiftler) sympathisiert haben, evolutionär statt revolutionär genannt werden. 

Insgesamt müsse, so Oesterle weiter, auch von Hölderlins eher verschwommenem Bild von Deutschland, von einem Hin- und Hergerissensein gesprochen werden,  was sich fatal in den Rezeptionsweisen des Dichters niedergeschlagen hat: von linken Vereinnahmungen (etwa durch Georg Lukács) bis – mit weitaus schlimmeren Folgen freilich – zu rechten, nationalistisch-chauvinistischen, ja faschistischen Adaptionen, was Oesterle allerdings nur kurz streift. Dennoch: Hölderlin war, ist und bleibe gewiss der „Herzensdichter“ der Deutschen: „An ihm entwickelte sich das Lesen zu einer Art Intimität mit dem Dichter.“ Was Oesterle schließlich nicht zuletzt mit den als ‚geflügelte Worte‘ im Netz grassierenden Hölderlin-Sentenzen und Formulierungen zu belegen weiß. Trotzdem, so Oesterles Einschätzung, würden Hölderlin an uns Heutigen insbesondere diese drei Dinge missfallen: 

[D]aß wir immer weniger mit uns selbst allein sein können und viel eher an Vernetzung als an reicher Innerlichkeit interessiert sind, dann, wie gleichgültig wir unserer Sprachverarmung beiwohnen, diese schulterzuckende Vernachlässigung unserer höchsten – göttlichen – Gabe; schließlich das in unserer Gesellschaft vorherrschende Verhältnis zwischen den Einzelmenschen, vor allem zwischen Mann und Frau – dazu nur zwei Stichworte: Sexismus und Geschlechterkampf.

Oesterles Essay ist informativ und instruktiv, streitbar und – vor allem – ein Plädoyer, sich weiter mit dem Tübinger Dichter zu beschäftigen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Kurt Oesterle: Wir & Hölderlin? Was der größte Dichter der Deutschen uns 250 Jahre nach seiner Geburt noch zu sagen hat.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2020.
177 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783749610297

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