Leona Stahlmann: Der Defekt

Ein konservatives Dorf im Schwarzwald, ein heißer Sommer voller Fliegen, zwei Jugendliche, die ihre Sexualität entdecken – mit ihrem Debüt Der Defekt (Kein & Aber) blickt Leona Stahlmann in die Tiefen des weiblichen Lustempfindens.

Mina ist 16, als sie Vetko zum ersten Mal bewusst wahrnimmt. Es ist Sommer im spießigen Dorf, aus dem sie kommt, die Ferien haben gerade erst begonnen. Bei einem Spaziergang zum See sieht Mina den 18-jährigen Vetko, wie er sich selbst befriedigt. Statt zu erschrecken, blicken sich die beiden in die Augen und schmieden eine ganz besondere Verbindung.

Den Rest des Sommers verbringen sie damit, sich sexuell anzuvertrauen. Schon als Kind mochte Mina den Schmerz der Brennnessel auf ihrer Haut, mit Vetko betritt sie nun die Welt des BDSM. Die beiden Jugendlichen probieren sich aus, Mina begibt sich immer weiter in Vetkos Kontrolle. Ihr Lustempfinden wächst, gleichzeitig aber auch die Scham und der Zweifel.

Die Brennnessel war ihr Vergissmeinnicht. Und Flecken am Hals kamen sicher nicht vom Küssen.

Scheinen die Eltern der beiden – ob ihrer eigenen Probleme im spießigen Nest – all die blauen Flecke und Treffen nicht zu bemerken, so wiegt das konservative Meinungsbild des Dorfes schwer auf den Schultern der beiden Teenager. Mina spürt, dass »etwas nicht stimmt mit ihr«, dass es wohl eine Art »Defekt« in ihrem Genmaterial geben muss. Sie fragt sich, warum sie scheinbar so anders ist als ihre Eltern und all die anderen. Das Ende der Schulzeit wird schließlich auch zur Zäsur in Minas und Vetkos Beziehung.

Leona Stahlmann hat ein beeindruckendes Debüt geschrieben, das den Blick auf einen Aspekt der weiblichen Lust lenkt, der vielen Menschen noch immer die Schamesröte ins Gesicht treibt. Die Autorin schreibt gegen ein Tabu an. Im Übrigen tut sie dies schon eine Weile, beispielsweise hier. Sie wolle damit »die Stimmen sexueller Randgruppen hörbar und erfahrbar machen«.

Obwohl es in Der Defekt durchgängig um das Erwachen von Sexualität und die Darstellung von BDSM geht, findet sich nicht eine explizite Sexszene in dem Buch. Alles wird nur indirekt angedeutet und metaphorisch verpackt. Leona Stahlmanns Sprache ist so wahnsinnig dicht und poetisch, dass es mir stellenweise schwer fiel, dranzubleiben. Dies ist kein leicht zu lesendes, plotgetriebenes Buch, das sich schnell wegliest. Man braucht Zeit und Muße. Wenn man beides hat, lohnt sich die Lektüre aber umso mehr.

 

Leona Stahlmann: Der Defekt. 272 Seiten. 22 Euro. Erschienen am 11. Februar 2020 bei Kein & Aber.

 

Diese Rezension erschien zuerst auf Poesierausch.

2 Kommentare zu „Leona Stahlmann: Der Defekt

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  1. Schöne Rezension, ich bin auch gerade dran und kann einige Eindrücke nachvollziehen. Dass die Beschreibung der Sexszenen sehr zurückhaltend ist, wundert bei dem Thema doch eigentlich. Ich konnte mir auch noch keinen rechten Reim darauf machen, habe aber noch über 100 Seiten, um dahinter zu kommen.

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    1. Danke schön! :) Ja, ich hatte auch explizitere Beschreibungen erwartet, finde aber, dass es so viel besser passt. Wunderbar unterschwellig. Viel Vergnügen mit den letzten hundert Seiten!

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