Die Super-Rezension: Steffen Popp

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In der Super-Rezension wird aktuelle Lyrik und Prosa dem Stresstest unterzogen. Unprofessionell, subjektiv und frei nach dem Motto: Was sich in fünf Minuten nicht über ein Buch sagen lässt, lässt sich auch in fünfzig Minuten nicht darüber sagen. Heute mit Steffen Popps Gedichtband Dickicht mit Reden und Augen.

Äußerlich aufgemacht ist der Band mit einem Faltumschlag, der sich ausgeklappt als bildschönes Poster eines Käuzchens mit einer Art Spiegel? Mikrophon-Popschutz (!)? anstelle des Schnabels entpuppt. Drinnen Gedichte in sechs Abteilungen zwischen konkret-anschaulich (Meer, Wald) und abstrakt-ungefähr („Narrativ“, „12“). Das titelgebende Dickicht begegnet erstmals auf Seite 38 von 83, die Überraschungen (Madonna, Prince, Hansa Rostock) stecken eher im letzten Drittel.

Eine Auswahl der besten Formulierungen/Vergleiche/Metaphern:

– mein schönstes Fossil ist dein Blick (S. 7)
– Stampede als Junk (S. 13)
– Liebe: Kinetik von Schlümpfen (S. 15)
– Fledermausohrige Dunkelheit (S. 17)
– Lachmöwen über der Brandung, papiertütenschön (S. 19)
– gemüsefeldartige Stagnation (S. 39)
– das Meer birgt Gedanken wie Fische (S. 40)
– das Haar wächst, Superunkraut (S. 66)
– deines Jagdschädels Zimt (S. 68)
– fancy druckentlastende Pflaster (S. 70)
– ein Igel-Innen-Du in seiner Iglu-Logik (S. 81)

Fazit: „In einem stinkenden Kühlschrank wird selten ein Held geboren.“ Steffen Popps neue Gedichte sind sprachlich ausgefeilt, in ihren Assoziationen überraschend, mal formstreng, mal narrativ: Das kann man beliebig nennen, gleichzeitig macht es aber auch großen Spaß.

Empfohlene Hintergrundmusik: Purity Ring – Shrines.

Bibliographischer Hinweis: Steffen Popp, Dickicht mit Reden und Augen, Gedichte. kookbooks, Berlin 2013.

All die traurigen Geschäftsmänner

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Sommergefühle in Weißensee: Der Außenbereich ist gut besucht, die Kastanie am Caligariplatz steht in voller Blüte, der rote Salon eröffnet zu einer weiteren Lesung mit Alexander Graeff, der dieses Mal Sascha Reh und dessen Roman Gibraltar eingeladen hat.

Die Anmoderation kommt einer Warnung gleich: Drei „Bestien“ seien zu erwarten, die in Form der Komplexe Bank, Familie und Krise Themen des Abends sein werden. Nun gut. Zwei Familien, deren Wege sich kreuzen, und eine Bank, die untergeht, weil ein Banker mit dem Geld stiften gegangen ist, das klingt kompliziert, noch dazu bei einem Roman von über 450 Seiten. Ist es aber gar nicht. Sascha Reh erzählt so ruhig betont, fast bedächtig, und mit einem sanften Ruhrpott-Zungenschlag, dass sich der durchaus komplexe Handlungsbogen von Gibraltar Schicht um Schicht entblättert. Von der jüngsten Hauptfigur, Tochter Valerie, die Stimmen aus den Heizungsrohren hört, zum Stiefvater Bernhard, dem Prop-Trader, der dubiose Medikamente einwirft, immer tiefer in Abstumpfung und Gefühllosigkeit versinkt und sein Bestes tut, das schlimmste Ekel der jüngeren Literaturgeschichte seit Rainald Goetz‘ Johann Holtrop zu werden.

Im Wechsel dazu erforscht Alexander Graeff in der längeren Kurzgeschichte „Theodor Taut“ genauer die psychologischen Hintergrundmuster dessen, was man in den Bildungsromanen des 19. Jahrhunderts als das „Streben nach Erfolg“ bezeichnete. Taut, ein dandyhaft-beflissener „Mann von Welt“, in einem nicht genau bestimmbaren Setting auftretend, wo auch ein Felix Krull nicht überraschen würde, hat mit einem Makel zu kämpfen, der nicht so recht zu seiner gepflegten Erscheinung passen mag: ihn plagt ein Klumpfuß. Graeff lässt diese deutlich mephistophelisch angelegte Figur nun quer durch Europa reisen, von Sizilien nach London, wo er immer dubioseren und obskureren Geschäften nachgeht. Taut entpuppt sich schließlich als eine tragische Gestalt, dessen Unternehmungen zum Selbstzweck geraten: Der traurige Geschäftsmann.

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Dieser hat auch bei Sascha Reh das letzte Wort, der den Abend mit einem Auszug aus dem Epilog von Gibraltar beschließt: Johann, Patriarch der Privatbank Alberts & Co., liegt auf dem Sterbebett und denkt noch einmal über sein Leben nach, das er, ganz alte Schule, stets nach den Prinzipien Ehre, Leistung und Loyalität geführt zu haben glaubt. Diese liegen nun – soviel kann man an dieser Stelle schon erahnen – in Scherben, und Johann hadert. Ebenso wie der Begriff der Krise ist in Gibraltar nämlich auch der Begriff der Schuld mehr als doppeldeutig: Die Schulden, die der Prop-Trader Bernhard aufgehäuft hat, sind nur das äußere Merkmal einer tiefgreifenden Verstrickung aller Mitglieder dieser schrecklich netten Familie in persönliche Verfehlungen, Vertrauensbrüche und Enttäuschungen, die auch das Familienoberhaupt mit einschließen und ihm ein sanftes Entschlafen verwehren.

Alle Schulden am Ausschank der Brotfabrik sind glücklicherweise bezahlt, als ich den Rückweg von dieser Ausgabe von „Literatur in Weißensee“ antrete. Aber eine Nachdenklichkeit bleibt: Bei meinem nächsten Besuch am Geldautomaten werde ich an Gibraltar denken.

Literatur in Weißensee findet jeden 3. Sonntag im Monat statt. The Daily Frown berichtet als Medienpartner über die Lesungen.

Parabeln aus der Portokasse

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In Europe Central stellt sich William T. Vollmann random-mäßig alle möglichen Fragen über das Erzählen zwischen kabbalistischer Mystik und sozialistischem Realismus. Eine davon liest sich so:

And doesn’t the parable possess greater integrity, greater righteousness we might almost say, than any other literary form? For its many conventions weave a holy covenant between the reader, who gets the mystification he craves in a bonbon-sized dose, and the writer, whose absence renders him divine.

Abgesehen von dem schnöden Bonbon-Bild überrascht an dieser Stelle der pathetische Tonfall: Meint der das wirklich ernst? Und wenn ja, Herr Keuner, schön Sie zu sehen, ach ja, hallo Kafka-Franz, habe die Ehre! Alles in allem recht durchgeknallt-sympathisch. Genaueres zur Tonfall-Frage und zu Europe Central an sich, das ungefähr zehn Jahre lang ins Deutsche übersetzt wurde und jetzt endlich erschienen ist (wenigstens waren die Übersetzer nicht in irgendwelchen Bunkern eingesperrt), hat neben den erwartbaren Lobgesängen im Feuilleton Gregor Keuschnig in einem klugen, kritisch abwiegenden und in seiner Länge auch keine Kompromisse eingehenden Essay bei Glanz & Elend aufgeschrieben: Bilder und Interpretationsstürme, die erstaunen. Er klopft dort unerschrocken die Edda und Quentin Tarantino auf Vergleiche ab und schraubt Vollmanns „hochmoralisches Erzählpathos“ auf Augenhöhe herunter, indem er historische Fakten geraderückt; trotz aller kleinen und großen Verfehlungen, die er dem Roman vorwirft, ist diese Kritik allerdings nie hitzköpfig und höchst angenehm zu lesen, eine Kombination, die so nur selten gelingt. Und wer jetzt neugierig geworden ist, aber gerade ausnahmsweise keine 39,95 € für den Ziegelstein im schwarzen Leinen in der Portokasse hat, kann sich mit der extra günstigen Taschenbuchausgabe von Afghanistan Picture Show trösten – oder Filmchen gucken.

Buchdesign in der Krise

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Christopher King, Art Director des amerikanischen Independent-Verlags Melville House, hat vor kurzem in einem Blogbeitrag diesen bemerkenswerten Satz geschrieben:

In fact, classics redesigns are everywhere lately as publishers aim to prop up sagging backlist sales in a slow economy. A fresh package is an inexpensive way to inject some life into an oldie-but-goodie, and a particularly eye-catching design can help a dusty book get face-out displays.

Er bezieht sich damit auf eine Diskussion in der New York Times über die neue Buch-zum-Film-Ausgabe von The Great Gatsby, die nur der Höhepunkt einer Debatte um die geschmacklich durchaus fragwürdige Neugestaltung von Klassikern wie Sylvia Plaths Bell Jar im Glamour-Stil war (siehe Zitat im Bild).

Ausführlich widmet sich diesen Monat auch The Atlantic dem Thema – und spätestens hier sollte die Diskussion für den deutschen Buchmarkt aufgegriffen werden: Welche Neuausgaben von Klassikern sind zeitgemäß und sinnvoll, welche riechen nach schneller Abzocke? Was meint ihr?

Wo kommen all die jungen Autoren her?

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In diesem Herbst legen eine ganze Reihe von Autoren ihre Major-Label-Debüts vor.

Die Metapher aus dem Musikmarkt bietet sich an: Viele jüngere Autoren veröffentlichen zuerst in kleinen Independent-Verlagen, um dann mit dem zweiten Buch zum größeren Verlag (mit dem größeren Vorschuss) zu wechseln. Wie große Verlage sich die Autoren aus kleineren Häusern herauspicken und in den einschlägigen jungen Literaturzeitschriften scouten (von Literaturwettbewerben wie den Bachmann-Tagen und dem Open Mike ganz abgesehen), kann man auch in den aktuellen Herbst-Programmen wieder sehr gut beobachten. Eine Auswahl:

Roman Ehrlich: Das kalte Jahr in der DuMont Verlagsgruppe. Veröffentlichte 2012 das Hörspiel „Die Seekuh Tiffany“ in der Edit 59 und in der Tippgemeinschaft des Deutschen Literaturinstituts Leipzig sowie der Anthologie Kein Hügel für die wilden Pferde der Connewitzer Verlagsbuchhandlung. Er ist dieses Jahr für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert.

Roman Graf: Niedergang, bei Knaus (Verlagsgruppe Random House). Sein erstes Buch Herr Blanc erschien 2011 im Zürcher Limmat Verlag, anschließend der Gedichtband Zur Irrfahrt verführt. Die Taschenbuchausgabe von Herr Blanc brachte dtv bereits 2012 heraus.

Katharina Hartwell: Das fremde Meer, im Berlin Verlag (Bonnier Verlagsgruppe). Ihr Erzählband Im Eisluftballon erschien 2011 im Poetenladen, außerdem war sie im poet vertreten.

Stefanie de Velasco: Tigermilch, bei Kiepenheuer & Witsch (Verlagsgruppe Georg Holtzbrinck). Ein Auszug daraus ist ebenfalls in der Edit 59 zu finden, ein weiterer Prosatext („Der blaue Mann“) im dieses Jahr erstmals erschienenen STILL Magazin.

On a side note: Die hier beschriebenen Zusammenhänge sollen an dieser Stelle nicht („großer vs. kleiner Verlag“) bewertet werden, sondern stellen einen kleinen, vielleicht repräsentativen und möglicherweise erhellenden Beitrag zu der Frage dar, auf welchen Wegen neue Autoren Teil des vielbeschworenen Debütantenkreisels werden: Kein Autor kommt aus dem Nichts.

Sag mir, wo die Surfer sind

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Die Messen sind gelesen, die Eisheiligen sind (fast) vorbei, der Mai ist hineingetanzt: The Daily Frown geht einfach schon mal in den Sommer vor. Dabei hilft der aktuelle Surfrock-Trend.

Als hätten sich Bands zwischen Melbourne, Los Angeles und Halifax, Kanada alle heimlich verabredet, kann man sich in diesen Tagen nämlich auf den einschlägigen Soundcloud- und Bandcamp-Seiten von wunderbar sommerlichem Surfpunk und psychedelischer Strand-Musik einlullen lassen, die die innere Uhr auf Mitte Juli stellt.

Eine repräsentative Playlist findet sich hier. Nicht vergessen, die Blumen ins Haar zu stecken, der Sommer beginnt in 3, 2, 1:

Lecker, lecker!

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Journalistische Dramolette III: Juli Zucker und Andreas Thamm schreiben für Zeitungen und das Internet, beide studieren Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim. Im Zuge der #balticdiscovery der #kreativsaison Mecklenburg-Vorpommern bereisen die beiden die Ostsee-Region zwischen Wismar und Rostock. Ihre Eindrücke werden an dieser Stelle verarbeitet.

Das Ende einer Reise: Juli Zucker und Andreas Thamm berichten von den kulinarischen Genüssen einer fast vergessenen Region. Es gibt zwar Fisch, aber kaum so oft, wie man meinen möchte.   

A: Daniela di Lorenzo wollte eigentlich mal Botschafterin werden. Jetzt lebt sie in Aarhus, Dänemark, und wird Politikjournalistin. Sie kennt sich gut mit Fisch aus. Früher war sie auch selber angeln, und sie widerlegt die von dir, liebe Juli, aufgestellte These, es gäbe überhaupt nur einen einzigen Fisch. Tatsächlich gibt es einen, den hat die geangelt, in Italien, der ist so hässlich, dass sein Name, den ich vergessen habe, auch als Beleidigung verwendet wird, sagt Daniela.

J: Daniela sagt auch, dass das Erste, was sie in unserer viersternigen Hotelresidenz in Kühlungsborn, „Upstalsboom“, gemacht hat, ein ordentlicher Bettjump war, den sie für mein Dokumentationsvideo freundlicherweise erneut vorgeführt hat. Wir haben viel über das Hotel geredet, weil wir arme Lumpen sind und dementsprechend natürlich 90 Prozent der Teilnehmer der #balticdiscovery von ihren Gefühlen überwältigt waren, als wir die gigantische Hotelhalle betraten und unter dem Kronleuchter standen – der ungefähr die Größe meines Badezimmers besitzt, aber: am intensivsten haben wir natürlich über die Schokoladenbällchen gesprochen, die neben einem persönlichen Brief und einem bestialisch großen Teller Fremdobst für uns zur Begrüßung bereit gestellt wurden. Ich mach immer so lange Sätze. Ätzend.

A: Amen. Worauf ich hinauswollte: Es gibt so Verknüpfungen und Erwartungen. Wenn ich in Wismar über dieses Knöchelbrecherkopfsteinpflaster gehe, aus geringer Entfernung die Backsteinbauten am Hafen bewundere und es erstmals so salzig riecht, ist mir, wie sonst nie, nach Fischbrötchen. Ich glaube Daniela geht’s genauso. Man muss über einen gewissen Wagemut verfügen, um, nach all dem, was wir vorgesetzt bekommen, zu fragen: When will we have fish? Aber wirklich: When?

J:Wenn ich in Wismar über dieses Knöchelbrecherkopfsteinpflaster gehe, oder in Rostock oder sonst wo, denke ich, dass die Inlineskateindustrie gut daran tun würde, sich weniger um einen Vertrieb in Mecklenburg-Vorpommern zu kümmern. Ansonsten vielleicht auch daran, dass wir uns bei unserer Tour auch auf Essen verstärkt konzentriert haben und die Meckpommer auch kein Problem damit haben, hervorragende Speisen zu zaubern und diese Speisen ebenso sehr zu lieben, beispielsweise der dicke Käseverkäufer in Wismar, der seine runden Käselaibe von der einen Ecke seines Wagens in die andere trägt, uns ansieht, wie wir bei ihm vorbeischlendern, und uns gerade entgegen schreit: LECKER, LECKER. Damit wir wissen, woran wir sind.

A: Man muss sagen, er sang es. Noch mal kurz und knapp: Maximo aus Cadiz beziehungsweise Bornemouth steht nicht so auf Fisch, Juli aus Niederbayern denkt, es gibt nur einen Fisch, aber den isst sie, vorzugsweise mit Meerrettich von Schamel, Daniela aus Mailand beziehungsweise Aarhus will Fisch, Andreas aus Oberfranken ebenfalls.

J: Was der Künstler und Kunsttherapeut Andreas Renner über Fisch denkt, ist unklar, aber er besitzt zumindest ein Herrenhaus sowie das dazugehörige ehemalige Wasserschloss in Büttelkow, einer mikroskopischen Ortschaft mit nur 24 Einwohnern. Nach einer gediegenen Kunsttherapie, bei der jeder irgendetwas in einen Topf voller Wachs eintunkt – seien es die eigenen Hände oder sämtliche Naturalien – und daraus sonst etwas bastelt und somit per Kunsttherapie regeneriert wird, bereitet uns Andreas, ebenfalls dem Freistaat Bayerns entsprungen, mit seiner Frau Spätzle zu und zwar mit einer Extraportion Liebe, die wir vertilgen, als hätten wir zehn Tage ohne jegliches Lebensmittel auf einer grasgrünen Wiese in den Weiten Mecklenburg-Vorpommerns verbracht (was nicht stimmt, in Wirklichkeit wurden wir von #balticdiscovery nahezu gemästet). Das Frühstück am nächsten Tag ist nicht weniger erhaben und Andreas und Antje, seine Lebensgefährtin und als Wissenschaftlerin tätig, stehen uns bei wie in der Nacht zuvor am Lagerfeuer und ebenso am Bahnhof in der nächstgelegenen Ortschaft Kröpelin, und winken zum Abschied mit strahlend weißen Stofftaschentüchern.

A singt: Der Meerettich von Schamel … Unsere erste Regieanweisung, geil, was?

J: Genauso begeistert wie ich von der Dimension dieses Hauses und der Harmonie bin, die das Einzige ist, was mich in Mecklenburg-Vorpommern richtig fertig macht, mit den überhaupt nicht dunklen Straßen in Wismar, wo sich ein farbiges Haus neben das nächste stellt und wo in Rostock ein Fischer neben dem anderen steht und seine Angel auswirft, ist Maximo, unser spanischer Fotograf, der sich gerne was gönnt, und sich also zum Beispiel im Luxushotel ein Peeling und eine Massage kauft, begeistert von den Schokobällen, von denen er am Spätzletisch erzählt. Wie genussvoll er sie in seinem Bademantel gesessen haben muss, nachdem das Salz vom Masseur ihm den Stress von der Haut gekratzt hat, können wir nur an seinen philosophischen Ergüssen über Schokolade im Allgemeinen erahnen.

A: Darf ich zitieren? And then the chocolate melts in the mouth like chocolate. Der Punkt ist, wir kommen am Endpunkt der Reise an, Rostock. Wir spazieren am Hafen entlang, Glasbauten, kleine Segelboote und, wirklich, Schulter an Schulter stehen die Angler und halten ihre Ruten ins Wasser. Es ist nicht mal so, dass sie sich durch die schiere Anzahl gegenseitig Konkurrenz machen würden – wenn man sich auf die Stufen setzt, und ein wenig zuschaut, kann man sehen, wie sie die zappelnden Silberlinge quasi im Zehnsekundentakt aus dem Wasser ziehen. Manchmal hängen zwei oder drei an der Leine. Ein Blick in so einen Eimer macht mich, obwohl die auch da immer noch zappeln, hungrig. Der fünfte Tag an der Ostsee, noch immer kein Fisch in meinem Mund.

J: Das ewige Warten auf den Fisch.

A: Daniela und Emilie kennen ja keine Schüchternheit, sie stellen sich dazu, ratschen ein wenig mit den knorrigen, alten Herren. Was sie da so rauszögen. Emilie spricht ja ganz gut Deutsch, der Angler, den sie sich rausgesucht hat, kann das gar nicht glauben, wo sie doch aus Dänemark käme, das heißt, dass sie ja unweigerlich an der Küste wohne, dass sie dann noch nie angeln gewesen sei, mit dem Großvater wenigstens. Es dauert nicht lange, bis Daniela und Emilie die Herren an ihren Angeln ablösen. Das scheint an irgendwas zu liegen heute, das besonders hohe Aufkommen von Fischlein, gerade im Hafen von Rostock, da gehört gar keine jahrzehntelange Erfahrung dazu. Bis Emilie vier am Stück rausholt. Rekord sagt ihr Mentor mit dem Klumpfuß, Rekord!

J:Ich sage nichts, weil ich mich nicht für Fische interessiere.

A: Aber jetzt wird’s erst interessant. Später am Abend, wir sitzen beim Abendessen, es gibt Fisch, und auch die Gespräche drehen sich um selbigen. Es geht darum, was die beiden, die Dänin und die Italienerin, da heute aus dem Wasser gezogen hätten. Makrel, sagt Emilie und Daniela pflichtet eifrig bei, das seien eindeutig Makrelen gewesen, und die Angler selbst, die dort seit Jahr und Tag, bei Wind und Wetter und so weiter stehen, die behauptet hätten, es handle sich bei diesen Fischen um Heringe, die hätten nicht Recht, mithin also keine Ahnung, die Profession verfehlt. Was uns zurück zu deiner, liebe Juli, Ausgangsthese bringt: Es gibt also doch bloß den einen Fisch. Den haben die geangelt.

J:Wie immer behalte ich das letzte Wort und auch Recht. Tschüß.

A: Werde Baumpate, Juli!

J: Ok.

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Man kann ja nicht ständig so viele Bonbons essen

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Journalistische Dramolette II: Juli Zucker und Andreas Thamm schreiben für Zeitungen und das Internet, beide studieren Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim. Im Zuge der #balticdiscovery der Kreativsaison Mecklenburg-Vorpommern bereisen die beiden die Ostsee-Region zwischen Wismar und Rostock. Ihre Eindrücke werden an dieser Stelle verarbeitet. 

Nach der Besichtigung von Wismar und Neubukow (zauberhaft), Bieren im Atelier (launig) und der ersten meck-pommschen Landhausromantik in Kühlungsborn (malerisch), gehen Juli und Andreas so langsam die Adjektive aus.

A: Das Atelierhaus Rösler-Kröhnke. Etwas außerhalb von Kühlungsborn, diesem Ostseebad. Sieht von der Straße unspektakulär aus, weißer Putz, da könnte auch etwas gelagert sein, Schweinehälften oder Computerchips. Zu anderen Seite hin der Garten, der in eine Art Teletubbie-Land übergeht, das in einen Wald übergeht. Drinnen stellen sie aus. Unter anderem diese bunte Dosenkunst von Anka Kröhnke, der Hausherrin, 73 Jahre alt, die dritte Generation Rösler-Kröhnke-Kunst. Ich gebe diesen Blog an dieser Stelle ab, zum einen an Dich, liebe Juli, zum anderen an Anka Kröhnke, weil ich so ein fleißiger Jungjournalist bin und nicht wenige Zitate aufgeschrieben habe, die ich Dir, Juli, gern auf deinen weiteren Lebensweg mitgeben möchte.

J: Auf gar keinen Fall denkt jemand, dass da einer Schweinehälften lagert, weil keiner und vor allem keine 73-jährige Frau mitten in der Prärie, die man erst nach einem 1000 Kilometer Reiseweg erreicht, Schweinehälften lagert und besonders nicht Anka Rösler-Kröhnke.

A: I need colour.

J: Für meine kinetische Kunst in meinem kinetischen Haus, die ich mit meinen kinetischen Händen in einer kinetischen Umgebung mit einer kinetischen CD angefertigt habe und jetzt mit einem anderen kinetischen Künstler kinetisch in meinem kinetischen Raum mit kinetischer Power ausstelle.

A: CDs are so beautiful in themselves.

J: So beautiful, dass Anka Rösler-Kröhnke CDs sammelt und sie einmal in der Mitte zerdrischt, wenn sie Lust hat, um sie auf einer Leinwand so anzuordnen, dass es richtig tricky wird und man, je nach Blickwinkel, entweder diese schicken Spiegelungen sieht oder farbige Aufdrucke.

A: Das ist Kunstkritik, wie sie mir gefällt. Die eigentliche Geschichte hier ist aber folgende: Luise Rösler, die Mutter, erhält 1943 von der NS-Regierung Farbenverbot (außerdem Leinwandverbot, es war ihr, genaugenommen, Sämtliches verboten). Die Familie versteckt ihre Bilder unter dem Fußboden. Nach dem Krieg sind Farbe und Leinwand und Pinsel Luxusgüter. Auf diesem Mangel fußen genauso die Collagen der Anka Rösler-Kröhnke, vor denen wir stehen: She had nothing, so she started with candy paper.

J: Ein gewagtes Unternehmen. Man kann ja nicht ständig so viele Bonbons essen.

A: When I turn away and don’t have to look at it again, it’s okay.

 J: Eine Sache, von der Anka Rösler-Kröhnke vielleicht noch abgeturnt ist, sind dunkle Möbel. Deswegen hat sie von Esstisch über Bett bis zum Diwan alles abgeschliffen und in grellem Rot gestrichen. Aber macht nichts. Wenn sie es nicht aushält, schaut sie eben aus dem Fenster auf die Ostsee, die man von Küche und Wohnzimmer aus sieht, und freut sich, dass sie endlich dieses gigantische Haus nahe Kühlungsborn gefunden hat, nachdem sie jahrelang überall in Norddeutschland vergeblich gesucht hatte.

A: Ich hab keine Zitate mehr. Das ging fix. Möge uns jungen Hüpfern all das hier eine Lektion sein, etwas, das wir mitnehmen, auf unseren E-Bikes in Richtung Küste, dorthin, wo uns die wohlhabenden Rentnerpaare schon erwarten, mit ihren Baumwoll-Baseball-Caps und den windbreakenden, beigen Westen, wie sie flanieren und sitzen und kleine Taschen an ihren Handgelenken baumeln haben, mit diesem wohligen Gefühl um die Milz, dass sie all das haben, was wir so gerne hätten.

J: Was zum Beispiel?

A: Unerschütterliche Lebensqualität durch Wohlhaben. Es gibt noch eine Sache, dann können wir schließen. Wir sitzen bei „Edel&Scharf“ über Currywurst mit Pommes und Preiselbeersenf (!) und, ich möchte diversen dänischen Publikationen nicht vorweg greifen, aber unsere Kollegin Emilie Lukman erzählt: Auf dem Steg, der hier in Kühlungsborn in die Ostsee ragt, sitzt ein Mann im Rollstuhl und schaut aufs Meer. Ein etwa Dreijähriger nähert sich, vielleicht ist sein Fahrrad/Dreirad neu und besser als das seiner Kameraden im Kindergarten. Er muss sehr stolz gewirkt haben. Die beiden fokussieren einander für einen Moment, die umgebenen Rentnerpärchen halten den Atem an, verstärken den Griff um die Hand des andern. Der mild zitternde Moment eines Generationen- und Fahrzeug-Duells. Der Herr im Rollstuhl lässt seinen Blick auf dem Jungen ruhen, seine Hand tastet nach einem hohlen Gummiball und betätigt effektvoll, es sei, sagt Emilie, niemand entgangen, seine Tröte. Der Junge weiß, er ist besiegt und zieht wie ein geschlagener Hund davon.

J: Alles kinetische Power.

A: Genau. Oder mit den Worten vom Anfahrtsplan auf dem Flyer des Ateliers: Vorsicht: Viele Raser.

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Im Laichgebiet der Seeforelle

Journalistische Dramolette: Juli Zucker und Andreas Thamm schreiben für Zeitungen und das Internet, beide studieren Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim. Im Zuge der #balticdiscovery der #kreativsaison Mecklenburg-Vorpommern bereisen die beiden die Ostsee-Region zwischen Wismar und Rostock. Ihr Eindrücke werden an dieser Stelle verarbeitet.  

A: Ein himmelblauer Opel Ascona aus den 70er Jahren. Der Mann hat ihn 1991 gekauft und zwei Jahre lang hergerichtet. Die hinteren Fenster sind gekippt. Es gibt keine Gurte auf der Rückbank. Wir fahren über eine mecklenburgische Bundesstraße zwischen Wismar und Neubukow, Teiche und Felder und Wälder wechseln sich ab. Außerdem Windräder. Du sitzt in der Mitte, rechts Elena aus Österreich, vorne Maximo aus Cadiz, Spanien ich links. Was geht denn hier ab?

J: Ich hab heute ein Huhn gesehen.

A: Und dann sagt einer im Auto: „Troja“. Und Troja heißt in dem Fall Neubukow, wegen Heinrich Schliemann, dem Troja-Entdecker, der kam aus Neubukow. Und du sagst: „Ja, der kam ja da her.“ Und dann sind wir schon da. Und du sagst: „Schade, jetzt ist unser Roadtrip schon vorbei.“ Am Straßenrand sitzt einer, klobige Gestalt, ogerhaft, kaum Haare und schwenkt bedächtig eine riesige Deutschlandfahne. Wir drehen die Köpfe. Das mit dem Huhn dauert jetzt noch ein wenig.

J: Es war gar nicht so klein, aber ganz ruhig, mit boshaften Huhnaugen, die einem entgegen starren, als würd es dich umbringen wollen.

A: Dann kommt der himmelblaue Opel Ascona da zum Stehen wo der Bürgermeister auf uns wartet. Der Bürgermeister und mindestens drei Übersetzer und Burkhard Albrecht. Ich habe Burkhard Albrecht gerade gegoogelt, die Ostsee-Zeitung schreibt: „Der Neubukow-Experte“. Ich frage mich, ob es an dem Buch liegt, das du gestern gelesen hast – „356 Wege zum Glück“ oder so ähnlich, auf dem Cover war ein Bild, eine Frau rannte mit einem älteren Herrn am Strand entlang – jedenfalls glaube ich, ihr seid mindestens Kumpel geworden, du und Burkhard Albrecht. Burkhard sagt, früher lebten hier Slawen, meistens friedlich, außer wenn es um Frauen ging, dann gab es Krieg.

J: Es muss eher ein trauriges Huhn gewesen sein. Oder zumindest ein mittelgelauntes, Tendenz fallend.

A: Das mit dem Huhn kommt gleich. Burkhard führt uns an der Seite des Bürgermeisters durch dieses Städtchen. Hier sind die Wasserpumpen, hier gab es früher Gewerbe, hier wurde Heinrich Schliemann geboren, so nach dem Motto, nicht zuletzt die größte Fischtreppe Europas, und ein Windrad, das auch einen Größenrekord hält, das größte Norddeutschlands vielleicht, relativ zauberhaft insgesamt. Auf dem Weg zur Mittagspause sagt Teresa zu uns: „Habt ihr Berni Kruse gesehen? Er kommt seit mehr als zehn Jahren jeden Tag aus Kühlungsborn hierher und schwenkt entweder eine Deutschland- oder eine Hansa-Rostock-Fahne. Wenn man ihn nicht grüßt, kann er ganz schön wütend werden.“ Das ist das, was man eigentlich immer hören will. Es gibt Kassler und Kroketten und Pilze, unfassbar seltene Ausgeglichenheit, bei mir zumindest.

J: Unser Huhn hat mit Sicherheit noch nie ein Ei gelegt.

A: Wir gehen ein Stück, an den Rand des Dorfes. Das ist auch so etwas: Ein monumentales Korn-Silo, früher Luftschutzbunker, jetzt: nichts, das heißt, von außen Backsteine und Beton, wie ein Brocken neben den niedlichen Wohnhäusern, aber hinter den Mauern ist alles leer, ein Gebäude als Gefäß für nichts. Daneben eine Brücke, im Hintergrund eine Windmühle und unter uns nichts anderes als die größte Fischtreppe Europas. Wir befinden uns  – ich denke so könnte ein Roman heißen, aber ich weiß nicht, ob ich den lesen möchte – im Laichgebiet der Seeforelle. Ein Wahnsinn eigentlich. Gruppenfoto. Jetzt kommt’s gleich, richtig?

J: Glaubst du, mein Bester, du wärst etwas Besseres, weil du einer weißen Henne Sohn bist, wir nur gemeine aus Unglückseiern geschlüpfte Kühen?

A: Ich hätte jetzt auch etwas zu dem Huhn gesagt, Juli, aber zuerst erzähle ich den Witz von Burkard Albrecht, ich weiß den Kontext leider nicht mehr, aber das macht nichts: „Der Gleichstrom heißt Gleichstrom, weil man den gleich bezahlt, beim Wechselstrom wechselt es immer, wer den bezahlt und beim Kreisstrom (um den ging es eigentlich) geht es immer im Kreis herum.“ Emilie, die Dänin, bemerkt, dass das ein Witz ist, der sich nicht übersetzten lässt. Ich hab gekichert, du?

J: Beim Hahnenschrei kehrt die Hoffnung zurück.

A: Wir stehen also auf dieser Brücke über der Fischtreppe von Neubukow, in Mecklenburg-Vorpommern, nordöstlich von Wismar, wo diese ganze Geschichte, das müsste ich erzählen, eigentlich begann, im Atelier von Paetrick Schmidt, dem Maler, aber das würde zu weit führen. Am Straßenrand steht ein Mädchen und es scheint uns zu beobachten, während Herr Albrecht uns die Herkunft der Architektur der Windmühle erklärt. Sie trägt eine Brille mit pinkfarbenem Kunststoffrahmen und auf den Armen ein Huhn. Wir entfernen uns tröpfchenweise von Herrn Albrecht und nähern uns dem Mädchen, bis sich dort auch schon eine kleine Traube gebildet hat. Das Mädchen streichelt sein Huhn, sagt nur es heiße „Lena“, sonst nichts und grinst zahnlückig. Wir fotografieren das Mädchen mit dem Huhn, das ist eigentlich perfide. Später sehen wir, wie die beiden auf der Wiese miteinander schmusen. Und jetzt kommst du, alte Pflaume.

J: Das wars. Das war die ganze Geschichte vom Huhn.

A: Hab noch eins zu rupfen mit dir. Bei nächster Gelegenheit.

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