Das Sein ufert aus

Verena Stauffers Gedichtband „Ousia“ ist Überforderung in jedem Vers

Von Florian KurzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Kurz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man sollte sich nie davon täuschen lassen, dass Lyrikbände schmal sind und leicht in der Hand liegen. Ganz besonders gilt das für Verena Stauffers Ousia. Es sollte eine Warnung auf dem Cover angebracht sein: Vorsicht, Füllmenge entspricht einem tausendseitigen Schmöker, Durchhaltevermögen und Suchmaschinenpower gefragt! Denn der Band fordert die Leser/innen sehr stark. Mit Sätzen, die sich dem raschen Verständnis entziehen, mannigfaltigen Bezügen zwischen einzelnen Gedichten und Kapiteln, sogar das Layout stiftet Verwirrung:  Kapitelüberschriften krümmen und schlängeln sich, bis sie auf dem Kopf stehen, ein Gefühl, das einen auch beim Lesen überkommen kann.

Dabei beginnt das Lyrik-Erlebnis harmlos sinnlich und zwar beim Umschlag: Auf dunkelgelbem Hintergrund prangt schwarz der Titel: OUSIA. Die Buchstaben sind schlicht und haben keine Serifen, könnten also unverschnörkelt und kantig daherkommen – wären da nicht diese seltsamen Ausbuchtungen an den Rändern. Als wäre das O aufs Papier geschleudert worden, als hätte der Trägheitseffekt die Tinte beim S in die Länge gezogen. So wabern die Buchstaben auf dem Cover auffällig und laden ein, sich den Titel näher anzusehen.

Ousia ist Griechisch und kann so einiges bedeuten, wenn man in Philosophie-Handbüchern nachschlägt, etwa „wahrhaftes Sein“ oder „Substanz“. Ousia kann aber auch eine ganz schlichte Bedeutung haben, nämlich „seiende Sachen“, Dinge. Wahrscheinlich ist das auch die praktischste Übersetzung des Titels, denn man lehnt sich nicht einmal mit den Ellenbogen aus dem Fenster, wenn man behauptet, in Ousia ginge es um Dinge.

Das Ganze genauer zu umreißen, ist allerdings schwer. Denn die Frage, worum es eigentlich geht, bleibt auch nach der Lektüre offen. Die Gedichte drehen sich inhaltlich um chinesisches Schattenspiel, um Bäume, Flüsse und Meerestiere und tausend Dinge mehr – ousia eben. Thematisch lassen sie sich nur schwer oder gar nicht fassen. So heißt es etwa in „Fluss der Krumpe“:

Fluss der Krumpe, moosiger Fahnen, Simulienpuppen auf Kieselalgenkolonien
Diatomeengebräunte Teilung der Pflanzen, kleiner werdend, bis zur Auflösung hin
Der lange Berg wirft seine Früchte aus. Quellen, Wasseramseln, Prachtlibellen
springende Silberweiden, Bachstelzen, still. Im Übersprung geht’s übers Höhlentor

Solche Verse springen einen nicht an, im Gegenteil, sie ducken sich eher weg, wenn man sie unter die Lupe nehmen möchte. Aber genau das muss man in Ousia wollen, sonst wird man keine Freude am Lesen haben. Zu wenig bestechen die Sätze durch Klang, Rhythmus oder Sprachbilder, als dass man sie einfach genießen kann, ohne etwas zu verstehen. Bei aller Körperlichkeit, die in den Gedichten oft beschrieben wird, bleibt Ousia doch eindeutig ein Kopf-Buch: Setz dich hin und grüble darüber nach oder lies etwas Leichteres, scheint es zu sagen.

Ousia ist übervoll mit assoziativen Sprüngen, mit Anspielungen und Zitaten, was an sich ein Gewinn ist, würde nicht oft eine gewisse Stimmung fehlen, sozusagen eine emotionale Einladung, ein kleiner Vorschuss an Freude, damit man überhaupt mehr verstehen will, sodass man sich auf die Suche begeben will, weil ein Klang neugierig macht, ein Bild, ein Satz. Selten sind Formulierungen wie „In Öllacken sah ich Regenbögen baden“, mit denen Stauffer beweist, dass sie durchaus mit Sprachklang und originellen Bildern locken könnte; sie will aber nicht. Deshalb ist es besser, für die Lektüre von Ousia sämtliche Erwartungsschalter auf Aus zu stellen und sich den Wortgebilden anzuvertrauen, in der Hoffnung, in der wabernden Masse Halt zu finden. Wer zweifelt, geht unter.

Ousia ist deshalb vor allem für all diejenigen geeignet, die Freude am Kryptischen haben. Nach eingängigen Bildern und besonderen Stimmungen sucht man hier meist vergeblich, die Verse bringen vor allem den Kopf zum Qualmen. Nur vereinzelt finden sich Sätze, die auch ohne langes Nachgrübeln funktionieren. Dann drängen sich plötzlich ungelenke Endreime in die verworrene Vielfalt und wirken deplatziert, was ihre Wirkung noch steigert – eine Strategie, die wirklich jeden Versuch, die Gedichte unvoreingenommen zu lesen, abschmettert. So heißt es etwa in „Hass“:

Die Feuerfolter liebt’ ich
ich grillte sie sehr heiß
Verbrannte ihre Rücken
wie Mücken oder Mais

Ansonsten geht es in diesem Gedicht darum, dass das lyrische Ich die Augen aus einem braunen Hasen herausreißt und Kinder erschießt. Einfach verstörende Bilder? Natürlich nicht, die Unterschrift lautet „Liberté!“, und es findet sich an anderer Stelle ein zweites Gedicht mit dem Titel „Hass“, das die Unterschrift „Egalité!“ trägt. Nach der Fraternité sucht man vergeblich, warum fehlt gerade sie in dieser Revolutions-Trias?, fragt man sich natürlich, selbst wenn man einfach nur genießen wollte. Und wenn einem dann noch auffällt, dass das erste „Hass“-Gedicht die Nummer vier trägt und nach Gedicht Nummer drei kommt, und das zweite „Hass“-Gedicht im anderen Kapitel auch die Nummer vier trägt, aber in Umblätter-Richtung die Nummern drei, zwei, eins und null folgen – dann ist es vorbei mit dem Drüberlesen, dann heißt es wieder raus aus jeder poetischen Stimmung und alle Lampen angezündet, am besten auch die Taschenlampe ausgekramt, denn es geht in düstere Gefilde.

Natürlich bietet diese ständige Verwirrung den Reiz, Bedeutungen und Bezügen nachzuspüren. Was hat es etwa mit dem Kapitel „Triptychon“ auf sich, das konsequenterweise nicht drei Gedichte enthält, wie man es in Analogie zu einem dreiteiligen Gemälde erwarten würde, sondern gleich vier? Lässt sich gar eine Brücke von der Überfülle zur fehlenden Fraternité schlagen? Lässt sie sich natürlich, ob die Autorin oder man selbst das nun will oder nicht; einmal angestoßen kommt die Denkmaschine nicht mehr zur Ruhe bei diesem Gedichtband. Material dafür gibt es genug, denn die gut 80 Gedichte in zehn Kapiteln können auch Prosa-Züge annehmen und Seiten füllen.

Wer viel Neugier und Energie hat und es wagt, sich auf Ousia einzulassen, wird daran vermutlich länger lesen als an einem dicken Roman. Vielleicht könnte auf dem Buchrücken noch stehen: An Seziermesser und Lupe ist zu denken.

Titelbild

Verena Stauffer: Ousia. Gedichte.
Kookbooks Verlag, Berlin 2020.
120 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783948336042

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