Barbara Yelin: Irmina

IrminaMitgehangen, mitgefangen.

In diesem Jahr habe ich eine literarische Entdeckung gemacht, die mich besonders erfreut: Graphic Novels. Zuletzt konnte mich Jane, der Fuchs & ich vollends entzücken, und auch an die Graphic Journey von Sebastian Lörscher Making Friends in Bangalore erinnere ich mich gern zurück. Irmina von Barbara Yelin ist nun das krönende i-Tüpfelchen.

Die wunderbaren Bücher aus dem Reprodukt Verlag sind vom ersten Augenblick an ein sinnliches Vergnügen. Kaum hatte ich das dicke Buch von der Folie befreit, strömte mir wieder ein betörender Duft entgegen, den ich am liebsten in einem Flakon einfangen möchte.

Aber auch in seinem Umfang und der Umsetzung ist Irmina ein außergewöhnliches Werk. Inspiriert zu diesem Buch wurde Barbara Yelin sozusagen von ihrer Großmutter, als sie in deren Nachlass auf Briefe und Tagebücher stieß. So beginnt die Geschichte im Jahr 1934. Auf den ersten Seiten weht mir gleich eine frische Brise ins Gesicht. Ich stehe zusammen mit der Protagonistin Irmina auf dem Deck eines Schiffes und fiebere der Ankunft in England entgegen. Die junge Irmina nimmt an einem Austauschprogramm teil und will sich in London zur Fremdsprachensekretärin ausbilden lassen. Sie ist zielstrebig und hat große Träume, will selbständig sein, Geld verdienen und reisen. Auf einer Party lernt sie Howard kennen – einen Oxford Stipendiaten aus Barbados. Beide verstehen sich auf Anhieb, wohl auch, weil sie Außenseiter sind. Irmina, weil sie eine gewöhnliche Deutsche und keine Emigrantin ist und Howard, weil er eine dunkle Hautfarbe hat. Irmina ist das allerdings egal – für sie zählt nur der Mensch Howard. Und der fasziniert die junge Frau. Ich mag Irminas Neugier und Naivität, wenngleich es mich erschreckt, dass sie sich gar nicht fürs Weltgeschehen interessiert, keine Zeitungen liest und das Leben in ihrer Heimat nicht kritisch hinterfragt. Während die Nazi-Diktatur in Deutschland wütet, schottet sie sich in ihrer eigenen Welt ab. Wobei sie natürlich immer wieder von Fragen zu ihrem Land eingeholt wird.

Bald entwickelt sich aus der Freundschaft zwischen Irmina und Howard eine zarte Liebe. Irmina besucht Howard in Oxford und taucht mit ihm in die aufregende Welt der Kunst und Kultur ein, die ihr bislang verborgen blieb. Sie läuft mit ihm staunend durch die Bibliothek in Oxford und besucht Ausstellungen. Doch bevor ich weiter voller Entzücken durch diese besondere Beziehung fliegen kann, kommt der Krieg dazwischen. Das Geld aus Deutschland bleibt aus und Irmina gerät in große finanzielle Schwierigkeiten. Kurzzeitig kann sie sich dank Howards Hilfe zu einer politisch engagierten Gräfin retten. Mit ihr besucht Irmina Empfänge sowie politische Veranstaltungen und lernt sogar Fahrrad fahren. Das ist ein Spaß! Als die Gräfin eine neue Emigrantin bekommt, muss Irmina das Zimmer räumen. Sie ist derartig erschüttert, dass sie nach Deutschland zurückzukehren will. Himmel Herr Gott! – entfährt es mir da. Auch die Gräfin ist schockiert und will sie bei der Suche nach einer neuen Bleibe unterstützen. Irmina sieht für sich jedoch keine andere Lösung, selbst Howards finanzielle Unterstützung schlägt sie aus. Irmina will in Deutschland Geld auftreiben und danach wieder nach London kommen. Briefe sollen die Trennung der beiden überbrücken.

Seite.110.Irmina

© Bilder (4): Reprodukt / Barbara Yelin

Zurück in Deutschland kommt alles anders. Denn Irmina arbeitet nicht lange im Kontor des Großonkels, sondern ist bald im Kriegsministerium in Berlin angestellt, weil man im Kontor ihren Lohn nicht erhöhen wollte. Sie will einfach Geld verdienen und hofft, in die Botschaft nach London versetzt zu werden. Dieser Teil des Buches geht besonders unter die Haut. Zu sehen, wie Imina ohne Widerspruch diese Arbeit in dem Ministerium einfach so hinnimmt, macht mich wütend. Aber hatte sie eine andere Wahl? Irmina kehrt nicht nach England zurück und heiratet stattdessen einen Architekten, der von Hitlers Regime begeistert ist. Irmina richtet sich in ein Dasein als Hausfrau und Mutter ein. Vorbei sind die eigenen Träume nach einem selbstbestimmten Leben.

Lange nicht vorbei sind meine eigenen Gedanken zu dieser Mitläuferin, wie es sie zuhauf gegeben hat. Die Autorin selbst bewertet dieses Schicksal nicht, sie überlässt es den Lesern. Und das macht man unweigerlich. Es gibt etliche Momente des Innehaltens und der Schockstarre, ausgelöst durch die Handlungen der Menschen. Ich denke an die messerscharfen Sätze wie die von Irminas Ehemann, als er wieder vom Führer schwärmt. Oder die Szene, in der Irmina die Frage ihres Sohnes mit Gleichgültigkeit beantwortet, warum die Juden nach dem Auszug ihre Sachen nicht mitgenommen haben. „Weil sie Juden waren.“ Und Irmina auf seine weitere Frage, wer Juden sind, mürrisch reagiert: „Lass die Fragerei. Wir müssen zum Bäcker.“ Der kleine Frieder lässt nicht locker, er will es jetzt aber verdammt noch mal wissen, wer Juden sind. Daraufhin sagt Irmina: „Unser Unglück.“ Das ist wie ein Stoß ins Herz.

Seite.203.IrminaUnterstützt wird die Tiefe der Geschichte durch die Illustrationen, die meinen Blick immer wieder gefangen halten. Die zahlreichen Bilder ziehen wie feine Fäden an meinen Augen – ob nun die wunderbar gezeichneten Schauplätze oder kleine Details der Menschen, wie die Haarsträhnchen von Irmina, die wild ins Gesicht fallen. Oder der Zigarettenrauch, der im Salon schlängelnd an die Decke steigt – all das ist großes Bücherkino und fasziniert. Manchmal verstummen die Protagonisten, einzig drei Punkte füllen die Sprechblasen. Dann wickelt mich die Sprachlosigkeit wie ein Schal ein und ich verliere mich darin, fühle mich verloren. Geräusche dringen aus dem Buch, die Barbara Yelin mit einem „Hup Hup“ der Autos oder dem „Klack Klack“ der Schreibmaschine so real darstellt, dass man sie förmlich hören kann. Nein, dies ist nicht nur ein Buch, dies ist auch ein Film, der vor meinen Augen vorbeiflimmert.

Durch die dunkle Farbgebung schafft Yelin eine beklemmende Atmosphäre. Es ist kalt. Ganz oft fröstele ich. Die Geschichte ist eine erschütternde, eindringliche und zugleich feinfühlige Erfahrung. Doch es gibt auch schimmernd helle Szenen. Zum Beispiel, wenn es zu einem Wiedersehen zwischen Howard und Irmina kommt. Dieses Kapitel spielt in den achtziger Jahren. Irmina führt ein verhärmtes Witwenleben, das Licht, das sie einst umgab, ist erloschen. Eines Tages erhält sie von Howard einen Brief, der mittlerweile als politischer Vertreter in seinem Heimatland zu hohem Ansehen gelangt ist. Irmina folgt seiner Einladung und fliegt in die Karibik. Dort trifft sie ihre einstige Liebe wieder und wird gleichzeitig mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert. Das letzte Kapitel versprüht trotz der Wehmütigkeit eine geballte Ladung Herzlichkeit, die von Howard und seiner Familie ausgeht. Wärme, da ist sie! Ich breite meine Arme aus und lasse mich fallen. Und bin erneut erstaunt über die Welt der Graphic Novels, die mir eine neue und unglaublich bereichernde Form des Lesens eröffnet hat. Genauso bin ich Barbara Yelin dankbar, dass sie mir mit ihrem einzigartigen Werk das Leben einer Mitläuferin auf so bewegende Weise näher gebracht hat. Ein Mensch unter vielen. Genau das macht dieses Buch so eindringlich aktuell.

Seite.271.Irmina

Barbara Yelin: Irmina. Reprodukt, Oktober 2014, 285 Seiten, 39,- €.

5 Kommentare zu „Barbara Yelin: Irmina

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  1. Danke! Danke für diese wunderwunderbare Rezension! Ich konnte gar nicht anders, als jedes Wort in mir aufzusaugen und bin völlig fasziniert von deiner Erfahrung mit diesem Buch. Ich mag Graphicnovels auch sehr, es ist allerdings schon eine Weile her, seit ich eine gelesen habe. Die letzte stammte aus dem Splitter Verlag und drehte sich um den Glöckner von Notre Dame.

    Dieses Buch steht nun auf der Wunschliste. ♥

    Ich wünsche dir einen schönen Freitag und ein entspanntes Wochenende!

    Beeindruckte Lesegrüße
    Sandra

    Gefällt 1 Person

  2. Ich möchte mich Sandra anschließen.
    Dies ist eine sehr beeindruckende Rezension! 1000 Dank dafür. Ich bin ein absoluter graphic novel Fan und liebe die biographischen Geschichten, wie „Blankets“ von Craig Thompson oder „Heute ist der letzte Tag vom Rest meines Lebens“ von Ulli Lust. Ich finde es toll, dass du Zugang zu diesem Genre gefunden hast. Und ich weiß jetzt, welchen Comic Roman ich als nächstes lesen werde!

    loralee

    Gefällt 1 Person

  3. Liebe Klappentexten,
    das ist wirklich eine tolle Besprechung, die mich gleich doppelt sehr anspricht, denn erstens bin ich grade auch dabei, ganz zaghaft dieses Genre Graphic Novels für mich zu entdecken – und zweitens wegen dem Thema, das mir gerade sehr nachgeht.
    Generell finde ich es unglaublich schwer, bei diesen unglaublich vielen Graphic Nobels, die im Moment so auf den Markt kommen, die Spreu vom Weizen zu trennen.
    Deshalb bin ich für eine profunde und begeisterte Besprechung wie Deiner hier sehr dankbar. Das Buch steht jedenfalls auf meiner Liste- und zwar ganz oben!
    Danke und liebe Grüsse
    Kai

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