Emma Cline – The Girls

Im Verlauf eines kurzen Sommers werden aus liebdesbedürftigen Teenagern eiskalte Mörder. Es gibt keine rationale Erklärung dafür. Und doch zeigt Emma Cline in ihrem großartigen Debütroman „The Girls“ schlüssig und nachvollziehbar, wie diese unbegreifliche Entwicklung ihren Lauf nimmt.

Emma Cline Filter

„Später fand alle Welt es unglaublich, dass jemand, der mit der Ranch zu tun hatte, in dieser Situation verharrte… Aber Suzanne hatte nichts anderes: Sie hatte ihr Leben komplett Russell überantwortet… Suzanne und die anderen Mädchen waren nicht mehr imstande, Urteile zu fällen, der unbenutzte Muskel ihres Ichs wurde schlaff und unbrauchbar.“

In einer Schlüsselszene in der zweiten Hälfte des Romans „The Girls“ von Emma Cline sitzen Russell und seine Anhänger schweigend beieinander. Russell, der Anführer dieser merkwürdigen Truppe, die ohne weiteres als Sekte bezeichnet werden kann, wartet auf einen Musikproduzenten, von dem er sich einen Plattenvertrag erhofft. Die Inszenierung dieses Grüppchens rund um Russell, der betont beiläufig seine Gitarre zupft, darf nicht gestört werden – und so duldet er nicht, dass eins der Mädchen seiner Nachbarin etwas zuflüstert: „…als Helen weiterredete, stand Russell auf… ging dann rasch zu Helen hinüber und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht.“ Keiner der Anwesenden zuckt bei dieser gewalttätigen Machtdemonstration mit der Wimper, es wird im Gegenteil stillschweigend Helen die Schuld zugeschoben. Die Protagonistin des Romans, die 14jährige Evie, bekommt die Szene mit, doch auch sie sagt nichts: „Ich schaute in die Runde, um mir den schrecklichen Tabubruch bestätigen zu lassen, aber alle wandten demonstrativ den Blick ab…“

Russells Macht über die Bewohner der Ranch, mitten im Nirgendwo Kaliforniens gelegen, manifestiert sich in dem Wegschauen und Schönreden seiner Taten durch genau diejenigen, über die er seine Macht ausübt. Auch Evie, die eher zufällig auf die Ranch gekommen ist und Russell oft genug durchschaut, bricht seinen Einfluss nicht. „Ich glaubte nicht, dass jemals etwas Schlimmes passieren könnte, jedenfalls nicht wirklich“, sagt sie an einer Stelle des Romans. Ihre Zuversicht ist gespeist aus der Naivität und Weltfremdheit einer 14jährigen, zugleich ist sie aber auch das bewusste Ignorieren aller Warnsignale.

Russell, das wird in jedem Artikel über Emma Cline erwähnt, ist eine Version von Charles Manson, und die Bewohner der Ranch sind die sogenannte Family Mansons. Russell selbst spielt aber nur eine Nebenrolle in „The Girls“. Ihr Fokus liegt auf den Bewohnern der Ranch, allen voran den jungen Mädchen. Die „Karrieren“ der Girls scheinen logisch: Für die meisten ist die Ranch der einzige Ausweg aus der bitteren Armut, für Evie hingegen die Flucht aus ihrem langweiligen Oberschichtsleben, gepaart mit der teenagertypischen Einsamkeit, einem ambivalenten Verhältnis zur Mutter (in den Szenen zwischen Evie und ihrer Mutter zeigt sich, wie mitleidig, kühl und herablassend sie ihre Mutter beurteilt) und dem banalen Zufall, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Durch ihre Naivität, einem ausgearteten Drogenkonsum und dem Versprechen von Freundschaft und Liebe, werden die Mädchen und die Handvoll Jungs auf der Ranch gehirngewaschen. Zu Beginn mutet die Szenerie noch sehr hippiemäßig an, doch schnell schleicht sich die brutale Realität ein. Evie erkennt diese Realität, doch ihr gelingt das Kunststück, sich jedes Mal aufs Neue selbst zu belügen. Es ist faszinierend, wie oft in „The Girls“ weggeschaut und wie oft das Opfer bestraft wird und nicht der Täter. Aber genau das macht Mitläufer aus.

Obwohl Evie begeistert darüber ist, endlich eine Form der Zugehörigkeit gefunden zu haben, ist es nicht Russell, dem sie blind folgt, sondern Suzanne. Evie liebt Suzanne; durchaus auch auf erotische Weise, viel mehr aber noch ist es eine manische Bewunderung für das ältere, mysteriös erscheinende Mädchen. Evies Obsession für Suzanne, mit der sie nur wenige intensive Wochen auf der Ranch verbringt, wird sie ihr Leben lang begleiten. Und während Evie von dem gut und gerne zwanzig Jahre älteren Russell zwar fasziniert ist, so ist es doch durch Suzanne, die sich Russell bedingungslos unterordnet, dass auch Evie Russell hörig wird.

Während Evie und Russell verhältnismäßig simple Figuren sind, so bleibt Suzanne in ihrer Rolle ambivalent. Der Leser lernt sie nur aus der verliebten Sicht Evies kennen. Abstrahiert man die Verklärung des jungen Mädchens, so kann Suzannes Verhalten durchwegs egoistisch gelesen werden. Aber trotz ihrer eiskalten und manipulativen Art scheint sie mitunter echte Anteilnahme für Evie zu haben. „Später ging mir auf, dass Suzanne die Einzige war, die nicht überglücklich darüber schien, dass sie dort auf der Straße auf mich gestoßen waren… Dass Suzanne die deutlich ins Auge springende Schwäche bei mir erkannte: Sie wusste, was mit schwachen Mädchen passierte.“ Welche Rolle Suzanne in Evies Existenz spielt, ist schnell klar: Die wenigen Wochen auf der Ranch sind so einschneidend, dass es Evie niemals gelingen wird, ihr Leben in normale Bahnen zu lenken. Ob Suzanne aber absichtlich verhindert, dass Evies Bekanntschaft mit den Leuten der Ranch nicht noch schlimmer ausgeht, bleibt offen.

Aus der Perspektive einer alternden Frau erinnert sich Evie an diesen Sommer im Jahre 1969. Ihre flüchtige Bekanntschaft in der Gegenwart mit den Teenagern Julian und Sasha zeigt, dass diese Art von Abhängigkeit immer wieder geschieht. Sasha erkennt die negativen Seiten ihres Freundes, lässt sich aber lieber demütigen, als die Stimme zu erheben. Die beiden fungieren als Spiegelbild Evies und Russells. Man könnte der Autorin vorwerfen, diese Parallele wäre zu konstruiert. Doch Figuren wie Sasha zeigen, dass es Mitläufer in jeder Zeit und in jeder Umgebung gibt. Mit „The Girls“ ist Emma Cline ein genialer Wurf gelungen, ein logisch aufgebauter Roman, der auf blutige Beschreibungen verzichtet und sich lieber mit der Psyche der Menschen befasst, subtil und eindringlich zugleich.

Emma Cline – The Girls
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Carl Hanser Verlag, München
Juli 2016, 348 Seiten

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