Goridun, Boorabee, Koala

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Lukas Bärfuss hat einen sehr ernsten, sehr traurigen Roman über den Selbstmord geschrieben: Der Erzähler, selbst erst noch über Kleist forschend, wird darin plötzlich mit dem Suizid seines Bruders konfrontiert.

Wie schon in seinem Afrika-Roman Hundert Tage erweist sich Bärfuss erneut als ein unerbittlicher Erzähler. War es damals der in seiner Brutalität unbegreifliche Völkermord in Ruanda, nähert er sich hier einem ebenso unbegreiflichen Thema, dem unerwarteten Tod eines nahen Verwandten, mit aller Schärfe und Präzision des Beobachters, für den das Aufschreiben gleichsam Bewältigung eines Traumas ist.

Ein wenig Trost in der sehr bedrückenden, beklemmenden Atmosphäre dieses Romans bietet das titelgebende Tier, der Koala, das der Verstorbene von seinen Kameraden als symbolisches „Totemtier“ erhalten hat. Die auffallend lange Beschreibung des Koalas und seiner Lebensumstände verschafft dem Erzähler Erleichterung; das ist beim Lesen deutlich spürbar und lockert schließlich auch die düstere Atmosphäre einer Erzählung, die sonst kaum zu ertragen wäre, merklich auf.

Die längste Zeit hatte das Tier ohne Namen existiert, zwanzig Millionen Jahre wurde es von niemandem gerufen, und doch streifte es schon durch die Steppen, ein Wesen von unbekannter Gestalt, von dem sich nichts als eine Zahnreihe erhalten hat. Es war schon da, als sich die Kontinentalplatten zerrieben, sich Bruchrinnen und hoch im Norden, am großen Meer, das man Tethys nennt, die ersten Dehnungsrisse bildeten. Der alte Kontinent zerbrach, eine Scholle löste sich und trennte das Tier von seiner Gattung, trug es fort, nach Norden und nach Osten, hinein in die warmen Winde, die in den folgenden Jahrmillionen feuchte Luft vom Meer her in das Land trugen. Im schweren Regen verwandelte sich das Tier, es war zu jener Zeit, als sein Rücken kürzer wurde und es den Schwanz verlor. Und noch einmal brach das Land entzwei, Antarktika fuhr in den Süden, erstarrte und wurde zu seiner eigenen Geschichte. Es wurde kühler um das Tier, trockener, die Regenwälder verschwanden und machten Akazien und Eukalypten Platz.

Lukas Bärfuss: Koala. Wallstein Verlag, 184 Seiten, 19,90 €

Prosanova-Prequel 1: Behördengang mit Parschtschikow

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Am 29. Mai beginnt in Hildesheim zum vierten Mal das deutschlandweit größte Festival für junge Literatur: PROSANOVA 2014. Zur Einstimmung erscheinen an dieser Stelle in den kommenden Wochen, willkürlich, ungeordnet und streng subjektiv, Fundstücke und Eindrücke aus den vergangenen Jahren.

Der Prosanova-Freitag 2011, 12.30 Uhr. Noch etwas scheu und zaghaft versammeln sich Neugierige in dem einer Amtsstube nachempfundenen Wartesaal irgendwo auf dem Festivalgelände, es werden Nummern ausgegeben, eine strenge Dame im Kostüm bellt Ordnungsrufe und weist übereifrige Fotografen zurecht. Dann wird man (schnell, schnell, das ist hier schließlich kein Kaffekränzchen) mit vielleicht zehn anderen Personen in einen kahlen Raum mit Betonwänden bugsiert, mittendrin ein riesenhafter, geradezu ätzenden Gestank verströmender Ölkanister. Hendrik Jackson tritt an das Lesepult. Liest, erst in dröhnendem Russisch, dann auf deutsch aus Alexej Parschtschikows Erdöl-Gedichten. Und alles passt zusammen.

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Ratlos im Beisl

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Stefanie Sargnagel heißt eigentlich Stefanie Fröhlich. „In der Zukunft sind wir alle tot“, ihre jetzt bei mikrotext erschienene Anthologie gesammelter Statusmeldungen, passt aber nicht nur dem Titel wegen gut zu ihrem morbiden Künstlernamen.

Die Anthologie ist, wie angedeutet, nichts anderes als das: Eine quasi tagesgenaue Chronik, ein Tagebuch aller Statusmeldungen, die Stefanie Fröhlich zwischen dem 16. September 2013 und dem 6. Februar 2014 gepostet hat. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Denn festgehalten werden muss, so schade es auch ist: Statusmeldungen allein, zumindest hier, machen noch keine Literatur. Diese zwischen Callcenter-Tristesse und Lebenskünstlerinnen-Alltag ins Social Network geposteten Notizen sind oft vor allem eins: so kunstlos wie möglich hingeworfen, dabei aber meist banal, und im schlimmsten Fall auf billigem Kalauer-Niveau.

Dass Stefanie Fröhlich durchaus schreiben kann und ein Händchen für die Kunst der leidenschaftlichen Schmäh hat, zeigt sie gerade in den längeren Texten, die für das auf Kurzlebigkeit angelegte Twitter- und Facebook-Format eigentlich unüblich sind.

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The dust won’t settle for several pages

Tippgemeinschaft2014

Ein unaufgeregter Abend, bei dem eines im Vordergrund stand: Die Literatur, und zwar in allen ihren Spielarten.

Das bot die Gemeinschaftslesung von vier Autorinnen und Autoren, die in der diesjährigen Ausgabe der Tippgemeinschaft, der Jahresanthologie des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, vertreten sind, an diesem Abend in der Buchhandlung ocelot, not just another bookstore.

Markus Sehl machte den Anfang und stellte eine Geschichte von zwei Menschen in der Provinz vor, die vielleicht kurz davor sind, sich zu verlieben. Etwas detailverliebt und auf die Segnungen der Einfachheit versessen (die Vorstellung, etwas Banales wie ein Spiegelei im Gasthaus zu bestellen, bringt den Erzähler beinahe aus der Fassung), aber gut ausgearbeitet und angenehm gelesen. Yevgeniy Breyger steuerte Lyrik bei, ein Gedichtband steht auch schon bevor, und die streng-sensibel zwischen Natur und geometrischen Räumen operierenden Texte, bereits beim Open Mike zu hören und an verschiedenen Stellen in Zeitschriften zu lesen, haben die Drucklegung nötiger denn je. Die Gattungen weiter auffächernd, folgte danach ein Auszug aus einem Stück von Saskia Nitsche, in der Tristesse einer „Silostadt“ angesiedelt, wo eine Figur vermisst wird: Karl ist verschwunden, womöglich zurück nach Kursk gegangen, zurück zu den Füchsen und der Freiheit. Eine doppelbödige Angelegenheit, die mit fragilen Familienkonstellationen und der Unsicherheit zwischenmenschlicher Beziehungen spielt, aber auch Heimat, Fremde und Unbehaustheit verhandelt. Den Abschluss der Runde bildete ein Sprechstück von Christina Esther Hansen, im Dialog mit einer Tonspur, der unaufhörlich die Zeilen „when the dust settles, it will settle, but if it doesn’t settle, it won’t settle for several pages“ variierte und auf geschickte Weise Klang, Rhythmus und Syntax der englischen Sprache zu einer einprägsamen Performance formte.

Im Gesamtblick: Klares Statement für die Vielfaltigkeit des literarischen Schreibens in Leipzig – mit der Buchhandlung ocelot noch dazu an einem passenden Ort in Berlin präsentiert. Easily mehr davon!

Tippgemeinschaft 2014. Jahresanthologie der Studierenden des Deutschen Literaturinstituts Leipzig. Connewitzer Verlagsbuchhandlung, 288 Seiten, 14 €

Rumpelstilzchen im Atomkraftwerk

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Matthias Nawrats kurzer Roman Unternehmer ist Parabel, Märchen, Dystopie, Coming-of-age-Roman: Eine aufregende Kombination, mit Sinn fürs Detail ausgearbeitet, die leider aber an manchen Stellen übers Ziel hinausschießt oder auch einfach nur anstrengend zu lesen ist.

Die Umschlagabbildung von Unternehmer ist bereits ein klug-doppeldeutiges Sinnbild für das Thema von Matthias Nawrat, der 1979 im polnischen Opole geboren wurde, Biologie und später am Bieler Literaturinstitut studierte und beim Wettlesen in Klagenfurt – wie passend für diesen Roman – mit dem Preis der Kärntner Elektrizitäts-Aktiengesellschaft ausgezeichnet wurde. Als Nicht-Muttersprachler erhielt er 2013 außerdem den Förderpreis zum renommierten Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung.

Zu sehen sind zerfledderte Magnetspulen – genauso gut könnte es sich aber auch um Heuballen handeln, beides passt zum Setting dieser im ländlichen Schwarzwald verorteten Erzählung von Lipa, Berti und ihrem Vater, die als verschworene Gemeinschaft aufgelassene Fabriken nach Elektroschrott durchforsten, der gewinnbringend weiterverkauft werden kann.

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Intergalaktische Rechtschreibung

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Es ist eine große Freude, die Bücher von Stanisław Lem zu lesen. Eine noch größere Freude ist es, nach Jahren wieder in das Werk des polnischen Science-Fiction-Meisters einzutauchen und zu merken, dass die Begeisterung, als wäre sie in einer Zeitkapsel aufgehoben, wie von selbst zurückkehrt.

Selbst die kleinsten Missgeschicke erscheinen, beispielweise in den Sterntagebüchern, in einem ganz anderen, nahezu poetischen Licht, etwa dieses hier:

So hatte ich denn nicht nur nichts ausgebessert, sondern obendrein noch ein wertvolles Werkzeug verloren und mußte tatenlos zusehen, wie es sich entfernte und vor dem Hintergrund der Sterne immer kleiner wurde.

Mit dem intergalaktischen Schelm Ijon Tichy lässt es sich in der schön gestalteten aktuellen Ausgabe der Sterntagebücher unbeschwert durch das Universum reisen; schön auch der Nebeneffekt bei Science-Fiction, deren Übersetzung aus den siebziger Jahren stammt: Anachronismen wie das unreformierte daß wurden (vielleicht absichtlich, vielleicht auch aus Faulheit) beibehalten, die Reise in die Zukunft ist also gleichzeitig eine in die Vergangenheit des eigenen Lesens – und der Rechtschreibung.

Dass man den gesamten Lem (und gerade Lem!) auch problemlos in der digitalen Variante lesen kann, hat zuletzt noch einmal René Walter anhand seines Lieblingsbuchs festgehalten:

Jedenfalls: Gestern habe ich zufällig festgestellt, dass Suhrkamp Stanislaw Lems Summa Technologiae vor ein paar Wochen endlich auch digital veröffentlicht hat.

Allerdings hat Suhrkamp die E-Book-Integration auf der eigenen Seite noch nicht ganz konsequent umgesetzt, weswegen man das (wohl im Print vergriffene) Buch gar nicht erst dort findet – und sich einstweilen mit den Sterntagebüchern begnügen muss. Für alles Digitale stehen die einschlägigen Plattformen bereit.

Stanisław Lem: Sterntagebücher, aus dem Polnischen von Caesar Rymarowicz, mit Zeichnungen des Autors, suhrkamp taschenbuch, 528 Seiten, 10 €

Abbildung/Foto: Suhrkamp Verlag, Wikipedia

Atari-Breakout zu Pferde

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Charlotte Warsen macht es Zuhörern ihrer Gedichtlesungen nicht unbedingt leicht – statt mit einer Person beschleicht einen mitunter das Gefühl, es mit zwei, drei oder vier Lesenden zu tun zu haben, so raffiniert moduliert sie, und das mit einer lässigen Haltung, zum Teil während nur eines Gedichts Stimmlage, Geschwindigkeit und Intonation. Das macht aber auch den großen Reiz daran aus, Charlotte Warsens Lesungen zuzuhören, wenn einmal das Eis gebrochen ist.

Auf dem Papier sieht die Sache dann noch einmal anders aus. Aber nicht im Negativen, soviel sei vorab verraten. Zunächst einmal ist das im Wiesbadener Luxbooks-Verlag erschienene schmale Bändchen Vom Speerwurf zu Pferde eine ästhetisch sehr angenehme Angelegenheit, im Vergleich zu Jan Skudlareks Debüt Elektrosmog wurde dazugelernt, nämlich ein feineres Papier ausgewählt und, ja, auch das zählt zu den paratextuellen Merkmalen, die in eine Rezension miteinbezogen werden dürfen, das Buch riecht einfach gut.

Etwas irritierend ist dann aber doch, zumindest auf den ersten Blick, die Tatsache, dass sämtliche Gedichte sowie Buchtitel, Impressum und Klappe von Vom Speerwurf zu Pferde im Querformat präsentiert werden. Da hat man das schöne Buch in der Hand, klappt es auf, und muss es erst einmal umdrehen.

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Verwechslungen

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Ann Cottens japanische Serie im Suhrkamp-Logbuch geht weiter, und dieses Mal ohne wuchtige Traurigkeit (oder so ähnlich), dafür mit Gedanken über die Verbindung zwischen Fleiß und Schönheit, oder eben die fehlende Verbindung der beiden. Wohl weniger Ann Cotten als dem koreanisch-japanischen Ukiyo‑e-Meister Shoji Miyamoto ist allerdings eine ebenso winzige wie willkürliche, aber doch irgendwie interessante Handke-Assoziation zu verdanken, die aus dem abgebildeten Kunstdruck eines abgeschnittenen Fingernagels hervorgeht, der gleichzeitig auch eine Mondsichel sein könnte:

Am Haufen von Stacheldraht will ich Brombeeren essen;
mit dem Telegrafenmast will ich mir in den Zähnen stochern;
dem aufgehenden Mond komme ich mit einer Nagelschere.

Gedichtzeile zitiert nach:

Peter Handke, Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Suhrkamp Verlag 1969

Von Ann Cotten außerdem zuletzt noch erschienen:

Rein – ja oder nein? Slotta, Berlin 2013

Foto © Suhrkamp Verlag

Live aus Berlin: STILL im Frühling

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Wenn Donnerstagabend der neue Samstagabend ist, ist Freitagabend seit dieser Veranstaltung definitiv der neue Sonntagnachmittag: Die Reihe „lauthals“ lud das STILL Magazin zum Quasi-Best-Of nach zwei Ausgaben ein; es wurde ein entspannt verjazztes Frühlingsfest daraus.

Hätte nicht das nieselgraue Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht, der Abend hätte glatt in den Vorhof des Bethanien am Mariannenplatz verlegt werden können. So scharte man sich in Plastikstühlen um eine improvisierte Bühne mit Plüschsessel, wo nacheinander Meike Blatnik, Sonja vom Brocke, Andreas Bülhoff und Niklas Bardeli ihre Leseparts absolvierten; dazwischengestreut betont lockerer Wortspiel-Jazz von „Swing of the Stoneage“.

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Auswahl der Lesenden war, und da war sich auch am Ende das Abends das Publikum weitestgehend einig, angenehm disparat, über fehlende Abwechslung konnte sich nicht beschwert werden. Jedoch: Der hitzeflirrende spätpubertäre Jugendroman von Elvis Peeters, aus dem Meike Blatnik vortrug, fiel bei ganz genauer Betrachtung etwas aus der Reihe, konnte er doch an Komplexität und Originalität nicht so recht mit den folgenden Lesebeiträgen mithalten. Und die hatten es tatsächlich in sich: Sonja vom Brockes abstrakte Prosa, die von altägyptischen Hieroglyphen bis zu Wolfgang Priklopil beunruhigende bis verstörend bizarre Bildwelten entwarf; Andreas Bülhoff, der zwischendurch ganz auf das Vorlesen verzichtete und das Loop-Gerät voraufgezeichnete Text-Samples sprechen ließ; und schließlich Niklas Bardeli, dessen expressiver Vortrag inklusive nervösem Tic noch die banalsten Alltagsbeobachtungen mit dramatischer Wucht auflud – dafür hat sich das Kommen gelohnt.

Ein schön zusammengestelltes Fest also für den zwar einerseits noch nicht ganz eingetroffenenen Frühling, dafür aber andererseits für die Hybridität der Formen: Sowohl Blatnik als auch Brocke, Bülhoff und Bardeli entpuppten sich als Meister des Vortrags und ließen den Wunsch nach dem Nachlesen auf Papier oder in Buchform fast vergessen machen. Fair enough: Als einziges Buch war am Büchertisch ohnehin nur der klassischste Text, also Elvis Peeters‘ bei Blumenbar erschienener Roman Der Sommer, als wir unsere Röcke hoben und die Welt gegen die Wand fuhr erhältlich. Alles andere kann und sollte man sich bei anderer Gelegenheit nochmal live anhören, oder dann durchaus auch im kleineren Rahmen nachlesen, bis es mehr gibt, und zwar in den ersten beiden Ausgaben der STILL.

Zum Abschluss hier noch ein paar spontan notierte quirky Zitate der Lesenden:

  • „Einen richtigen Plan hatten wir nicht, wir improvisierten wie immer“ (Elvis Peeters)
  • „Fanta mit Pfiff“ (Sonja vom Brocke)
  • strafe und Strafe“ (Andreas Bülhoff)
  • „Ich will dich da treffen, wo die kleinen Füchse wohnen“ (Niklas Bardeli)

Wir waren frierende Hirten

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Gedichte kann man lesen, Horrorfilme schauen, über beides trefflich diskutieren. Und sonst?

Der überraschend gut funktionierenden Verschränkung von Gegegenwartslyrik und Horrorfilm hat Georg Leß in dem Band Metonymie, herausgegeben von Norbert Lange und jetzt erschienen im Verlagshaus J. Frank, einen ganz unbescheiden monomanischen Aufsatz (inkl. ca. 100 zitierter Horrorfilme) gewidmet. Aber das mit Fug und Recht:

Denn sowohl Gegenwartslyrik als auch -horrorfilm profitieren von einer vitalen, rasch produzierenden, distribuierenden und konsumierenden Szene, einer oft ungeduldigen Verbreitung ihrer Zeugenberichte. Horrorfilme als Groß-, Klein-, Direct-to-Video- und No-Budget-Produktionen, Gedichte in Groß-, Klein-, BoD- und Selbstverlagen, Zeitschriften und Anthologien und alle mittels Internet. (…) Drumherum immer neue Diskurse, Hype-Zyklen, Lesereihen, Themenhefte, Filmfeste mit einer immensen Schnittmenge von Produzenten und Konsumenten, sagte sie, vor allem im Bereich der Gegenwartslyrik, scheint es doch so bequem, Kamera und Schauspieler warten schon. Das steckt an, erfordert oft nur einen einzigen Biss und augenblicklich breiten sich Moden epidemisch aus, Wortfelder, Sprechhaltungen, Formeln. Somit bestehe die Chance, wirklich alles aus jedem erdenklichen Blickwinkel für jedermann sagen zu können. Varianten, Permutationen, Repliken, Remakes, Pastiches, Rip-offs.

Dass diese Kombination zweier auf den ersten Blick so fremder Abteilungen aber letztlich gar nicht überrascht, sollte jedem Leser von Georg Leß‘ kürzlich erschienenen Lyrikheft Schlachtgewicht schon längst klar sein: Hier wird die einsame Holzhütte im Wald zitiert, Fleisch in der Einkaufstüte transportiert und nach Knochen gegraben. Das macht aber Leß‘ Gedichte keineswegs zu Horrorlyrik oder Gedichtsplatter – diese Texte sind nicht klischeehaft oder schrill, dafür aber fein gearbeitet und auf mehreren Ebenen lesbar, so dass sowohl Lyrikpuristen als auch Programmkino-Enthusiasten ihre Freude daran haben. So etwa hier, bei dem neckisch betitelten Gedicht „If Nancy doesn’t wake up screaming, she won’t wake up at all“:

und außer Bergen? Hügel
buschig himmelwärts, bezwingbar, halber Tagesmarsch
brachte uns über alle und das war’s, wie ausgebeint

dazwischen nämlich trockneten Lemuren, hart gesonnte
nackte Stämme, Kippfiguren / die vibrierten, sich berieten
mit Föhn und meinem Schlachtgewicht

zur Schur, den Schafen wurde nichts gezahlt
zahllos bezogen sie den Landstrich frisch
vibrierten, wir waren frierende Hirten, und fuhren mit uns

aus der Haut

Lohnt sich beides sehr, hiermit also nachdrücklich zur Anschaffung empfohlen:

Norbert Lange (Hg.): Metonymie. Anthologie. Verlagshaus J. Frank Berlin, 220 Seiten, 13,90 €

Georg Leß: Schlachtgewicht. Gedichte. parasitenpresse, 14 Seiten, 6 €

Foto: Hütte in der Hohen Tatra von Adam Chrobak, via Cabin Porn