Shumona Sinha: Erschlagt die Armen

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»Eine klare Stimme im Sturm der Ereignisse«

Ich habe Wut in meinem Bauch. Ein richtig fieses Grummeln und Zischen, als würde Rumpelstilzchen herumwüten. Aber es ist nicht meine Wut – sie kommt direkt aus den Seiten von »Erschlagt die Armen!«. Shumona Sinhas Worte hängen noch in der Luft, schillernd schön und gleichzeitig messerscharf. Eine aufatmende Erleichterung erreicht mein Zwerchfell, ich seufze. Und bin froh, dass das Buch zu Ende ist. Als ich den Gedanke denke, erschrecke ich. Darf man so etwas schreiben? Geschweige denn denken, obwohl es sich um ein außerordentlich beeindruckendes Buch handelt?

Der Roman sprach mich vor vielen Monaten an, denn ein weiterer Indiebookverlag wollte lesend von mir erkundet werden. Die Sprache gefiel mir sofort: Kurz, direkt und unwahrscheinlich poetisch mit wunderschönen Bildern.

Aber es gibt einen Grund, der dem Buch eine ganz besondere Aktualität verleiht – die seit Monaten brisante Flüchtlingsproblematik.

Obendrein ist die Autorin selbst eine Emigrierte, Shumona Sinha wurde 1973 in Kalkutta geboren. Sie hat – wie ihre Ich-Erzählerin – als Dolmetscherin bei einer französischen Asylbehörde gearbeitet. Nach der Veröffentlichung verlor sie ihren Job, wahrscheinlich, weil der Inhalt durchaus kontrovers ist. Allerdings erhielt die Autorin für ihr Werk den Prix Valéry Larbaud und den Prix du Roman Populiste. Und das zu Recht.

Bereits der Einstieg hat die Kraft eines Platzregens: Die Protagonistin klappt erschöpft in ihrer Zelle zusammen und denkt an die »Quallen, die die Meere befallen«. Womit sie die vielen Flüchtlinge meint. Sie sitzt im Gefängnis, weil sie einem Migranten eine Weinflasche an den Kopf geschlagen hat. Nun soll sie sich erklären, wie es dazu kommen konnte. Den Polizeibeamten nennt sie auf kafkaeske Weise Herrn K. und erzählt ihm ihre Geschichte.

»Erschlagt die Armen!« ist eine Innenansicht im doppelten Sinne. Shumona Sinha nimmt ihre Leser mit an einen Ort, der uns sonst verborgen bleibt – in die Asylbehörde am Rande der Stadt. Hier ist alles trist, grau und deprimierend. Während sich vor dem Amt die Flüchtlinge sammeln, darf die Ich-Erzählerin den Eingang für die Privilegierten nehmen. Sie bezeichnet sich und die Dolmetscherkollegen als Sprachturner. Alle vereint, dass sie Verfolgte sind und nun auf der anderen Seite sitzen, sozusagen das Bindeglied zwischen Antragstellern Behörde sind. Shumona Sinha gibt einen tiefen, ungeschönten Einblick in diese bedrückende Tätigkeit – und das ist sie aus vielerlei Gründen.

Da ist der kritische Blick der Beamten, die den Dolmetschern nicht ganz vertrauen. Immerhin ist die Versuchung groß, den Flüchtlingen mit allen Mitteln zu helfen. Auf der anderen Seite misstrauen die Migranten vor allem den Frauen. So kämpft die Erzählerin mit täglicher Diskriminierung: »Sie durften meine Arbeit kritisieren, weil eine echte Frau nicht arbeitet. Keine Frau, die sie von Nahem oder Weiten kannten, keine Nachbarin im Dorf, war so tief gesunken, dass sie sich der Welt aussetzte und ihren Lebensunterhalt mühevoll alleine verdiente, als gäbe es auf der Welt keine Männer mehr! Und dann erdreistete sich diese Frau, sie, die Männer auszufragen.«

Wir erfahren auch von den sich wiederholenden Notlügen, mit denen sich die Flüchtlinge ihre Überfahrt erkaufen. In ihnen verfangen sich einige wie im Netz der Spinne. Warum sie dies tun, erfahre ich recht früh in diesem schmalen und doch reichhaltigen Buch. Allein die Armut des Heimatlandes oder Naturkatastrophen sind es selten: »Es war im Übrigen untersagt das Wort Elend in den Mund zu nehmen. Es brauchte einen edleren Grund, einen, der politisches Asyl rechtfertigte.« Das sitzt wie ein Fausthieb in die Magengrube. Die Erzählerin durchschaut ihre Landesleute und kämpft zunehmend mit einer Wut und Leere, die sie nach Dienstschluss mit anonymen Liebschaften zu betäuben versucht.

Ihre Arbeit in der Asylbehörde gleicht einem Fass, das immer mehr Wasser schlucken soll – doch irgendwann läuft es über. Aber nicht sanft, eher explosionsartig, als die Erzählerin eines Abends in der Metro von einem Migranten angepöbelt wird und zuschlägt. Ausgerechnet mit der Weinflasche, für einen schönen Abend dienen sollte.

Was ich bei Jenny Erpenbecks Roman »Gehen, ging, gegangen« vermisst habe, finde ich bei Shumona Sinha in voller Pracht. Was für eine Sprachgewalt! Was für eine Energie! Man entkommt ihr genauso wenig wie der Wut dieser rebellierenden Frau. Das führt mich bisweilen an meine Grenzen. Aber ich will meine Augen nicht verschließen vor der unbequemen und schmerzhaften Realität.

Luft holen kann ich bei Sinhas Sprache. Staunend betrachte ich die »Sonne in Scherben auf den Gleisen« oder erschaudere bei ihrer Gefühlsbeschreibung: »Eine Eidechse lief mir über den Rücken.« Dieses Buch ist wie eine Wespe – unangenehm und doch notwendig. Der Stachel streift meine aufrecht stehenden Härchen. »Erschlagt die Armen!« ist ein mutiges, poetisches und enorm wichtiges Buch. Wütend, aber es klärt auf. Eine harte, aber gerechte Stimme zur rechten Zeit.

Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! Aus dem Französischen übersetzt von Lena Müller. Edition Nautilus, September 2015, 128 Seiten, 18,- €. Das Buch jetzt portofrei bei Hugendubel.de bestellen. Oder das eBook für 14,99 € downloaden.

Weitere Stimmen über das Buch:
> Rezension bei Das graue Sofa
> Rezension bei skyaboveoldblueplace
> Rezension bei Spiegel Online
> »Erschlagt die Armen!« – Warum Gespräche über Literatur so wertvoll und wichtig sind! Claudia von Das graue Sofa und Kai von skyaboveoldblueplace reden über Shumona Sinhas Roman. Sehr lesenswert!

Liebe Berliner aufgepasst! Die Autorin liest am kommenden Freitag, 4.03., um 20.30 Uhr bei ocelot in der Brunnenstraße. Der Eintritt kostet 5,- €.

5 Kommentare zu „Shumona Sinha: Erschlagt die Armen

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