Birgit Müller-Wieland – Flugschnee

Simon verschwindet ohne ein Wort. Seine Familie, allen voran Schwester Lucy, quält die Ungewissheit: Wo ist Simon? Warum ist er gegangen? Die Antwort liegt im kollektiven Trauma der Familie. Mit ihrem Roman „Flugschnee“ stand Birgit Müller-Wieland auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Schade, dass die recht interessante Ausgangssituation so behäbig und wirr erzählt ist.

„Aber das Bohrende blieb: Die Frage, wer du eigentlich bist. Ob wir je etwas von dir gewußt haben.“

Erinnerungen sind tückisch. Das merkt Großmutter Helene, in deren Leben die Vergangenheit inzwischen überhandgenommen hat, der es zugleich aber immer schwerer fällt, sich an sie zu erinnern. Das merkt ihr Mann Lorenz, der besorgt dem geistigen Verfall seiner Frau beiwohnt, und das merkt auch Enkelin Lucy, die zwar nicht dement ist, nach einem Unfall auf einem Drogentrip aber Schwierigkeiten damit hat, sich an Wochen, an Monate zu erinnern. Ihnen allen ist gemein, dass sie in ihren Erinnerungen leben, den verdrängten, den sich aufdrängenden.

Abwechselnd erzählt aus den Blickwinkeln von Lucy, ihren Eltern und ihren Großeltern wird nach und nach die Familiengeschichte in Birgit Müller-Wielands Roman „Flugschnee“ aufgerollt. Munter springt die Autorin zwischen den Perspektiven, den Städten und den Jahren hin und her. Die zu ambitionierte, fast wirre Erzählweise täuscht aber nicht darüber hinweg, dass die Geheimnisse, die die Mitglieder dieser Familie verbergen, erstaunlich uninteressant sind.

Warum verschwand Simon? „Kann ein Kind sich an das erinnern, was die Eltern vergessen haben? … Wie kann eine unterdrückte Erinnerung von einer Person an eine andere Person weitergereicht werden?“, fragt sich seine Schwester Lucy. Mit den Traumata, die Nachkriegsgenerationen von ihren Eltern und Großeltern vererbt bekommen, beschäftigt sich die Forschungsliteratur nicht erst seit gestern. Kann man diese Erkenntnisse auch auf andere verdrängte Erinnerungen und Geheimnisse beziehen? Eigentlich eine interessante Frage. Eigentlich – denn „Flugschnee“ will viel, ist aber wenig. Die Gedanken der Großeltern und Eltern lassen den Leser zumeist kalt, allein Lucys Perspektive berührt, wenn man darüber hinwegsieht, dass sie nicht wie eine Mittzwanzigjährige klingt. Überhaupt ist der Stil des Buches genau das, was mit dem schönen Wort „betulich“ beschrieben werden kann: Rhododendronsträucher (gleich auf den ersten Seiten!), Sonntagsbraten, Nickerchen und Stofftaschentücher geben sich die Ehre, auch das unsägliche „Rastalocken“ ist im Jahr 2017 immer noch nicht ausgestorben. Dass der Roman in alter Rechtschreibung gehalten ist und die Jungs brav blaue, die Mädchen rosa Jacken tragen, trägt zur altbackenen Atmosphäre des Romans bei. Und dass nach jedem Satz (wirklich fast jedem!) eine neue Zeile beginnt, lässt das Schriftbild zudem auch noch ausfransen.

Inhaltlich bleibt die Frage, was Müller-Wieland erzählen möchte. Wie eingangs erwähnt, ist die Ausgangssituation um unterdrückte Kriegserinnerungen der Großeltern, verschwiegene Taten in der Vergangenheit der Eltern und natürlich dem spurlosen Verschwinden Simons nicht uninteressant. Doch wie auch das Schriftbild bleiben die vielen Handlungsstränge ausgefranst, ergeben kaum ein großes Ganzes – und so ist auch die „Auflösung“ um Simons Flucht derart unplausibel, dass man sich unweigerlich fragt, ob der ursprüngliche, missverstandene Plan der Autorin vielleicht war, den Leser über Simons Beweggründe im Dunkeln zu lassen.

Zum Weiterlesen: Monika Helfer – Schau mich an, wenn ich mit dir rede!

Birgit Müller-Wieland – Flugschnee
Otto Müller, Salzburg
Februar 2017, 343 Seiten

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