Jahr: 2020

Offener Brief: Woody-Allen-Autobiografie im Rowohlt Verlag

Sehr geehrter Herr Dr. Moritz Schuller,

sehr geehrter Herr Florian Illies,

wir sind enttäuscht über die Entscheidung des Rowohlt-Verlags, die Autobiographie von Woody Allen zu veröffentlichen.

Wir haben keinen Grund, an den Aussagen von Woody Allens Tochter Dylan Farrow zu zweifeln. Ihr Bruder Ronan Farrow hat sich nachdrücklich gegen die Veröffentlichung im Verlag Hachette ausgesprochen, in dem auch seine eigenen Bücher erschienen sind. Der Rowohlt Verlag hat die Bücher Farrows auf Deutsch veröffentlicht und ist damit in derselben Situation wie Hachette.

Unter anderem hat Farrow kritisiert, dass Allens Buch in den USA ohne Prüfung der darin enthaltenen Fakten erscheinen sollte. Nach gängiger Praxis müssen wir annehmen, dass ein “fact checking” des Buches auch in Deutschland nicht erfolgen wird. Wie Ronan Farrow sind wir der Ansicht, dass dieses Vorgehen unethisch ist und einen Mangel an Interesse für die Belange der Opfer sexueller Übergriffe zeigt. Durch die Veröffentlichung würde der Rowohlt-Verlag den Eindruck erwecken, dass es nach den Diskussionen der letzten drei Jahre – nachzulesen zum Beispiel in Ronan Farrows “Durchbruch: Der Weinstein-Skandal, Trump und die Folgen” (Rowohlt 2019) – jetzt Zeit ist, das Thema abzuhaken und zu den alten Verhältnissen zurückzukehren. Es geht uns nicht darum, die Veröffentlichung grundsätzlich zu unterbinden. Allen mangelt es nicht an Möglichkeiten, sich mitzuteilen. Aber der Rowohlt Verlag muss ihn darin nicht unterstützen.

Wir zeigen uns solidarisch mit den Angestellten des Hachette-Verlags, deren Proteste dazu geführt haben, dass der Verlag sich gegen eine Veröffentlichung des Buches entschieden hat. Wir fordern Sie auf, diesem Beispiel zu folgen. Das Buch eines Mannes, der sich nie überzeugend mit den Vorwürfen seiner Tochter auseinandergesetzt hat, und der öffentliche Auseinandersetzungen über sexualisierte Gewalt als Hexenjagd heruntergespielt hat, sollte keinen Platz in einem Verlag haben, für den wir gerne und mit großem Engagement schreiben.

Autorinnen und Autoren des Rowohlt-Verlags

Giulia Becker
Annika Brockschmidt
Lena Gorelik
Sebastian Janata
Alexander Krützfeldt
Kathrin Passig
Till Raether
Anna Schatz
Aleks Scholz
Margarete Stokowski
Sven Stricker

bit.ly/rowohlt-allen (google-docs)

Lesen nach Hanau

von Şeyda Kurt

Nach dem Terroranschlag in Hanau kann ich mich tagelang nicht überwinden, ein Buch aufzuschlagen. Manchmal sitze ich auf meinem Sofa. Mein Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand und ich starren uns still und vorwurfsvoll an. Mir fehlt die Kraft, Verknüpfungen zwischen Buchstaben herzustellen. Mir fehlt die Kraft, Seite für Seite daran zu glauben, dass Ereignisse in der Welt in einer sinnhaften Erzählung gebündelt werden können. Wie soll ich mich als Lesende darauf verlassen können, Teil von etwas zu sein, das über mich hinausgeht, Teil einer Geschichtserzählung, wenn ich mich in tausend Teile zerschlagen fühle? Und dann ist da die Angst vor dem Verrat. Darf ich mich in andere Realitäten flüchten, während die Realität von Hanau sich wie ein Schleier aus Tod und Leid auf das Leben vieler Menschen legt?

Doch ganz allein mit meinen Gedanken will ich nicht sein. Also höre ich Musik, das funktioniert noch am besten, wenn ich so taub bin. Es sind harmlose, italienische Balladen und Pop-Songs, darunter Un anno d’amore (zu Deutsch: Ein Jahr der Liebe) von Mina, ein Klassiker aus dem Jahre 1964. Im Refrain heißt es:

Ricorderai
I tuoi giorni felici
Ricorderai
Tutti quanti i miei baci

Also: Erinnere dich an deine glücklichen Tage, erinnere dich an all meine Küsse. Na gut, denke ich, und versuche mich daran zu erinnern, dass mein Körper, der geht und spricht, tatsächlich lebendig ist, im Stande, Zärtlichkeit zu erfahren. Irgendwann, ich glaube am vierten Tag, steigt mir das Ganze jedoch zu Kopf. Ich stehe an der Bushaltestelle und singe inbrünstig Ricorderaaaaai und fühle mich verlassen, auch im romantischen Sinne, obwohl ich nicht verlassen wurde und romantisch bin ich schon gar nicht. Also setze ich dem ein Ende und beginne anatolische Volkslieder zu hören, Ağlama yar, ağlama anam heißt eins auf Türkisch, in deutscher Übersetzung: Weine nicht, Geliebte:r, weine nicht, Mutter. Dabei muss ich ständig an meine Mutter denken, die nach dem Anschlag in Hanau am Telefon weinte, und da packt mich das Bedürfnis mich mit dem Gesicht voran auf den Potsdamer Platz fallen und von Tourist:innen niedertrampeln zu lassen. Schließlich lass ich’s mit der Musik.

Einige Tage später, seit dem Anschlag ist mehr als eine Woche vergangen, liege ich abends im Bett. Meine Augen fixieren einen dunkelblauen Buchumschlag, der unter einer Schlafmaske und Tablettenpackungen hervorblitzt. Tu es jetzt, sag ich mir, trau dich. Ich greife zu. Mein Pech, es ist die Bibel. Ich schlage das Buch an einer zufälligen Stelle auf: Seite 619, 83. Psalm, Gebet um Beistand wider die Feinde Israels. Ich lese diese Zeilen:

„1. Ein Psalmlied Asaphs. 2. Gott, schweige doch nicht also und sei doch nicht so still; Gott, halt doch nicht so inne. 3. Denn siehe, deine Feinde toben, und die dich hassen, richten den Kopf auf. 4. Sie machen listige Anschläge wider dein Volk und ratschlagen wider deine Verborgenen […]“

Ich lache irritiert auf. Was für ein Zufall. Was fange ich nun mit ihm an? Ich würde ihn gerne für diesen Text in eine logische Erzählung eingliedern, mit einer Pointe glänzen, damit Sie als Lesende und ich als Schreibende uns mit einem gesättigten Gefühl von diesen Zeilen verabschieden können, und ich Ihnen vielleicht doch noch ein schönes Buch empfehle. Aber ich bin ratlos, weil dieser sogenannte Gott nach Hanau schweigt. Weil so viele Menschen schweigen. Und mit ihnen die Bücher.

Photo by Artem Gavrysh on Unsplash

Kulturkonsum 1/20

Wir starten eine neue Rubrik! Unter dem Titel “Kulturkonsum” werden wir einmal im Monat gemeinsam mit ausgewählten Beiträger*innen in Kurzrezensionen vorstellen, was wir in den letzten Wochen gelesen, gehört, gespielt oder geschaut haben. Ein Versuch in den dichten Wald aus Literatur, Musik, Filmen, Serien und Spielen eine kleine Schneise aus Empfehlungen und Warnungen zu schlagen.

Johannes Franzen (@johannes42)

Ich lese gerade jeden Abend in Roger Eberts Sammlung von negativen Filmbesprechungen: I Hated, Hated, Hated This Movie. Ebert war einer der berühmtesten und mächtigsten Filmkritiker der USA, und ich hoffe, diese Information legitimiert irgendwie die Tatsache, dass ich offenbar ein Leser bin, der gerne vor dem Einschlafen Verrisse liest. Dann wiederum ist Ebert ein Meister der Pointe, von dem man viel lernen kann, gerade, weil er sich dem eigenen Ekel vor dem ästhetischen Versagen dieser Filme mit einer gewissen Begeisterung nähert. Hier nur zwei Zitate: “Bad films are easy to make, but a film as unpleasant as Baby Geniuses achieves a kind of grandeur.” Oder: “Horrible movies like this sometimes have a chance of working, in a perverse way, if they bring energy and style to the screen.” Die meisten Filme in diesem Buch sind C-Movie-Blödsinn, der aber ernsthaft rezensiert wird, wie jeder andere Film auch. Fast noch weniger Geduld hat Ebert aber für prätentiöses Kunstkino. Über Jim Jarmuschs Indie-Darling Dead Man heißt es: “Dead Man is a strange, slow, unrewarding movie that provides us with more time to think about its meaning than with meaning.” Ein Satz, der viele meiner köchelnden Ressentiments, die ich gegen diesen Film und seinen Macher lange gehegt habe, endlich auf den Punkt bringt. Zuweilen ist Ebert mit seinen Urteilen zu schnell und grobschlächtig; aber insgesamt ist es immer ein Spaß, ihn zu lesen. Die Besprechungen sind übrigens alle online, und ergeben in ihrer Masse ein veritables Archiv der Filmgeschichte seit den 1970er Jahren.

 

Berit Glanz (@beritmiriam):

Ich habe mir endlich Katamari Damacy Reroll für die Nintendo Switch gekauft, kann aber nur spät abends spielen, weil die Nintendo Switch meinem Kind gehört. Das Spiel hat mich ungefähr 2005 auf der PS2 sehr fasziniert, ich habe sogar eine Zeitlang den Soundtrack rauf und runter gehört. Die Idee, dass man mit einem kleinen Ball (der Katamari), an dem Dinge hängen bleiben, durch die Welt rollt, der Katamari dann größer und größer wird und immer mehr Gegenstände – irgendwann auch Tiere, Autos, Gebäude – aufrollen kann, war so wunderbar absurd. Erst später habe ich gemerkt, dass der Katamari die schönste Metapher für individuelle Lernprozesse ist: Man fängt an mit Büroklammern und Papierschnipseln und arbeitet sich immer weiter vor, bis man irgendwann Riesenräder und Ozeanriesen einrollen kann. Die Steuerung mit der Nintendo Switch ist mir noch etwas fremd, aber ich rolle gerade munter meinen Katamari durch die Straßen, was sich ziemlich beruhigend anfühlt – sehr empfehlenswert!

Christina Dongowski (@tinido):

Ich verfolge seit ein paar Monaten den Plan, mir das Werk Agatha Christie als einer der bedeutenden Autorinnen der literarischen Moderne zu erschließen – und dazu den Romanzyklus Pilgrimage der (in nicht-spezialisierten Leser*innenkreisen leider immernoch ziemlich vergessenen) Mutter der literarischen Moderne, Dorothy Richardson, parallel zu lesen. In Pilgrimage bin ich erst ganz am Anfang (Handlungszeitpunkt jetzt ca. 1910ff): Miriam ist als Lehrerin in ein Mädchen-Internat nach Hannover gegangen – ihre erste Stelle! eigenes Geld! Selbstständigkeit! – und fühlt sich da von der englischen Konventionalität sehr befreit. Ein ziemlich interessante Leseerfahrung, nicht nur wegen des besonderen fließenden Stils Richardson, sondern weil da ganz glaubwürdig das Deutschland Wilhelm Zwos als fortschrittlich und vor allem frauen-fördernd beschrieben wird. 

Christie höre ich momentan vorwiegend. Gerade ist A Murder is Announced dran – ein Miss Marple-Roman. Ich lasse es mir von Joan Hickson vorlesen, der von Agatha Christie selbst als Miss Marple gewünschten Schauspielerin. Eine ganz großartige Einführung in die Welt der Queens of Crime und aktuelle kulturwissenschaftliche Forschung dazu ist der Shedunnit-Podcast von Caroline Crampton. Über sie habe ich auch die Krimis von Gladys Mitchell kennengelernt. Philipp Larkin liebte die sehr, was für ihn spricht. Ich habe gleich zwei davon in wenigen Tagen verschlungen. 

Ein richtiger Augenöffner für mich, im wahrsten Sinne, – und das obwohl ich Angelika Kauffmann schon ganz gut zu kennen glaubte –, ist die große Ausstellung, die ihr gerade der Kunstpalast Düsseldorf ausrichtet. Kauffmann war die berühmteste Malerin des 18. Jahrhunderts (inkl. eigener Fan-Artikel, die auch ausgestellt werden). Die Ausstellung zeigt, dass sie nicht nur als Freak angesehen wurde (eine nicht untypische Rolle für geniale Künstlerinnen), sondern als Maler anerkannt war. Die These der Ausstellung, Kauffmann habe eine eigene Konzeption der Malerei als weiblicher Kunst entwickelt, vor allem in der Darstellung von Heldinnen, lässt sich sehr gut nachvollziehen. Wenn Ihr in der Nähe von Düsseldorf seid, geht hin: It’s a treat – intellektuell, ästhetisch und vom Ausstellungsdesign. Die Ausstellung läuft noch bis 24. Mai.

Simon Sahner (@samsonshirne)

Ich habe im letzten Monat zwei Romane gelesen, die auf sehr unterschiedliche Art das Thema BDSM behandeln. Leona Stahlmann schreibt in ihrem Debüt Der Defekt (Kein & Aber) in der Struktur einer klassischen Coming-of-Age-Story über das Aufwachsen und das langsame Entdecken der eigenen Sexualität in einem Schwarzwalddorf. Die amerikanische Autorin Saskia Vogel erzählt in Permission (Secession) von einer jungen Frau, die im überhitzten Kalifornien um ihren verunglückten Vater trauert und ihre Balance wieder erlangt, als sie anfängt die Mitarbeiterin einer professionellen Domina zu werden. 

Der Defekt ist ein Heimatroman Widerwillen, beinahe mystisch verschränkt die Autorin die Natur der dichten Wälder in Süddeutschland mit körperlichen Ausnahmesituationen zur Lustempfindung. Auch wenn das Leben mit einem vermeintlichen Defekt in einer Dorfgemeinschaft überzeugend geschildert ist, liegt der Fokus für mein Empfinden zu sehr auf einer naturmystischen Überhöhung – ich hatte manchmal Bilder im Kopf, die an Filmszenen aus Lars von Triers Antichrist erinnerten (siehe den #leseköpfe-Text). 

Vogels Erzählen hingegen flirrt im Hitzenebel der heißen kalifornischen Nachmittage. Die Trauer um den Vater, dröhnender Autoverkehr auf den verschlungen Straßen und der flimmernde Pazifik bauen eine entropische Kulisse auf und irgendwo in all dem, in einer kleinen sauberen Siedlung, kommen Männer zu einer Frau, um sich unterwerfen zu lassen und Schmerz zu erfahren. In einem somnambulen, beizeiten auch trägen Ton cruist der Roman durch diese Stimmung – mir hat es gefallen. (Anmerkung: Ich habe ihn auf englisch gelesen) 

Interessant ist, dass beide Romane trotz ihrer großen Unterschiede den Schmerz als klärend und reinigend beschreiben.

Tilman Winterling (@fiftyfourbooks)

Rolf Dobelli hat mit seinen Büchern “Die Kunst des …” Mega-Bestseller produziert. Das Prinzip war so einfach wie genial: im unterhaltsamem Anekdotenton wurden Probleme aus dem Alltag geschildert und dann kognitions- oder sozialpsychologisch erklärt. Ständig hat sich der Lesende ertappt gefühlt, sich fröhlich an den Kopf gefasst, “haha, das kenn ich” gedacht und macht weiter wie bisher.

Trotz der Kunst des klaren Denkens, klaren Handelns und guten Lebens bleibt die Welt wahrscheinlich wie sie ist. Ein größerer Effekt auf die Gesellschaft ist “Sprache und Sein” von Kübra Gümüşay zu wünschen (wobei ich natürlich nicht ausschließen mag, dass Dobelli durchaus manche Leben bereichert hat). Die Lektüre führte bei mir zu vielen Einsichten, die durch das schlichte Wechseln der Perspektive hervorgerufen wurden. Die Effekte sind dabei manchmal so einfach erzeugt wie bei Dobelli: der beschriebene Angriff auf eine Frau mit Kopftuch erfolgte nicht wegen des Kopftuchs, sondern weil der Angreifer ein Rassist ist.

Photo by nrd on Unsplash

“Die abgeschnittene Person” – Autofiktion in den sozialen Medien

(Dieser Text ist in leicht abgänderter Form als Nachwort für Sarah Bergers bitte öffnet den Vorhang: @milch_honig 2019–2009 verfasst worden)

Arbeitstitel des Romans, von dem ich behaupte, ich würde ihn schreiben, den ich aber nicht schreiben kann, weil mich langes Erzählen langweilt: Die abgeschnittene Person.“ So schreibt Sarah Berger in Textfragment 503 von bitte öffnet den Vorhang. Das Label “Roman” wird mit langem erzählerischen Atem assoziiert, es ist in dieser Textstelle aber nur noch eine vorgeschobene Behauptung, unzeitgemäß und langweilig. Dieser kurze Ausschnitt verdeutlicht den erheblichen Wandel, dem der Literaturbetrieb gerade unterliegt – eine turbulente Situation, die sich nicht nur durch die verstärkte Medienkonkurrenz erklären lässt, in der literarischer Texte gegenwärtig stehen. Viele dieser Veränderungen stehen in enger Verbindung mit dem drastischen Wandel unseres Lese- und Schreibverhaltens aufgrund der Digitalisierung. Auch wenn es mittlerweile ein Allgemeinplatz ist, lohnt es sich immer wieder zu betonen, dass Menschen nicht weniger als früher lesen, sondern nur anders und an anderen Orten. Aber wie verändert sich das Schreiben oder – noch spezifischer – das Erzählen in Zeiten sozialer Medien? Wie nehmen Schreib- und Lesegewohnheiten im Internet Einfluss auf die Literatur und das Erzählen selbst?

Menschen lesen in unserer digitalisierten Gesellschaft weiterhin, auch wenn sie insgesamt weniger Bücher kaufen, in denen ihnen von imaginierten Welten berichtet wird. Wir erzählen unablässig, ob es der kurze Bericht über den lustigen Hund in der Bäckerei ist, eine berührende Kindheitserinnerung oder eine nachdenkliche Geschichte, die unsere Einstellung zu einem bestimmten Thema verdeutlichen soll. Dieses Erzählbedürfnis lässt sich auch in unserem Onlineverhalten wiederfinden. Die sozialen Medien werden mit ständigen Narrativierungen des Selbst bespielt – Selbstvergewisserung der eigenen Individualität durch Statusmeldungen. Mediales Kennzeichen dieser erzählerischen Verfahren ist oft eine Rückbindung des Erzählten an die Person des Erzählenden, deren Person eng mit dem Text verknüpft wird. Hierbei entsteht ein Rezeptionsmodus, der nicht mehr klar zwischen Text und Autorin einerseits und Fakt und Fiktion andererseits trennt – eine im Internet eingeübte Art und Weise mit Texten umzugehen, die wiederum direkten Einfluss auf die Literatur hat. Gegenwärtig befinden wir uns also mitten in den Wirren eines gravierenden epistemologischen Wandels, der unser Verhältnis zu den Kategorien Fakt und Fiktion betrifft.

Sarah Berger, Autorin bei Frohmann Verlag und Sukultur

Der große Erfolg autofiktionaler Texte der letzten Jahre kann so auch als Konsequenz der Tendenz verstanden werden, Schreibende und Werk immer enger miteinander zu verknüpfen. Das Kofferwort ‚Autofiktion‘ setzt sich aus Autobiographie und Fiktion zusammen und zeigt so bereits auf der Wortebene, dass faktual erzählte Autobiographie mit erdachten Elementen verwoben wird, bis es für die Lesenden unmöglich ist zu unterscheiden, wo Fiktion anfängt und Fakt aufhört. Ob uns nun Karl Ove Knausgård mit detaillierten Schilderungen seines Stuhlgangs im Wald erfreut oder Édouard Louis uns am Sexleben seiner Eltern teilhaben lässt – der literarische Blick seziert intimste Details und schreckt auch vor der Bloßstellung engster Angehöriger nicht zurück. Das faktual Belegbare liegt im Trend, wie es Sarah Berger in einer Anekdote präzise formuliert:

„Immer wieder nehme ich an Lesungen teil, bei denen die Autor_innen damit prahlen, dass das, was sie gleich vorlesen werden, genau so passiert sei. Sie prahlen, sich die Geschichte nicht ausgedacht zu haben. Sie betonen die Faktizität als eine besondere Qualität des Textes. Ein_e Autor_in entschuldigt sich sogar, dass die Texte fiktional seien und nicht auf wahren Begebenheiten beruhen.“ (Textfragment 429)

Wenn nun aber die Autofiktion als Erzählverfahren den Rezeptionsmodi der sozialen Medien besonders gut entspricht, ist dann das Internet nicht ein besonders passender Ort für autofiktionale Literaturexperimente? Tatsächlich bespielt die Autorin Sarah Berger bereits seit vielen Jahren verschiedene sozialmediale Formate mit ihren autofiktionalen Fragmenten. Aus diesen zunächst im Internet  veröffentlichten Texten entstand das 2017 im Frohmann Verlag veröffentlichte Buch Match Deleted: Tinder Shorts, das unter anderem aus kurzen Chatpassagen in Dating Apps besteht, die zwischen tragikomischer Absurdität und philosophischer Tiefenbohrung changieren. Bereits in ihrem ersten Buch verwendet Sarah Berger also die digitalen Formate der Selbsterzählung, in diesem Falle die narrative Erschaffung einer attraktiven Persönlichkeit beim Online-Dating, und führt diese ad absurdum, wenn die Chats immer wieder aus dem Ruder laufen oder die Kommunikation krachend scheitert. Damit eignet sie sich einerseits ein marktorientiertes Erzählverfahren der Selbstanpreisung an und unterläuft es andererseits, indem sie immer wieder den Freiheitsraum ausmisst, den sich das Individuum im digitalen Erzählraum erkämpfen kann.

In Sarah Bergers zweitem Buch versammeln sich nun erneut autofiktionale Textfragmente der letzten Jahre, die ebenfalls Erzählmodi der sozialen Medien aufgreifen und so immer wieder vor Augen führen, wie sozialmediales Erzählen mittlerweile unsere Wahrnehmung prägt. In den kurzen Texten geht es um sexuelle Grenzerfahrungen, Drogenkonsum, Freundschaft und Einsamkeit und immer wieder wird das Erzählen selbst zum Reflexionsgegenstand. Interessanterweise widmet sich die Autorin in vielen ihrer Fragmente der vermeintlich letzten Bastion von Authentizität: dem Körper. Die schonungslos offenen Texte entwickeln ihre radikale Widerstandskraft, gerade weil sie sich so fundamental gegen die idealisierende Ästhetik vieler sozialer Medien richten, gegen die Zurichtung des eigenen Körpers als Werbungsvehikel.

Was können unsere Körper in Zeiten sozialmedialer Selbstnarrativierung erzählen? Sarah Berger zieht sich hierbei nicht auf einen Authentizitätseffekt des Körperlichen zurück, wie es beispielsweise Knausgård immer wieder tut, etwa wenn Körperausscheidungen detailliert thematisiert werden. Stattdessen entzieht sie dieser idealisierten Vorstellung des Körpers als letzter Bastion des Realen den Boden. Denn obwohl sie in Fragment 470 schreibt, dass ihr Körper alles für sie entscheidet, können wir der autofiktionalen Erzählinstanz doch kein Vertrauen schenken, müssen beim Lesen des Buches und der Betrachtung der im Buch enthaltenen Fotografien akzeptieren, dass besonders der weiblich gelesene Körper im Patriarchat verschiedensten Projektionen unterliegt.

Gerade die bewusste performative Selbstinszenierung ermöglicht dem Individuum Freiheitsräume. So zeigt Sarah Berger mit ihren Erzählverfahren, die an das fragmentarische Selbstnarrativieren in den sozialen Medien angelehnt sind, dass Authentizität immer nur ein Spiel mit Authentizitätseffekten ist, die wie Instagramfilter über das Erzählte gelegt werden können.

„Du findest doch Authentizität so geil. So verdammt geil. So ein echter Mensch ist so geil, geil, geil. WTF! Ich habe noch nie einen echten Menschen gesehen; schon gar nicht hier in Unbenannt 3 OpenOffice.org Writer. Wo ist denn dieser echte Mensch? Die Sarah schreibt schon wieder einen Text. Die echte Sarah schreibt schon wieder einen Text. Bist du echt? Echt!“ (Textfragment 434)

Wie(so) Hölderlin feiern?

von Andrea Geier

 

„Was bleibet aber, stiften die Dichter“ – eine Zeile wie geschaffen für Festreden zum Hölderlin-Jubiläumsjahr. Doch wer feiert wen, wenn Hölderlin gefeiert wird? Stiften, was bleibet, wirklich die Dichter oder sind es eher diejenigen, die sie feiern?

In den vergangenen Jahrzehnten wurden die 200. und 250. Jubiläen von Goethe, Schiller, Heine, Wieland und Droste-Hülshoff gefeiert. Zum 200. Geburtstag Fontanes im letzten Jahr bekamen Ausstellungen und Neuerscheinungen einige Aufmerksamkeit.
Bei Literaturwissenschaftler*innen, die weniger literaturbetriebsaffin sind, mag es immer noch leises Grollen hervorrufen, dass man solche Anlässe benötigt, damit eine breitere Öffentlichkeit etwas mehr über die Existenz des wertgeschätzten Gegenstandes erfährt. Die meisten sehen es aber pragmatisch. Jubiläen sind eine der ältesten Formen der Eventisierung von Literatur. In Zeiten der Medienkonkurrenz ist das notwendig, und wenn es gut läuft, geht es sogar manchmal um literarische Texte und deren Interpretationen.

„Komm! ins Offene, Freund!“

Was dürfen wir von hoelderlin-2020.de erwarten? Mehrere hundert Veranstaltungen kann man auf einem Kalender der Homepage finden, zusammen mit der Aufforderung, bitte den Hashtag #Hoelderlin2020 zu verwenden (#Hölderlin2020 funktioniert selbstverständlich auch). Literaturinteressierte dürfen sich auf das neue Ausstellungskonzept im Tübinger Hölderlinturm und auf die Ausstellung „Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie“ im Deutschen Literaturarchiv Marbach freuen. Lesungen knüpfen locker an die Rezeption und das literarische Nachleben an. Es gibt eine Ausstellung mit Fotografien von Barbara Klemm, einen Umzug und mehr an Musik, als man erwarten würde – wie etwa ein Hölder betiteltes „Rock-Musical“. Auf dem Plakat prangt der in diesem Zusammenhang mutig verwendete Vers „Komm! ins Offene, Freund!“, den wiederum der SWR möglicherweise zu wörtlich genommen hat, wenn er einige Autor*innen mit Denis Scheck in einem Oldtimer herumfahren lässt. Im Trailer zu Mein Hölderlin. Eine Reise nach Bordeaux erklärt der Literaturkritiker, dass das Werk „quicklebendig“ sei und man nirgendwo „größere Ermutigung“ finden könne. 

Man sieht die überaus bunte Mischung in den Ankündigungen und fragt sich: Sind Jubiläen Anlässe, einer*m Autor*in mehr Aufmerksamkeit zu schenken? Oder werden eher Autor*innen in Beschlag genommen, um irgendwie Programm zu machen? Menschen machen in der Konsumkultur was mit Dingen. Literatur ist auch Unterhaltung. Das stimmt. Aber dann taucht doch noch die Frage auf, wie unterhaltsam eigentlich Hölderlin ist.

Der Deutschlandfunk brachte am 15. Februar einen informativen Bericht über das neue Ausstellungskonzept des Tübinger Hölderlinturms, der mit dem Satz endet: „Wer oben im leeren Rundzimmer des Turms steht, kann den Gemütszustand des einsamen Dichters nachempfinden.“ Wer wollte hoffen, dass sich dort jemand fühlt wie Hölderlin, für dessen „Gemütszustand“ Begriffe wie ‚geistig umnachtet’, ‚verfinstert’ nach einem ‚psychischen Kollaps’ und ‚wahnsinnig’ benutzt werden? Da sich die Einsamkeit in den 36 Lebensjahren im Turm davon nicht so recht trennen lassen dürfte, möchte man von einer zu starken Einfühlung abraten. Ähnlich deplatziert wirkt die Rede vom ‚poetischen Sehnsuchtsort‘. Wer sehnt sich hier wonach? Muss man dem Dichter in dieser Weise näherkommen, um einen Zugang zu seinen Texten zu finden?

#FreizeitOhneAuto und #weareGermany

Diese Beispiele zeigen: Der Umgang mit der Aura eines Autors birgt offensichtlich Tücken. Die ehrlichste, wenn auch nicht weniger seltsame Form, die Biografie eines Autors zu nutzen, dürfte dann auch die touristische sein. Dass die S-Bahn Stuttgart den Hashtag #FreizeitOhneAuto mit einem Hinweis auf Hölderlin verknüpfte, wirkte allerdings arg kurios. Der Twitter-Account Urlaubsland BW lockte mit dem Spruch „auf den Spuren eines Dichters zwischen Genie und Wahnsinn“. Und warum nicht eine Tour zum Lauffener Geburtshaus und zu weiteren Hölderlin-Erinnerungsorten planen? Zum Beispiel nach Tübingen. Die Touristeninfo verbindet allerdings die Information, dass Hölderlin „die 2. Hälfte seines Lebens in Tübingen“ verbrachte, mit einem Hashtag, der für manche Leser*innen auf weniger willkommene Weise einschlägig erscheinen könnte: #weareGermany. Die Verfasserin dieser Zeilen zügelte ihren Impuls zu kommentieren ‚Heidegger hätte das gefallen’. Nicht, weil es sich bei Heideggers Hölderlin-Lektüren um eine nationalistische Selbstfeier handelt, sondern weil sie einer von vielen Anlässen sind, eine vielschichtige Rezeptionsgeschichte von Hölderlin als ‚Kulturgut’ zu thematisieren.

Eine wichtige Frage in diesem Kontext lautet auch immer: Was sagen denn die Politiker*innen? Sieht man Jubiläen als Chance, Aufmerksamkeit für den Gegenstand Literatur zu erzeugen, kommt diesen Akteur*innen eine wichtige Rolle zu. Die Erwartung ist nicht, dass sie alle eine besondere fachliche Kompetenz als Vermittler*innen des kulturellen Erbes besäßen – die sollten sie sich vor allem für ihre Reden besorgen. Es geht schlicht darum, dass über Veranstaltungen mit Prominenz berichtet wird. Bei der Auftaktveranstaltung am 15. Februar sprach neben dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer und Kulturstaatsministerin Monika Grütters der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

Letzterer lobte die Sinnlichkeit und Rhythmik der Gedichte und erwähnte, wie viele verschiedene Menschen von Hölderlin fasziniert waren, nur um dann einseitig eine transformatorische Kraft der Literatur zu loben und über die ‚hoffnungsvolle‘ Seite von Hölderlin zu schwärmen. Mehr Rezeptionsgeschichte wagen, möchte man da rufen, denn nur so entsteht ein Bewusstsein dafür, wie wir uns heute noch unsere Dichterbilder schaffen. Die Hölderlin-Mythen sind Legion. Von Hölderlin-Versen in soldatischen Tornistern und nationalsozialistischer Vereinnahmung kann man ebenso viel wissen wie von einer zweifelhaften Bewunderung für die ‚Zerrissenheit‘ Hölderlins, einer Verehrung des ‚genialisch Wahnsinnigen‘.

Wirkmächtiger Kulturbotschafter und glaubwürdiger Kronzeuge

Stattdessen stößt man zufällig im Twitter-Account des Literaturarchivs Marbach auf den Slogan „Vom Elfenbeinturm in die Welt“ als Zitat von Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Man klickt verblüfft auf die Pressemitteilung und liest: „Er, der Deutschland kaum verlassen hat und die zweite Hälfte des Lebens in einem Tübinger Turm – im sprichwörtlichen Elfenbeinturm! – verbrachte, war dichtend ein Kosmopolit: unterwegs vor allem in Griechenland, aber auch in Asien, ja auf der ganzen Welt“. Da möchte man einiges aufdröseln: Über Griechenland als Projektionsfläche sprechen, fragen, was „Asien“ meint, wie der Autor im Turm gedanklich „unterwegs“ war und nicht zuletzt, was das mit dem sprichwörtlichen “Elfenbeinturm” zu tun hat, der für gewöhnlich in Reden von Politiker*innen auftaucht, wenn es um die Rolle der Universitäten und Wissenschaftskommunikation geht. 

Dass mit einem kosmopolitischen Hölderlin geworben wird, ist als Weltbild sympathisch, nur wäre es nicht die kleine Anstrengung wert, Auskunft darüber zu geben, wie dieses Bild zustande kommt? Der völkisch und nationalsozialistisch vereinnahmte Hölderlin ist nur eine Seite der Rezeption, doch genau dieser stellt man ja den Kosmopoliten Hölderlin entgegen. Die Frage, welche Werke oder auch nur welche Aspekte einzelner Texte welche Lesarten eher befördern als andere, passt offenbar nicht ins Konzept.

Fehlt es am Mut zur Ambivalenz oder wird gar nicht gesehen, dass man mit entweder-oder-Bildern vorsichtiger umgehen sollte? „Hölderlin bleibt wirkmächtiger Kulturbotschafter und glaubwürdiger Kronzeuge für die wechselseitige Inspiration unterschiedlicher Kulturen.“ Das klingt wunderbar, nur: Wie hat der Hölder das gemacht? Über welche Art von „Kosmopolitismus“ sprechen wir im historischen Rahmen und was meinen wir heute? Welche „wechselseitige Inspiration unterschiedlicher Kulturen“ schwebt uns vor? Wer ein Bild des zukunftsweisenden Hölderlin zeichnet, sollte schon etwas mehr bieten als allzu simple Bilder wie den Gegensatz von geistiger Freiheit und räumlicher Enge im Turm.

Nichts gegen Hölderlin-Umzüge für Kinder oder Musicals! Doch in ihren programmatischen Teilen wie Eröffnungen, Presseerklärungen u.a.m. sollten Jubiläen auch ein Anlass sein, über den Umgang mit dem kulturellen Erbe zu sprechen. Stattdessen dienen Jubiläen im Jahr 2020 offenbar dem Sich-Selbst-Feiern in einer althergebrachten bildungsbürgerlichen Manier. Man will verehren und huldigen. Dazu braucht es einen Autor, der es wert ist. Der höchstens einmal missverstanden wurde. Das lässt sich mit Hölderlin schon machen. Nur: In dieser Logik dürfen eben nicht alle historisch bedeutenden Autor*innen anlässlich runder Jubiläen mit mehr Aufmerksamkeit bedacht werden, sondern nur diejenigen, die man einigermaßen plausibel mit einem positiven Spin für die Gegenwart anpreisen kann. Und das ist ein Problem für die Erinnerungskultur.

Begeistert und skeptisch, feiernd und kritisch

„Hälfte des Lebens“ findet man in Anthologien, die angeblich die Lieblingsgedichte der Deutschen enthalten, doch Hölderlins Werk insgesamt hat durchaus den Ruf, „sperrig und hermetisch“ zu sein. Das ist ein Charakteristikum, kein zu beseitigender Makel. Wenn Theresia Bauer auf Twitter schreibt: „Staatssekretärin Petra #Olschowski ist sicher: Das Jubiläumsjahr zum 250. Geburtstag bietet Chancen, auch die jüngere Generation für das Werk Hölderlins zu begeistern“, klingt das erfreulich. Doch selbst wenn im Jubiläumsjahr mehr von Hölderlin gelesen würde: Wieso sollte Begeisterung das Ziel sein? Schüler*innen sollen sich für das Lesen begeistern, ja. Wieso für Hölderlin? Weil man kulturelles Erbe oder #weareGermany sagen kann? Oder hofft man gar auf einen “Fack ju Hölderlin”-Hype? 

Nirgends zeigt sich die Hilflosigkeit im Umgang mit diesem Gegenstand Literatur klarer als bei runden Jahrestagen. Als Literaturwissenschaftler*in kann man dankbar für die Aufmerksamkeit und das ein oder andere Häppchen bei Empfängen mitnehmen. Noch schöner aber wäre es, wenn im weiteren Jubiläumsjahr auch über unseren Blick auf Hölderlins Werk gesprochen würde. Begeistert und skeptisch, feiernd und kritisch. 

 

Photo by Seyedeh Hamideh Kazemi on Unsplash

 

Falsche Empathie – “Queen July” und die Debatte um “American Dirt”

von Marcel Inhoff

Der Anthropologe James Clifford beschreibt in Returns: Becoming Indigenous in the Twentieth Century unseren aktuellen zivilisatorischen Moment. Es ist der Zeitpunkt, da die Fliehkräfte von Dekolonisation und Globalisierung ein Projekt angestoßen haben, das noch unvollendet, aber letztlich irreversibel ist. Es wird die Beziehungen der Menschen zu Heimat, Reisen und Flucht grundlegend verändern. Hatte Clifford im vorherigen Werk Routes noch die Bewegungen von Menschen an sich im Blick, reisende Kulturen und vieles mehr, so widmet er sich nun der Dezentralisierung westlicher Narrative – und speziell dem Aufkommen starken indigenen Handelns.

Ein besonderer Moment also, der von uns allen, aber vor allem auch von Autor*innen literarischer Werke, eine spezielle Achtsamkeit in Bezug darauf verlangt, wie man mit der Beschreibung der Welt umgeht. In diesen kulturellen Moment tritt nun, forsch und fröhlich, Philipp Stadelmaier. Sein Debutroman Queen July, im August 2019 erschienen, liest sich im Zusammenhang mit Cliffords Thesen wie eine direkte Zurückweisung. Denn auch bei Stadelmaier gibt es die Themen Dekolonisation und Globalisierung, die den Hintergrund der Handlung bestimmen. Diese kreist um zwei Schwarze französische Frauen, die nach ihrem Universitätsabschluss das Leben typischer young global professionals führen – July und Aziza. Aber drumherum? Alles westliches Narrativ.

Im Wesentlichen dreht sich der Roman um eine Liebesgeschichte, die Aziza an einem heißen Tag in Paris ihrer Freundin July erzählt: July in einer Badewanne voll kalten Wassers, Burgunder „nippend,“ Aziza daneben. So stellt sich Stadelmaier das Leben junger Frauen vor. Überhaupt wird in diesem Roman viel genippt. Die Phrase „und nippte ihr [Getränk]“ kommt häufig vor – wobei July ihrem Autor nicht zustimmt. Auf die Frage ihrer Freundin, ob sie das häufiger mache, [i]n der Wanne chillen und vom Burgunder nippen?“ antwortet July: „Nippen würde ich das nicht nennen, Honey. Das kann man schon als ehrliches Trinken bezeichnen.“ „Honey“ muss sein, denn Stadelmaier, der selbst jungen Alters ist, konstruiert in seinem Text einen Jugendslang geradewegs aus der Vorratskammer alter Männer, die über die Jugend schreiben. Aber dazu später mehr.

Die Liebesgeschichte, von Aziza ihrer Freundin July erzählt, ist das entscheidende Element des Romans. Persönliche Hintergründe der Figuren sind weitgehend nur Hintergrundfarbe. Der Roman nimmt zwar Themen, wie sie in Texten wie dem von Clifford umgehen, auf, aber man sieht sie wie in einem Zerrspiegel, aus Sicht eines Autors, der seine eigene Sicht kaum reflektiert. Da ist zum Beispiel die Globalisierung: July ist Ingenieurin, und kommt gerade von einer Großbaustelle in Portugal zurück. Aziza, Anästhesistin, ging nach dem Studium nach Afrika, um dort in einem Krankenhaus zu arbeiten. Es ist aber nicht irgendein afrikanisches Land – sondern Dschibuti, „die Heimat von Azizas Mutter“ – Stadelmaier streut diese Verwandtschaftsbeziehungen hier und da ein – July hat Verwandtschaft in Tel Aviv und Dakar, Azizas Vater kommt aus Kamerun – aber es scheint keine Rolle zu spielen, was das für die Figuren bedeutet. Da könnte auch Kopenhagen und Kaufbeuren stehen, und es hätte nicht mehr erzählerisches Gewicht für den Roman. Schon auf der ersten Seite wird klar, dass Afrika, als Teilschauplatz der Erzählung, sekundär ist. Sogar die Tatsache, dass Aziza in der Heimat ihrer Familie arbeitet, wo aber kaum noch jemand lebt, da fast alle schon ausgewandert sind, ist eine Erwähnung aber keinen Gedanken wert.

Bei Clifford steht die Forderung, westliche Narrative beiseite zu legen und anderen Stimmen zuzuhören. Damit schließt er auch an Denker wie Dipesh Chakrabarty an, der in Provincializing Europe festgestellt hatte, wie komplex und unaufhaltsam die Dezentralisierung westlichen Denkens ist. Und wie bei dem Verhältnis zur Globalisierung scheint auch Chakrabartys Idee hier wie in einem Zerrspiegel aufzutauchen – die Gleichzeitigkeit der Ideengeschichte und das umgekehrte Feedback zwischen den ehemaligen Kolonien und Europa findet sich auch in Queen July wieder, aber mit einem deutlich reaktionären Drall: Aziza fühlt sich in Paris „als sei sie immer noch in Dschibuti“ – aber nicht wegen eines komplizierten Verhältnisses zu Afrika – sondern weil sie schon in Dschibuti ausschließlich an Paris und ihre Liebesgeschichte gedacht hatte, und jetzt immer noch daran denkt, die Sehnsucht nach Paris also aus Afrika nach Paris mitgebracht hat. Der Roman konstruiert Figuren, deren Hintergründe eine spannende Geschichte erlauben würden, und kleistert alles mit einer banalen Liebesgeschichte zu, die so nach Schema F gebaut ist, dass man unwillkürlich überlegt, ob man nicht schon eine Geschichte mit exakt derselben Konstellation gelesen hat. Afrika ist nur irgendein Ort, wo Aziza sich (natürlich) vor der Liebe versteckt, denn sie hat sich (natürlich) verliebt in einen weißen Mann; ein (natürlich) unzuverlässiger Kerl, dessen Name, Anselm Strehler, deutscher nicht sein könnte. Um diese Geschichte unglücklicher Liebe zu einem Mann mit schwarzen lockigen Haaren und deutscher Abstammung, der in Frankreich lebt und arbeitet, mit, man möchte sagen: Pepp, aufzuladen und politischer Relevanz, hat der deutsche Autor seinen Figuren einen postkolonial komplexen Hintergrund gegeben – der ihm sonst aber weitgehend egal ist.

Wobei – egal ist nicht richtig. Der Roman scheint kaum damit beschäftigt, was es für die Personen bedeuten könnte, Schwarz zu sein. Tatsächlich ist es im Kontext seines noch jungen Werkes klar, dass sich Stadelmaier mit dem Schreiben über Schwarze Menschen ungemein wohl fühlt. In seinem Essay über die Anschläge von Paris, Die Mittleren Regionen kritisiert er den rechten Diskurs zum Thema Meinungsfreiheit und fühlt sich dabei bemüßigt, seitenlang sarkastisch rassistische Meinungen anzuführen, mit einer Offenheit und Leichtigkeit, die schon bemerkenswert ist, vor allem, da er dabei auch ohne zu Zögern das N-Wort benutzt (nicht in einem Zitat, nicht in Anführungszeichen, einfach so, quasi Rollenprosa). „Man muss den Leuten helfen, Dinge zu sagen, wie ‚Der Afrikaner ist kein Mensch.‘“ schreibt Stadelmaier. Das geschieht mit der rhetorischen Absicht, den rechten Diskurs zur Meinungsfreiheit, in dem eine Meinung nur dann verteidigungswürdig ist, „wenn sie rassistisch ist,“ ad absurdum zu führen. Der von Stadelmaier zu Recht kritisierte „verschreckte Afrikanophobe“ findet, Flüchtlinge seien „schlicht und ergreifend keine Menschen.“ Das ernste Thema dieser Passage, die rhetorische Gewalt nämlich, verträgt diesen locker-pathetischen Stil aber eigentlich nicht, vor allem, weil sie, wie man in diesen Tagen wieder merkt, regelmäßig von jenen, die von Stadelmaier unangenehm verniedlichend mit Begriffen wie „unser kleiner Afrikanophober“ angesprochen werden, in physische Gewalt übersetzt wird. Nun geht es in dem Essay um mehr als Rassisten, die sich über afrikanische Flüchtlinge echauffieren, es geht auch um das Diskursfeld Terror und Islam. Aber wie wichtig Stadelmaier diese eine Passage ist, zeigte sich auch bei der Preisvergabe des Clemens-Brentano-Preises für Die Mittleren Regionen, bei dem er anscheinend nur einen einzigen Satz vorlas. Der Artikel über die Verleihung bestätigt Stadelmaiers Empörungspathos, in dem er seine Lesung so beschrieb: er „komprimierte die geistige Stereotypie des Rassismus, ließ diesen in der Aussage kulminieren: “Der Afrikaner ist kein Mensch.“

Empathie ist bei ihm manchmal eine Einbahnstraße. Stadelmaier weiß zum Beispiel, dass Schwarzen Menschen in westlichen Ländern Rassismus widerfährt, und davon erzählt er auch in Queen July:„ein Freund ihres Bruders [wurde] einmal von zwei weißen Polizisten kontrolliert […], die ihn für einen Dealer hielten, und ihn, […] kurzerhand verprügelt hatten.“
Das erzählt Aziza dem „weißen, großen, hageren Boy“ Anselm Strehler. Als Autor entscheidet Stadelmaier nun, da Rassismus Schwarzen Menschen ständig widerfährt, stört es sie wahrscheinlich nicht besonders (stimmt natürlich nicht) und schreibt das auch genau so hin:„Aziza dachte sich nichts weiter dabei – derartige Schikane waren für Nichtweiße in Paris Alltag – und nippte an ihrer Leffe.“

Wen diese Geschichte aber besonders anrührt? Natürlich Strehler. Strehler ist sensibel und hat deshalb einen Emotions-„Panzer“ („um sich zu schützen, sich zusammenzuhalten, nicht auseinandergerissen zu werden.“) Strehler ist zu sensibel – und unter dem „Panzer,“ einem katatonisch scheinenden Äußeren, ist er „besonders stürmisch,“ was Aziza „eigentlich auch ziemlich anturnend“ findet. Und weil er so sensibel ist, ist er schockiert, dass es Rassismus gibt. Die Nüchternheit der Beschreibung des rassistischen Vorfalls steht hier in starkem Gegensatz zu der atemlosen Beschreibung des stürmischen Innenlebens von Strehler. Seine emotionale Verletzung durch den Vorfall (und wie sich das auf Azizas Anziehung auswirkt) steht im Vordergrund.

Dieselbe Empörungspoetik steht auch bei einem anderen Roman im Vordergrund, der aber gerade wesentlich mehr Wellen schlägt. Die Rede ist von Jeanine Cummings‘ Roman American Dirt, in dem Cummings, eine weiße Frau, das Leiden und die Qualen mexikanischer Immigranten thematisiert. Eine Zusammenfassung der Kontroverse kann man zum Beispiel hier finden. Sie wurde, nachdem der Roman zunächst einhellig gelobt wurde, durch zwei kritische Rezensionen losgetreten, eine von Myriam Gurba und eine von Parul Sehgal. Beide stellen fest, dass der Roman zum einen schlecht geschrieben ist, und zum anderen Klischees über Mexikaner transportiert. Wie Stadelmaier bietet Cummings den Leser*innen ein Buch, in dem es eigentlich primär um Empathie für die schreibende Person geht und nur sekundär um die Figuren des Buches. Das wird deutlich durch ein Nachwort, in dem die Autorin nachdrücklich erklärt, wie nahe ihr das Thema geht. Sie stellt dar, dass sie besondere Empathie für bestimmte Themen aufgrund eines brutalen Gewaltverbrechens an ihren Cousins und ihrem Bruder hat: “Because that crime and the subsequent writing of the book were both formative experiences in my life, I became a person who is always, automatically, more interested in stories about victims than perpetrators. I’m interested in characters who suffer inconceivable hardship, in people who manage to triumph over extraordinary trauma.” – und erklärt, dass sie deshalb ein Buch über ganz normale Menschen schreiben wollte: „Regular people like me. How would I manage[…]?“ Klarer kann man das Projekt der Aneignung des Traumas und der Geschichte eines Landes nicht machen.

American Dirt taugt nicht als emblematische Darstellung des Konfliktes an der Grenze, gerade weil nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch die Bösewichte keiner realistischen Darstellung entsprechen. Tatsächlich geht es Cummings, folgt man der „Author’s Note“ nicht um Realismus im eigentlichen Sinn. Sie erklärt zwar, recherchiert zu haben, macht aber ausdrücklich klar, es handele sich um „a work of fiction,“ und schafft sich damit den Freiraum, den man fiktionalen Texten allgemein eher zugesteht. Mögliche Fehler gibt sie freimütig und direkt zu: „I worried that […] I’d get things wrong, as I may well have.” Es geht ihr darum, Menschen zum Nachdenken zu bewegen („to create a pause“), und eine Brücke zu bauen. Im Grunde, obwohl sie sich gewünscht hätte, dass „someone slightly browner than me“ so ein Buch hätte schreiben können, hat sie diesen Menschen eben diese Fähigkeit zum Brückenbauen voraus. Für dieses Projekt ist es nicht wichtig, dass das Buch gut geschrieben ist. Wie Parul Sehgal detailliert festhält, ist das Buch schlecht geschrieben, aber sogar seine Verteidiger, darunter die große mexikanisch-amerikanische Schriftstellerin Sandra Cisneros, verteidigen das Buch nicht aufgrund etwaiger ästhetischer Stärken – Cisneros wiederholt im Wesentlichen Cummings‘ eigenes Argument, indem sie erklärt: „it’s going to change the minds that, perhaps, I can’t change.”

Im Wesentlichen hat bereits James Baldwin 1955 Bücher wie das von Cummings beschrieben: in einem Essay mit dem Titel „Everybody’s Protest Novel“ – über Uncle Tom’s Cabin. Dieses Buch, schreibt er, sei ein „sehr schlechter Roman“ und die Autorin mehr Pamphletistin als Romanschriftstellerin. Das einzige Ziel dieses Romans sei es, klarzumachen, dass Sklaverei schlecht sei, und zwar mit theologisch inspiriertem Terror, bei dem es allein die Leiden der Schwarzen Hauptfigur seien („the incessant mortification of the Flesh“), die einen moralischen Triumph auslösen würden. Diese Formulierung von Baldwin – in einem sehr kritischen Artikel – wiederholt Cummings fast wörtlich, wenn sie in ihrem Nachwort ihr Interesse an „people who manage to triumph over extraordinary trauma” erklärt, Somit wird klar, dass das, was manche Leser als „torture porn“ bezeichnen, in einer sehr speziellen (und sehr weißen) Tradition steht; wobei der Vergleich mit dem wirkungsmächtigen Roman Harriet Beecher-Stowes die politische Zündkraft von Cummings‘ Roman übertreibt. Cummings geht es eigentlich nicht wirklich um die Latinx Figuren, oder um ihre möglichen Hintergründe, deshalb hat sie sie so nah wie möglich an ihrem eigenen Leben konstruiert. Journalisten, Kulturschaffende, sogar der Kartellchef ist ein verkappter Bücherwurm.
Hier enden zunächst die Ähnlichkeiten mit Stadelmaiers Roman. Zum einen ist da das schriftstellerische Handwerk. Anders als Queen July ist American Dirt, wenn man sich einmal eingelesen hat, wirklich mitreißend, mithin handwerklich, wenn auch nicht sprachlich, gelungen. Die Vorstellung, über 400 Seiten (die Länge von American Dirt) von Stadelmaiers Prosa lesen zu müssen ist dagegen eher angsteinflößend. Queen July ist stilistisch uneinheitlich. Kurze Sätze wechseln sich mit unstrukturierten Wortkaskaden ab, so wie folgende Beschreibung einer Party der jugendlichen Aziza in der Wohnung einer reichen Mitschülerin:

„Mama und Papa waren auf Mauritius und plätscherten mit den Füßen in paradiesischen Gewässern, während ihre Tochter das Pariser Familienapartment in allen nur denkbaren Positionen nach Strich und Faden ordentlich durchzuficken gedachte, was sich nicht nur auf die diversen zwischenmenschlichen Interaktionen bezog, die sich an diesem Abend zuhauf in den zehn Zimmern des Altbauetablissements abspielten, sondern vor allem auf Möbel und Mobiliar sowie die beeindruckende Sammlung von Ölgemälden von namenlosen und vertrottelt dreinblickenden weißen französischen Marschällen und Herzogen, die illustre weiße Vorfahren einst in Schwerstarbeit zusammengetragen hatten.“

Zusätzlich dazu bietet der Roman noch die Art von Wiederholungen, die typisch in Erstfassungen sind. So folgt auf „Sie fühlte sich verarscht.“ Zwei Sätze später: „Ja, sie war wirklich verarscht worden.“ Am schlimmsten sind aber die Coelhoesken Gefühlsbanalitäten – die deshalb besonderes Gewicht haben, weil Azizas amour fou zu Strehler das emotionale – wenn man das so sagen kann – Herz des Buches ist. So erklärt Stadelmaier: „Sie versuchte, sich in ihn zurückzuziehen, weiter in ihm und durch ihn zu leben. Es ging nicht.“ In einer Passage, in der Aziza sich Vorwürfe macht, wird Stadelmaiers Tendenz zur Wiederholung und zum inhaltslosen Formulierungskitsch besonders deutlich:

„Aziza begann, Strehler zu hassen, vor allem aber hasste sie sich selbst dafür, dass sie ihn hasste und hassen musste, dafür, dass sie das Allerschlimmste nicht von sich hatte abwenden können. Sie hatte es zugelassen, dass er für sie zum Geheimnis geworden war, und dieses Geheimnis war irgendwann aus der Verborgenheit gehüpft, hatte ihr die Fresse poliert und die Wirklichkeit in einen Albtraum verwandelt. Denn Strehler hatte nicht einfach ihren Glauben an Strehler oder an die Liebe zerstört, sondern die Wirklichkeit selbst hatte gebebt und war bebend in sich zusammengefallen. Ihr Bewusstsein war ein Trümmerfeld, und die Trümmer drehten sich in einem quälend langsamen Strudel, dick und zähflüssig.”

Die wirren Metaphern sind eine Sache, das ist eine Frage des Handwerks. Die leeren Hülsen in der Beschreibung von Azizas Gefühlen wiegen hier schwerer, weil sie einen Mangel an Empathie verraten.

Zum anderen steht die Geschichte bei American Dirt wenigstens im Dienst einer politischen Idee – gerade die spannende Handlung wird von Lesern wie der Autorin Lauren Groff im Zusammenhang mit dem Problem der mexikanisch-amerikanischen Grenze wahrgenommen. Es ist eine Geschichte, in der es um ein politisch-soziales Problem geht, – und keine Geschichte vom Schneideraum des Traumschiffs, wie in Queen July. Eine Episode aus Azizas Leben bietet dafür ein sehr gutes Beispiel. Als es einen schweren Terroranschlag in Dschibuti gibt, ist Aziza niedergeschlagen. Sie stellt fest:

„[d]er Terror würde sich nicht verabschieden. Nicht für sie in Dschibuti und erst recht nicht für die Somalis, die am meisten unter Al-Shabaab zu leiden hatten, wenn sie nicht den Anti-Terror-Aktionen der Kenya Defence Forces oder den oftmals äußerst unpräzisen amerikanischen Drohnenangriffen zum Opfer fielen (wonach sie posthum ebenfalls als »Militante« deklariert wurden). So blieb ihnen oft nichts anderes übrig, als zu fliehen, in die Refugee-Camps von Dabaab, nach Nairobi oder Europa – oder nach Aylan.“

Und im nächsten Satz wird dieses Statement kontextualisiert. „Nein, der Terror würde nicht verschwinden, und da kapierte sie, dass es ihr mit Strehler nicht anders ergehen würde.“ In diesem Roman ist alles relativ und am Ende kommen wir immer zu Anselm Strehler und der Liebesgeschichte zurück. Strehler ist nämlich sowas ähnliches wie ein Terroranschlag „Strehler, das war wie der Terror, eine imaginäre Form des Terrors. Irgendwann taucht er mit seiner Kalaschnikow in deinem Leben auf und mäht alles nieder.“

Für den Roman ist es nicht so wichtig, wie Aziza sich mit dem Terror fühlt, wie es sich anfühlt, wenn mitten in der Heimat der Mutter eine Bombe hochgeht. Es ist nicht so wichtig, dass Aziza zur Schule mit reichen weißen Pariser Kindern ging. So gibt es eine Szene, wo Aziza sich auf einen Teppich erbricht, der von einem Leutnant Napoleons nach Napoleons Sieg in Ägypten zurück nach Frankreich gebracht wurde. Napoleon selbst stand auf dem Teppich, erklärt eine Klassenkameradin voller Entrüstung, die eine Nachfahrin eben jenes Leutnants ist, während wir in einem Nebensatz hören, dass Aziza auch ägyptische Verwandte hat. Wir erfahren nichts Näheres zu der Situation, wie sich Aziza damit fühlt, unter wohlhabenden Weißen mit Kolonialvergangenheit aufzuwachsen. Ein bisschen Recherche könnte zu Schwarzen Autorinnen wie May Ayim und Alice Hasters führen, die beschrieben haben, wie sich genau diese Situation anfühlt. May Ayim hat in „Weißer Stress und Schwarze Nerven“ den „Stressfaktor Rassismus“ beschrieben, zu dem auch gehört “in einem überwiegend weißen Bezugsfeld“ aufzuwachsen – genau wie es bei Aziza der Fall ist. Auch Alice Hasters beschreibt, wie es sich anfühlt, „[d]ie einzige Schwarze im Raum zu sein.“ Das sind Erfahrungen, von denen man nur erfährt, wenn man sich für die Menschen interessiert, über die man schreibt, wenn man recherchiert, fragt, zuhört und liest, zum Beispiel Bücher Schwarzer Autorinnen, die auf deutsch oder in Deutschland publizieren, wie Ayim, Hasters oder auch Noah Sow und Sharon Otoo.

Für Stadelmaier hingegen reicht seine eigene Imagination. Für die im Buch recherchierten Fakten reicht Wikipedia. Stadelmaier referiert diese Fakten dann auch knapp und emotionslos: „Deutsche Soldaten gibt’s zwar, aber die kämpfen gegen die Piraten im Golf von Aden. Ansonsten führen die Chinesen einen Wirtschaftskrieg gegen die Amerikaner. Dschibuti ist Freihandelszone und der wichtigste Hafen in Ostafrika.“ Im Grunde bleibt alles, was den politisch und postkolonial relevanten Hintergrund der beiden Frauen betrifft, Anekdote, Couleur, Hintergrundrauschen, und letztlich auch ein metafiktionales Spiel. Wie übrigens auch der Titel des Romans, benannt nach einem unvollendeten Film Erich von Stroheims, Queen Kelly, in dem Gloria Swanson nach diversen Verwicklungen erst einen deutschen Kolonialisten in Deutsch-Ostafrika heiraten muss und dann zur „Königin“ eines Bordells in Tansania aufsteigt.

Ein anderes Problem, das American Dirt und Queen July verbindet, ist, wie sie mit Sprache umgehen. Die Sprache in Queen July ist immer etwas angestrengt berufsjugendlich, aber besonders relevant ist eine Szene, die in mehrerer Hinsicht auffällt: ein Monolog von July, die hier eine Episode aus ihrem eigenen Leben erzählt, und nicht, wie sonst, nur zuhört. Ihre Sprache ist voller Slangausdrücke, soll offensichtlich frisch und jung klingen, aber stattdessen klingt der Text hier weitgehend so, wie die missglückten deutschen Übersetzungen amerikanischer Beatliteratur. Wie mit der Empörung bei den Mittleren Regionen zeigen auch hier die Rezensionen, dass Stadelmaier hier mit einer sehr speziellen Leserschaft – der institutionellen nämlich – auf einer Wellenlänge liegt. July will „Lenden wackeln […] lassen,“ oder „nett abchillen,“ während Menschen um sie herum „heftigst miteinander abgehen“ und ihr das „pralle Leben entgegenströmt.“ Eine diebische Freude an der leichten, höflichen sprachlichen Entgleisung wird hier deutlich, die in einer ganz kleinen Obszönität mündet: „irgendwann nehm ich meine Hand von ihrem Arsch, geh ihr unter den Rock und fang an, ihre Muschi zu fingern.“ Diese Art von animiertem Slang ist üblich in weißem Schreiben über Schwarze Menschen, wie Sianne Ngai in ihrer Beschreibung von „animatedness“ nachweist – mehr noch, Ngai zeigt überzeugend, dass die Figur der Begeisterung („thrill“) über diese bestimmte Lebhaftigkeit auch dann noch einen rassistischen Hintergrund hat, wenn die beschriebenen Figuren gar nicht Schwarz sind.

Hinzu kommt das Problem des Slangs an sich: für Schwarze Menschen ist die Frage des Dialekts oder Akzents keine einfache. Mündlichkeit und Identität hängen zum Beispiel im Werk Afroamerikanischer Autorinnen eng zusammen, wie z.B. Eva Boesenberg in ihrer Dissertation gezeigt hat. Auch die Präsentation dieser zeitlich und kulturell unbestimmten Coolness in Julys Sprache ist nicht unproblematisch, ist doch die Annahme Schwarzer Coolness hochkomplex und schwierig. Zudem sprechen die Figuren, so nimmt man an, französisch; um welche Art von französischer Jugendsprache es sich handelt, erfahren wir nicht. Die Spielsprache Verlan zum Beispiel gelangte in französischen Banlieues zu neuer Prominenz und ist heute stark mit Einwanderern aus Nordafrika assoziiert. Zudem wird in Frankreich gerade von Schwarzen Schauspieler*innen erwartet, einen „afrikanischen“ Akzent zu haben – was Julys „frische“ Jugendsprache besonders problematisch macht. Man vermisst in diesem Roman eben überall, bis in die Verästelung der Sprache, ein Gespür für das Gewicht, das ein Leben als Schwarze Frau in einer “whitriarchal society” bedeutet, ein Begriff, den die französische Afrofeministin Sharone Omankoy geprägt hat.

Nun erscheint Queen July zu einer Zeit, in der wir -zum Glück- besser in der Lage sind, solche Romane einzuordnen. Texte, wie das eingangs zitierte Buch von James Clifford, die neueren Bücher von Autorinnen wie Alice Hasters, oder das vielgepriesene Buch von Reni Eddo-Lodge suggerieren, dass wir uns gesellschaftlich in eine andere Richtung bewegen. Es sind allerdings Bücher wie Queen July, die darstellen, wie stark der Sog der weißen, männlichen Literatur noch ist.

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Kitsch und AfD – Zur Ästhetik des aktuellen Rechtsradikalismus

In den letzten Jahrzehnten hat die Konjunktur des Kitschvorwurfs nachgelassen. Populären Autoren wie Takis Würger oder Karl Ove Knausgård, die ihre Texte durch Semi- oder Autofiktionalität gern mit Natürlichkeitspathos aufladen, wird er zwar manchmal gemacht, dabei aber nicht mit der verallgemeinernden Ablehnung alles Trivialen, die sonst oft dazugehörte. Während Urheber und populärer Gegenstand in Zweifel gezogen werden, ist man vorsichtiger geworden, dessen Rezipienten zu stark zu kritisieren. Was den Kitschvorwurf nämlich besonders problematisch macht, ist die mit ihm verbundene Unterstellung, nicht nur mit dem Werk, sondern auch mit den Fans des Kitsches sei etwas nicht in Ordnung. Doch diese soziale Dimension des Kitschvorwurfs heißt nicht, dass es den Kitsch als ästhetisches Phänomen nicht gäbe und der Begriff nicht zur Analyse bestimmter Texte gerade aufgrund ihrer Funktion im politischen Diskurs hin hilfreich sein kann.

In Anknüpfung an Kritiken von Massenkultur aus den Nachkriegsjahrzehnten bestimmte der französische Sozialpsychologe Abraham Moles 1972 den Kitsch als „Kunst in der Häßlichkeit“, als „guten Geschmack in der Geschmacklosigkeit“, der Ansprüche an Rezipienten suggeriert, aber nur anspruchslos konsumiert werden kann. Moles zielte damit auf das Potenzial dieser Ästhetik, zur Stabilisierung von Gruppenidentitäten beizutragen. Diesen Ansatz nutzte Saul Friedländer in seinem Essay Kitsch und Tod (1982), in dem er die Kunst des Nationalsozialismus und ihre Wirkung auf den Film der damaligen BRD besprach. Friedländer stellte fest, dass im Propagandafilm der Nationalsozialisten auf widersprüchliche (kitschige) Weise Tod, Gewalt und Harmonie aufeinandertrafen und damit als klassische und romantische literarische Motive in einen neuen Zusammenhang gestellt wurden.

Der neue rechte Kitsch

Seitdem sich um eine Gruppe ehemaliger Journalisten und Wissenschaftler medial eine neue rechtsradikale Bewegung in Deutschland formiert hat, deren parteipolitischer Arm die AfD ist, ist auch der rechte Kitsch wieder in ganzer Kraft da. Dieser Kitsch will der Anti-Kitsch sein, in ihm verbinden sich jedoch Massenkultur und deutsche Kulturkritik. Am Beispiel des ehemaligen FOCUS-Redakteurs und heutigen AfD-Beraters Michael Klonovsky kann das gut demonstriert werden, denn Klonovsky ist der zweifelhafte Meister des neuen rechten Kitsches.

Klonovsky hat nicht nur rassistische FOCUS-Coverstorys verfasst und ist vor allem für seinen Blog bekannt, sondern auch ein halbes Regal mit Aphorismen-, Rezensions- und Essaybänden gefüllt. Als Mitarbeiter von Alexander Gauland schreibt Klonovsky heute die Reden für den AfD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag. Davor übte er diese Tätigkeit für Frauke Petry und ihren Ehemann Marcus Pretzell aus. Wie Uwe Tellkamp und einige andere Figuren aus der rechten Dresdner Kulturszene ist der ursprünglich ebenfalls aus Sachsen stammende Klonovsky einer von mehreren ostdeutschen Autoren, die aus einer Kritik am DDR-Regime eine Kritik an der Politik und Kultur der Bundesrepublik ableiten wollen. Dies äußert sich beispielsweise in Gleichsetzungsversuchen der Medien der DDR und der BRD, vor allem aber in der Konstruktion bildungsbürgerlicher Dissidenz, der sie ihre eigenen Texte hinzuzählen wollen.

Seit Jahren gilt Klonovsky als „Edelfeder“ der konservativen Publizistik, also als Autor, der sich nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch besonders auszeichne. Klonovsky veröffentlichte 2005 bei Rowohlt einen Roman (Land der Wunder), der zwar nur gemischte Rezensionen bekam, aber seinen Ruf als Künstler-Feuilletonist begründete. So konnte er dann auch bei Reclam die Aphorismen des kolumbianischen Reaktionärs Nicolás Gómez Dávila herausgeben, obwohl diese Texte längst einer historisch-kritischen Kommentierung bedurft hätten. Zu Klonovskys zahlreichen Fans gehört der Philosoph Peter Sloterdijk, der ihn für „Feuilletons von ungewöhnlicher Brillanz“ lobte, und die Pathosschraube noch einen Grad höherdrehte, weil man sich bei ihm „in die Zeit von Tucholsky zurückversetzt“ fühlte, „als die deutsche Sprache noch vibrierte.“ Diese Vibrationen spürte offenbar auch der Schriftsteller Eckhard Henscheid, der Klonovsky mal für „schwärmerisch, verschwärmter und zugleich kenntnisreich“ hielt. Im Nachwort zu Klonovskys erst im letzten Jahr erschienenen Kolumnenband Der fehlende Hoden des Führers: Essais erkennt Lorenz Jäger sogar „Einsichten … [in] die unendliche Verletzlichkeit des Schönen, des Heiligen, der Leuchtenden, des Lebendigen, des Differenzierten, des Intelligenten.“ Ein stilistisches Hufeisen entwarf neulich Harald Martenstein in der ZEIT, der Klonovsky mit dem verstorbenen konkret-Herausgeber Hermann Gremliza verglich, weil beide Autoren von links- und rechtsaußen „elegant“ und „auf dem Niveau des Kritisierten“ den bürgerlichen Mainstream angriffen.

Schon in den 2000ern publizierte Klonovsky für die rechtslibertäre Zeitschrift eigentümlich frei, in der sich – oft ziemlich selektive – Staatsfeindlichkeit und genereller Autoritarismus ideologisch verbinden. Wie Klonovskys Texte aus dieser Zeit zeigen, hat er sich seitdem eigentlich kaum radikalisiert. Durch seine Anstellung im Parteiapparat hat er lediglich einen weiteren Schritt in der Explizitmachung einer Position gemacht, die längst klar und fertig ausgebildet dastand. Das unterscheidet ihn auch vom Stamm der AfD-Vorfeldautoren, etwa Matthias Matussek, Rainer Meyer oder Roland Tichy, die ihre formelle Unabhängigkeit vom parteipolitischen Rechtsradikalismus nutzen, um auch ideell als unabhängig zu gelten. Das ist eine allerdings ziemlich theoretische Unterscheidung, wenn man diese Bewegung als diskursives Phänomen versteht, in dem ähnliche Ideologien vertreten sind und ähnliche rhetorische Strategien angewandt werden.

Klonovskys Manifeste der Männlichkeit

Klonovsky will als Feuilletonist die „Ästhetik“ und „Schönheit“ gegen „die Ethik“ stark machen, verfügt aber selbst nur über einen Begriff von Ästhetik, der Moral und Besitzstand einer protestantischen Kleinstadt zur ästhetischen Norm umdeutet und das als Aufstand versteht. So hat Klonovsky in seiner Sammlung Lebenswerte (2009/2013), die einige seiner Kolumnen für die Zeitschrift eigentümlich frei zusammenfasst, einen „maskulinen“ und „hedonistischen“ Tugendkanon zusammengestellt, der über die Notwendigkeit männlichen Konsums soziale Ungleichheit rechtfertigen will. Durch diese Lebensphilosophie will sich Klonovsky nicht zuletzt ästhetisch von den angeblich genussfeindlichen Progressiven absetzen, die ihm die Objekte seiner Leidenschaften nehmen wollen.  Zum Teil stimmt das auch, denn Klonovskys Buch ist insbesondere ein Programm zur Legitimierung der sexuellen Übergriffigkeit gegenüber Frauen. So schreibt er im Lebenswert-Kapitel „Brüste“:

„Es gibt auf der Welt zirka drei Milliarden Mädchen und Frauen. Mindestens 1,5 Milliarden befinden sich im sexuell aktiven Alter. Macht also – kein Mensch ist wirklich symmetrisch – drei Milliarden unterschiedliche Brüste. Wer mag, kann sich die planetarische Biomasse Brust gern in Kilogramm ausrechnen. Geht man davon aus, dass, individueller Geschmack hin oder her, ungefähr jedes zehnte oder fünfzehnte Brüstepaar so gebaut ist, dass der Drang, sich seiner zu bemächtigen, für einen Mann immens wird, ergibt dies theoretisch 200 bis 300 Millionen Optionen.“

Doch mit dieser puren Geschmacklosigkeit, die Kulturmenschen wie Sloterdijk und Jäger offenbar goutieren können, beginnt noch nicht der Kitsch, denn dazu gehört das Moment des Geschmacks, das den Rest aufwerten soll. So schreibt Klonovsky in anderen Lebenswert-Stichwörtern auch über „Klaviere“, „Lyrik“, „Bücher“, „Malerei“ und die „Oper“. Wie die Überschriften bereits andeuten, hat er sich dabei einfach alles herausgesucht, was seinen statusorientierten Lesern zufolge Kultiviertheit ausmacht.

Wie Ludwig Giesz Anfang des 20. Jahrhunderts in seiner Phänomenologie des Kitsches herausstellte, ist der Kitsch eben eine Haltung, das „Gerührtsein über die eigene Rührung“, also selbstgefällige Trägheit angesichts des Gefühls der eigenen Überlegenheit. Und wie Klonovsky „die Frauen” konsumieren will, so will er „die Lyrik“ eben auch bloß „genießen“, also Rilke und Hölderlin als gehobenes Entertainment für zwischendurch. Gegen einen solchen Medienkonsum spricht natürlich gar nichts, nur läuft es diametral seiner Vorstellung entgegen, seine Form des Konsums sei irgendwie ungewöhnlich, wie im Kapitel „Ungleichheit“ suggeriert wird: „Nur in einer Welt eklatanter Niveau-Unterschiede vermag das Leben zu fließen.“ In Lebenswerte gibt es jedenfalls ausreichend  Beispiele, die Klonovskys eigenen Niveauanspruch in Frage stellen:

„Kinder machen bereits Probleme, wenn sie noch gar nicht auf der Welt sind. Zwar werden die Brüste der Frau appetitlich prall, aber man ahnt, dass ein Abschied dahinter steckt. … Die Frau nimmt eine Form an, die man nicht für möglich hielt. Der Mode folgend will sie, dass man bei der Geburt anwesend ist. Nie wieder wird er sich so hilflos fühlen wie im Kreißsaal. … Ansonsten mag der Sinn dieser Maßnahme darin bestehen, dass ihm die Lust auf Sex und sogar aufs Fremdgehen für eine beträchtliche Zeit vergällt ist.“

Und  kaum war man in den italienischen Olivenhainen und dem Anzugladen, geht es wieder ins Hotel:

„Das Hotel ist ein durch und durch erotischer Ort. In jedem Zimmer treibt es ein Paar miteinander oder liegt ein einsamer Gast und denkt an Sex. Das Hotel ist der ideale Platz für Huren. Es ist anonym, sauber, grenzenlos beschmutzbar und besitzt jenen Reiz des Fremden oder gar Exotischen, der spezielle Lüste hervorruft. Er denkt es fast zwanghaft. Und geht nach unten, wo die Mädchen sitzen, die schon am Vorabend dort saßen und zwischendurch verschwunden waren und wiederkamen und sich das Make-Up nachzogen. Und nimmt sich eine mit aufs grenzenlos beschmutzbare Zimmer, in der Stadt, wo ihn niemand kennt.“

Offensichtlich kann Klonovsky mit seiner positiv konnotierten Verknüpfung von ungehemmter männlicher Sexualität, männlichem Besitzstand und männlichem Intellekt an eine Rhetorik anknüpfen, die man nicht nur aus der Werbung im Lufthansa-Magazin kennt, sondern die auch in der Literaturgeschichte immer wieder zur Konstruktion von Männlichkeit eingesetzt worden ist. Und natürlich hat sich der Autor auch das Kulturverfallsthema nicht ausgedacht, das er unablässig bedient, um sich als vermeintliche letzte Elite hochleben zu lassen. Diese Texte wollen vor allem ein Manifest sein, in dem der Mann zum Widerständler und zur Minderheit erklärt wird – eine Ideologie, die er mit jedem 4chan-Incel teilt, die aber hier als Variante für den Salon brauchbar gemacht werden soll, der sich ja vermeintlich vom Stammtisch unterscheidet.

Kitschästhetik als neurechte Kunstreligion

Klonovskys Lebenswerte können als Vorläufer von Thea Dorn und Richard Wagners Bestseller Die deutsche Seele (2011) gelesen werden. Denn obwohl er sich als „franko- und italophil“ versteht, der sexuell die „idealtypische Französin meiner Landesgenossin“ vorziehen würde und „die Russin erst recht“, versucht er das Deutschnationale durch den Verweis auf angebliche deutsche Partikularismen zu propagieren. Wie Dorn und Wagner, die aus Abendbrot, Dauerwelle und Männerchor die deutsche Essenz ableiten wollten, nutzt Klonovsky das Kulturelle, um ein politisches Programm zu begründen. Diese De- und Rekontextualisierung führt zur Verkitschung von Begründungsinhalten, in denen kulturhistorisch ohnehin schon reichlich Menschenfeindlichkeit steckte. Wie im Heimatfilm holt er die deutsche Romantik, die deutsche Ingenieurskunst und den deutschen Heldenmut hervor, universalisiert dagegen aber deutsche Verbrechen, um sie zu relativieren: Wenn die Nazis „Kinder in Güterwaggons tausende Kilometer durch Europa fahren“, ist das „fairerweise mit allen anderen Kindermassenmördern der Geschichte“ gleichzusetzen.

Die Frage ist an dieser Stelle nicht, ob es diese Art der sprachlichen, gedanklichen und moralischen Haltung ist, die Klonovsky zum Redenschreiber von Alexander Gauland qualifizieren. Entscheidend ist, dass diese Niveaulosigkeit das politische Programm ausmacht. Solche Kitschästhetik ist die Grundlage, mit der die rechtsradikale Szene heute ihr bürgerliches Publikum zu mobilisieren versucht, weil in diesen Texten die unreflektierte Angst um die in „Stil“ und „Kultur“ umgedeutete Angst um den Privilegienverlust steckt und einfache Identifikation bietet. Da Klonovsky Hotels, Brüste und Deutschland zu seinen Lebenswerten erklärt, ist er einerseits ziemlich ehrlich in der Zielstellung eines klassistischen, sexistischen und rassistischen Programms, zeigt aber auch, dass es dafür keine hinreichende Begründung außerhalb einer sich in die Ideologie des Ästhetischen gehüllten Anspruchsdenkens gibt. Passenderweise kann man das Buch mittlerweile auch auf CD hören, natürlich in Kombination mit klassischer Klaviermusik, die Klonovskys Ehefrau beigesteuert hat.

Zwischen Schleimereien und Verdammungen ist in dieser politisch überdrehten Ästhetik, die neue Kunstreligion sein will, nicht viel Platz. Klonovsky neuestes Buch Der fehlende Hoden des Führers: Essais (2019) besteht aus alten FOCUS– und eigentümlich frei-Kolumnen und einigen seiner Reden, vor allem aber Porträts verschiedener kanonischer Musiker, Politiker und Schriftsteller. Wiederum geht es darum, „Schönheit“ und „Bildung“ „der Moderne“ entgegenzuhalten, als ob das nicht ohnehin schon moderne Konstrukte wären. Also macht Klonovsky aus Immanuel Kant einen Gegner aller politischen Ideologien oder zitiert Hans-Georg Gadamer ausgerechnet für das Lob der Mütterlichkeit, um diese alten weißen Männer für einen durch und durch modernen Rechtsradikalismus einzuspannen.

Variationen altbekannter Stammtischparolen und Naziwitze

Wenn Klonovsky mal wieder dazu aufruft, die „Weinbestände zu füllen und zu leeren“, „Bücher statt Zeitungen“ zu lesen, sich von „der allgemeinen Verwahrlosung“ nicht anstecken zu lassen und „manierlich und heiter“ zu sein, fragt man sich, ob diese Plattitüden nun die Sprache ist, die „vibriert” (Sloterdijk) oder das nun „der Einblick ins Schöne, Heilige, Leuchtende, Lebendige“ (Jäger) ist. Aber ein bisschen Biedermeiercouch-Geruch reicht offenbar schon aus, um sich dieses Lob zu verdienen, denn es gilt ja lediglich, den üblichen Klassismus, Rassismus und Sexismus zu veredeln. Es zeigt sich, dass Ästhetik und Politik nicht nur nicht voneinander zu trennen sind, sondern dass Autoren wie Klonovsky letztlich nur aufgrund ihrer politischen Haltung jahrzehntelang überhaupt Publikationsmöglichkeiten und Leser gefunden haben.

In seiner Bonmotsammlung Aphorismen und Ähnliches, die seit 2008 in erweiterten Neuauflagen erscheint, wird wiederum deutlich, wie eng in diesem Kitsch Form und rechtsradikaler Inhalt miteinander verbunden sind. Durch mittlerweile 136 Seiten (2017) zieht sich zunächst ein Strom aus klischeebeladenem Namedropping (u.a. Heidegger, Dürer, Goya, Cézanne, Thukydides, Proust, Bach, Vélazquez, Kleist, Homer, Shakespeare, Luhmann) und zwischen Traurigkeit und Unoriginalität schwankenden Self-Help-Kalendersprüchen:

„Es gibt Leute, die verzeihen einem das Talent nie.“

„Was keine Feinde hat, ist nichts wert.“

„Wo das Team regiert, wird Bildung zum Stigma.“

„Wo die Individualität blüht, welkt die Persönlichkeit.“

„Lieber im Unrecht als in irgendeiner Meute.“

„Der originäre Denker ist der Feind des Professors.“

Nur ausgestattet mit der Rhetorik der Allgemeinbildung, mit der sich ein Publikum umschmeicheln lässt, das sich kulturell überlegen fühlt, können dann Klonovskys krasse Ausfälle gegen Frauen, queere Menschen und PoC dann für manche Leser nicht wie pathetische Variationen altbekannter Stammtischparolen und Naziwitze wirken, obwohl sie auch einfach als klassische Stammtischparolen und Naziwitze daherkommen:

„Evolutionsbiologisch betrachtet ist die Frau in ihrer jetzigen Gestalt ein Produkt des männlichen Begehrens. Es wird Zeit, dass die Lesben sich dafür bedanken.“

„Zuerst bekämpft die Homosexuellenbewegung die Homosexuellenphobie, dann erzeugt sie sie.“

„Islamistische Anschläge in Europa? Wozu das Haus demolieren, in das man einzieht.“

„In Berlin gibt es ein Denkmal für Ernst Röhm: Homosexuelle, die während der Naziherrschaft ermordet wurden.“

„In der Idee, schwulen Paaren das Adoptionsrecht zu geben, weht der Geist der Paralympics.“

„Der General Franco hat eine schlechte Presse, weil er die Kommunisten geschlagen hat.“

„Es ist nur folgerichtig, daß die schleichende Privilegierung der Frauen mit ihrer überlegenen sozialen Intelligenz letztbegründet wird; die andere ist ja halbwegs meßbar.“

„Einst galt es als Rassismus, wenn jemand sagte, schwarz sei schlecht. Heute handelt es sich bereits um Rassismus, wenn einem auffällt, daß schwarz schwarz ist.“

Dieser Auswahl könnte man entgegenhalten, dass dies nur „Stellen“ seien: Doch wie viel Textzusammenhang braucht ein Aphorismus? Trotzdem noch ein paar inhaltlich weniger grelle Beispiele, die immer dem stilistischen Prinzip folgen, Begriffe rhetorisch ineinander aufzulösen oder in Gegensatz zueinander zu setzen und damit Erkenntnis vorzutäuschen:

„Eben weil der Mensch nicht unsterblich ist, sollte er vor allem die Unsterblichen lesen.“

„Wer kommuniziert, hat nichts zu sagen.“

„Der Feminismus müßte eigentlich Maskulismus heißen.“

„Zu den Basalmythen der Demokratie gehört, daß es sie gibt.“

Natürlich hält der Aphorismus schon als Genre reichlich Möglichkeiten bereit, um ohne Begründung, nur im Vertrauen auf die Zustimmung der Leser, dahinpostulieren zu können. Diese Stilwahl, die nur anspruchsvoll hinsichtlich der Vorurteile der Leser ist, soll wie in Lebenswerte aber überhaupt nicht vergessen lassen, dass das Buch ein frauenfeindliches Pamphlet ist, sondern vor allem, dass es sich um frauenfeindliche Klosprüche handelt. Daher greift Klonovsky auch gern mal tief ins Abflussrohr, um bloße Codewörter der Kultiviertheit wieder herauszufischen:

„An Menschen, die keine Gedichte auswendig wissen, ist jede Zeit verschwendet.“

„Bildungsferne schafft Publikumsnähe.“

„Gönnen ist göttlich.“

„Welchen Gegenstand ein Buch behandelt ist zweitrangig verglichen damit, auf welche Weise es ihn behandelt.“

„Der jeweilige Zeitgeschmack ist die Schlacke in den Kunstwerken; mit abnehmendem Verunreinigungsgrad wächst ihre Beständigkeit.“

„Steve Jobs kann nicht in der Hölle schmoren, weil er zu ihren Ausstattern gehört.“

„Der gebildete Mensch erzählt nicht, wovon ein Buch handelt, sondern auf welche Weise es von etwas handelt.“

„Die geistige Befruchtung benötigt weder Semester noch Module.“

Um einen Aphorismus des Autors zu beantworten: „Stellen Sie sich vor: Dieser Autor ist sexistisch, rassistisch und reaktionär! … Aber schreibt er auch schön?“ Nein. Wie Norbert Bolz ist Klonovsky einer der vielen heutigen Zirkus-Zarathustras, die einem Publikum, das sich in den Dörfern und Villenvierteln nach Erregung sehnt, passende Schenkelklopfer und Untergangsromantik bietet. Dieser neue rechte Kitsch verknüpft sexistische Erotik und rassistischen Hass mit bildungsbürgerlichen Statussymbolen, die das eigene Anspruchsdenken veredeln und damit legitimieren sollen. Das zeigt, wie wenig hinter  dem Symbol stecken muss, damit Autoren wie Sloterdijk oder Jäger, die als Inbild von Bürgerlichkeit gelten, nicht nur Gehör, sondern auch gleich ihr Qualitätssiegel schenken.

Mit ihrem makaberen Bestehen auf Stil und Form liefern Klonovskys Texte eine Strategie, mit Hilfe von ein bisschen Mozart-Hintergrundmusik Gewalt entweder zu übertönen oder erst recht attraktiv zu machen. Offensichtlich stellt der Diskurs der „bürgerlichen Mitte“ dafür ausreichend Anknüpfungspunkte bereit und zeigte sich jahrelang auch mehr als willig, Autoren wie Klonovsky selbst zur „Mitte“ zu machen, solange nur die richtigen Kultur-Knöpfe gedrückt werden. Zu diesen auf Distinktion abstellenden Praktiken, mit denen ausgegrenzt werden kann, hat natürlich auch immer wieder das Kitschurteil gezählt. Wenn es heute noch einen Wert hat, sollte es vor allem gegen die neuen Kulturuntergangspropheten und ihre Fans selbst gewendet werden.

Bild von Michael Gaida auf Pixabay

Chronik: Februar 2020

Einen Schauspieler am Penis gezogen einmal im Kreis laufen                                    lassen – das ist „bemerkenswert“ (FAZ vom 29.01.2020)

 

Ein gut gefülltes Fass aus Hohn und Spott ergoss sich Ende Januar über den Spiegel und seinen Titel “Die Faszination des Gangsta-Rap”. Und man muss sagen, ausgesprochen verdient, denn schon die Aufmachung erinnert an eine Bravo aus den 80er Jahren, die halb erregt, halb verängstigt vor den Gefahren einer “neuen” Jugendkultur warnt. Gleichzeitig brach sich in dem äußerst langen Text eine seltsam genervte Herablassung gegenüber Teenagern Bahn, die den Verdacht nahe legte, dass sich hier vor allem jemand über seinen 14jährigen Sohn aufregte. Diese Jugendlichen tragen nämlich schon seit sie 13 sind “fast nur Jogginghose und Kapuzenpulli” und wollen selbst auch Sportwagen fahren. Und das obwohl sie doch auch zu Fridays-for-Future Demos gehen. Das verwirrt offenbar die Eltern. Warum die dann aber gleich einen Spiegel-Text schreiben müssen, wird nicht so ganz klar.

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In der SZ wird ein Buch von Volker Hage besprochen, ehedem Literaturchef der Zeit und beim Spiegel. Gleich 21 Schriftstellerporträts werden hier versammelt, in denen Hage, der das Misstrauen seiner Kolleg*innen gegen diese Gattung nicht teilt, offenbar hemmungslos in die Biographie seiner Helden abtaucht. Und das gelingt auch gut, freut sich der Rezensent: “Die Romane von Max Frisch zum Beispiel gewinnen eine selbstverständliche Klarheit, wenn Hage von den Beziehungen Frischs zu Frauen erzählt…” Wir dagegen freuen uns, dass Frauen in diesem Buch überhaupt vorkommen und sei es auch nur als Verständnishilfe und biographische Würze zu Frischs drögen Romanen. Unter den 21 Porträtierten finden sich gerade einmal zwei Frauen. Nun muss man Hage natürlich zugute halten, dass es sich um eine Sammlung historischer Texte handelt und das Buch ist in jeder Hinsicht ein historisches Dokument, denn es erzählt von einer Zeit, in der es selbstverständlich gewesen ist, vornehmlich über Männer zu schreiben. Inwiefern Hage, der einer der mächtigsten Männer im Feuilleton der letzten Jahrzehnte war, an diesem historischen Umstand mitgewirkt hat, wollen wir hier nicht näher erörtern (Hage gilt übrigens als Erfinder des Labels “Fräuleinwunder”).

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Bereits in der letzten Chronik hatten wir über das Ende des Unsichtbar Verlages berichtet. An Ton und Inhalt des offenen Briefs des Verlegers Andreas Köglowitz rieb man sich. Unter anderem Jens Bartsch, der Inhaber der Buchhandlung Goltsteinstraße in Köln beschreibt aus der Perspektive des Buchhändlers das Problem, die richtigen Titel für den Verkauf zu finden. Gerade die Buchhändler*innen waren in Köglowitz’ Philippika als wenig experimentierfreudige Angsthasen schlecht weggekommen. Bartsch gibt zu bedenken, dass häufig durchaus ansprechende Inhalte völlig falsch verpackt wären. Es würde nicht verwundern, dass Kund*innen und Buchhändler*innen bei einer Covergestaltung, die “an drittklassige Selfpublisher erinnert”, nicht zugriffen. Die Forderung nach mehr Förderung von Indie-Verlagen findet Bartsch dagegen “kreuzdämlich”. Hierzu hatte sich bereits im November letzten Jahres der Fürther Manfred Rothenberger (starfruit publications) geäußert. Nun stellt der Verleger des homunculus Verlags Joseph Reinthaler ein Modell vor, wie Förderung aussehen könnte. Er sagt: “Es sind nicht wir Verleger*innen, die hilfsbedürftig sind. Es ist die Bibliodiversität, die deutsche literarische Kultur, eine Kultur der Vielfalt der Stimmen und des Worts.” Bartsch ist dagegen der Ansicht, “eine gute Sache sollte also im besten Falle irgendwie aus sich selbst heraus funktionieren können – oder eben nicht. Dies bei den Verlagen wie bei uns Sortimentern auch.”

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Was dem deutschen Buchmarkt vor ziemlich genau einem Jahr Takis Würgers Stella war, das ist jetzt für den amerikanischen Literaturbetrieb American Dirt von Jeanine Cummins: Eine weiße Frau erzählt von der Flucht einer mexikanischen Familie vor einem Kartell in die USA, um endlich die Geschichte derer zu erzählen, die in den USA oft als “faceless brown mass” wahrgenommen würden. Cummins schafft damit das buchgewordene Äquivalent eines Sombreros auf dem Kopf eines besoffenen Frat-Boys. In den deutschsprachigen Raum wurde der Skandal vor allem importiert, um über den Gegensatz von Moral und Ästhetik zu befinden. In der SZ etwa heißt es, die Kritik am Buch würde vorrangig identitätspolitsch begründet, “[w]eil die Autorin des Romans aber keinen lateinamerikanischen Hintergrund hat, sondern eine weiße Amerikanerin ist, und ihr Buch von einer überwiegend weißen Verlagsbranche für ein überwiegend weißes Publikum in Position gebracht wurde.” Nur stimmt das so leider gar nicht, denn die Einwände in den heftigen Kritiken waren überwiegend ästhetisch. Kein Grund für die SZ nicht trotzdem als Vergleichsfälle Brechts “Der gute Mensch von Sezuan” und Kleists “Verlobung in Santo Domingo” anzuführen. Denn die dürften nach den neu geschaffenen Maßstäben der Identitätspolitik ja dann auch nicht mehr erscheinen etc. Inzwischen ließe sich komfortabel eine Bibliothek der Bücher zusammenstellen, von denen schon gesagt wurde, dass sie wegen “Politischer Korrektheit” heute nicht mehr erscheinen könnten. Hannes Stein nennt in seinem schlecht gelaunten Bericht über die Kontroverse um American Dirt, dessen Prosa er übrigens “makellos” findet, noch folgende Werke, die heute nicht mehr hätten publiziert werden können: Das Leben der Anderen (weil von einem Westdeutschen), Macbeth (weil von einem Nicht-Schotten) und dann noch was von Werfel und Heine (because why not). Diese faule Bibliographie zeigt vor allem, dass der Autor das Problem nicht verstanden hat, und auch nicht verstehen will. Sein Fazit ist wenigstens ehrlich: “Aber warum müssen wir solche Debatten über Literatur überhaupt führen?”

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Viel interessanter ist dabei noch, dass inzwischen auch Insider aus der Verlagsbranche in den USA eingestehen, was zu befürchten war, nämlich, dass der Roman vermutlich keinen Skandal ausgelöst hätte, wenn er als das vermarktet worden wäre, was er offenbar ist: ein reißerischer Unterhaltungsroman, der hauptsächlich auf Effekt zielt – oder wie es der Assistant Editor des Verlags Flatiron ausdrückte: “You can’t be Twitter woke and Walmart ambitious.” Die Kontroverse war offenbar erwartet worden und man hatte kalkuliert, ob es das Risiko wert sein würde. Die Antwort ist auf 400 Seiten mit floralem Stacheldraht-Cover zu bewundern.

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Wie man ja weiß, dreht sich gerade bei Rowohlt mal wieder das Personalkarussell, auf Florian Illies folgt Nicola Bartels. Auf einen Mann, der keine Lust mehr hat, folgt eine Frau – so weit so gut. Wie fest die Rollenzuschreibungen trotz allem bei manchen auf die Innenseite der Stirn geschrieben stehen, durfte man kurz darauf im Spiegel beobachten. Dort war von Illies als dem Mann mit “bildungsbürgerlicher Prägung” die Rede, vermutlich weil der zwei Bücher verfasst hat, die als Klolektüre in jedem Haushalt liegen. Hingegen: Nicola Bartels ist für den Spiegel die Frau, die Bastei Lübbe geleitet hat, ein Name, der “geradezu ein Synonym für leichte Unterhaltungsliteratur” sei. Bildungsbürgerlicher Autor geht also und die Frau für seichte Unterhaltungsliteratur kommt – schön, wenn Weltbilder so einfach sind.

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Dabei ist es doch erst einmal lobenswert, wenn sich in Deutschland das tut, was Großbritannien offenbar bereits geschafft hat. Die Studie “Diversity of UK publishing workforce detailed in extensive survey” der in London ansässigen Publishers Association hat herausgefunden, dass 2019 54% der Führungspositionen und auf Geschäftsführungsebene von Frauen besetzt  waren (56% in leitenden Führungspositionen und 48% auf der Führungsebene). Es scheint doch zu gehen.

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Die Welt witterte Skandalöses hinter der Tatsache, dass der neue Roman des inzwischen von weit rechts winkenden Schriftstellers Uwe Tellkamp nicht schon dieses Jahr bei Suhrkamp erscheinen sollte. Und nicht nur in der Welt wurde gemunkelt, dass der renommierte Verlag vielleicht mit dem neuesten Werk Tellkamps nicht einverstanden sei. Das Wort “Zensur” steht im Raum. Ganz abgesehen davon, dass Tellkamp mit aller Wahrscheinlichkeit  einen Verlag für seinen neuen Roman Lava finden wird und dass dieser Verlag vermutlich Suhrkamp sein wird, stellte sich heraus, dass das Buch wohl einfach noch nicht fertig lektoriert und gar noch nicht fertig geschrieben war. Was die Welt jedoch nicht davon abhielt schnappatmend einige Menschen (die “Intellektuellen” nämlich), nach ihrer Meinung zu “Suhrkamps Dilemma” zu befragen, was man jedoch nicht lesen konnte, außer man hätte dem Springer-Verlag 10€ im Monat bezahlt, um zu erfahren was beispielsweise Rüdiger Safranski dazu zu sagen hat – und wer will das schon. Wir dagegen haben 700 Intellektuelle gefragt, was sie zu der Welt-Aktion zu sagen haben, aber was das ist, kann man erst lesen, wenn man 54Books+ abonniert hat.

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Der True Crime Hype ist aus den USA mittlerweile erfolgreich nach Deutschland geschwappt und alle spielen bei der journalistischen Vergoldung von schnödem Voyeurismus mit. Auch der Stern hat keinerlei Probleme damit, einen amerikanischen Artikel von 1993 (!) übersetzen zu lassen und ihn dem gierigen Publikum als frische Ware zu präsentieren. Wir dürfen gespannt sein, aus welchen Archiven noch “lange, hervorragende und sensibel erzählte Geschichten” ausgegraben werden, um die Gruselwollust des Publikums zu kitzeln. Denn wie absurd der Publikumshunger nach den vermeintlich wahren schaurig-schönen Gewaltverbrechen inzwischen ist, zeigt auch ein Blick in die Podcast-Sparte auf Spotify. Dort präsentieren ARD, ZDF und funk die beiden Podcasterinnen “Paulina und Laura” seltsam sexualisiert auf dem Cover eines Podcasts, der zu allem Überfluss auch noch “Mordlust” heißt. Während hier über die Hintergründe von Morden gesprochen werden soll, informiert der grinsende Philipp in “Verbrechen von Nebenan” über “True Crime in der Nachbarschaft” – von den Öffentlich-Rechtlichen, über Zeit und Stern, alle sind dabei beim wohligen Palaver über Femizide, Sektenmorde und den Killer aus der Nachbarschaft.

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Unsere Kultur lässt uns nichts in Würde vergessen. Erfreulich still war es etwa um die Ultraromantik, bis dieser Tage plötzlich Leonhard Hieronymi – Verfasser des zugehörigen, im Korbinian-Verlag herausgegebenen, Manifestes – wieder mit einem Essay in der SZ auftauchte. Die intertextuellen Referenzen aus dem Text lesen sich wie ein Panini-Album gepflegter Herrenkultur: Chatwin, Herzog, Rimbaud, Buddha, Meister Eckhart, Helmut Newton (Jodie Foster darf als Objekt eines Bildes von Newton immerhin als Metapher für den Verfall der Literatur stehen). Mit literaturhistorisch geschultem Blick wundert man sich etwas über einige der breitbeinig aufgestellten Behauptungen, besonders über die erstaunlich blinden Flecken in Bezug auf Literatur der 90er, die jenseits von Pop-Literatur, Crichton und Grisham stattfand. Der wirr-assoziativ geschriebene, aber mit großer Pose präsentierte Text, steigert sich dann zu einem Rant gegen erzählerische Linearität und amerikanische Popkultur, was sich liest, wie der dritte Aufguss eines Teebeutels mit Literaturtheorie der Postmoderne. Zu diesem Gefühl von Regress passt es, dass einem jungen Mann derart viel Platz für seine halbgaren Gedanken eingeräumt wird. (Wieviel lieber hätte man stattdessen einen Essay von Enis Maci gelesen, die zumindest auch von Hieronymi zitiert wird). Der Verfasser des Essays wird übrigens mit der steilen Behauptung vorgestellt: “Dass es sich bei [Hieronymis] ‘Formalin’ um die beste Kurzgeschichte handelt, die in jenem Jahr [2017] in deutscher Sprache erschienen ist, wird heute kaum mehr bestritten.” Diese Behauptung ist gleichermaßen frech und zutreffend. Niemand bestreitet das, und niemand kann es bestreiten, denn niemand hat die Erzählung gelesen. […] [Aus einem Interview mit den Hieronymi-Verlegern vom Korbinian Verlag: “Bei „Ultraromantik“ von Leonhard Hieronymi, dem ersten Buch von uns das in den Feuilletons kursierte, war es so, dass er dieses aus 15 Punkten bestehende Manifest geschrieben hatte, aber gar nicht von alleine darauf gekommen ist, uns das als Buchidee vorzuschlagen. Eine Verkettung günstiger Umstände führte dazu. Wir wurden damals von Felix Stephan interviewt, der mittlerweile bei der Süddeutschen Zeitung ist, damals aber noch für die Literarischen Welt schrieb, und dem hatte Leo das Manifest auf den Tisch gelegt. Ein paar Wochen später waren wir alle zusammen zu siebt in Leipzig in einer Air BnB-Unterkunft für drei Leute und dann…”]

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Der Autor Till Raether stickt Plattencover, aktuell “Prefab Sprout – Andromeda Heights”. Wunderschön!

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[…]

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Noch bis März kann man in der Arte-Mediathek eine Dokumentation sehen, die es in sich hat: die junge saudi-arabische Dichterin Hissa Hilal trat 2010 mit kritischen Gedichten bei der Fernsehshow Million’s Poet in den Vereinigten Arabischen Emiraten an, die Reality TV Show ist eine der erfolgreichsten Fernsehsendungen der Region und vergibt Preisgelder in Millionenhöhe. Hissa Hilal gewann zwar nicht, riskierte aber ihr Leben für die Lyrik. Dass ihre Lyrik noch nicht auf Deutsch erschienen ist, verwundert uns leider nicht, aber wir würden sie gerne lesen. Und ganz nebenbei haben wir hier auch noch einen Vorschlag gefunden, was man anstatt des wieder aufgegossenen Literarischen Quartetts hätte produzieren können: einen guten alten Dichterwettstreit, gepaart mit einer dicken Menge Entertainment. (Danke an Nadire Y. Biskin für den Hinweis)

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Zu allem Überfluss ist im Februar auch noch Karneval und als ernsthaftes Literaturportal haben wir noch schnell herausgesucht, ob man “Schriftsteller” als Kostüm kaufen kann. Antwort: Man kann, sieht dann zwar aus wie ein Polyester-Shakespeare, aber zumindest liest sich die Produktbeschreibung selbst wie Poesie. (“Es ist ein kostüm exklusive Atosa. mit große menge ornamentacion Es ist. QUALITÄT pasamaners und texturen. Alle die endungen und kanten sind gut”).  Für “Kostüm Schriftstellerin” gab es – wer hätte das ahnen können – übrigens kaum Resultate.

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„Wir sind uns unserer Verantwortung als Deutschlands größte Publikumsverlagsgruppe bewusst und wollen konsequent die ökologische Wende im Verlagswesen vorantreiben, indem wir unseren CO2-Ausstoß nachhaltig reduzieren“, sagt Random House CEO Thomas Rathnow. Die Verlagsgruppe will den Anteil klimaneutral produzierter Titel jährlich um 20% steigern. Das passt gut zum Start des neuen Sachbuch Paperback Programms beim Random House Verlag Goldmann, bei dem man “gesellschaftlich prägende und sich neu entwickelnde Trend- und Zeitgeistthemen für ein wachsendes Lesepublikum veröffentlichen” möchte. Dieser Ausstoß an Produkten wird dann wohl wieder klimamäßig neutralisiert. Ist es das, wovor Rüdiger Safranski gewarnt hat, als er befürchtete “Bald wird vielleicht auch die Kunst unterm Gesichtspunkt des ökologischen Fußabdrucks gesehen.”

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Wo gezählt wird, da entstehen Daten, und diese Daten erzählen eine Geschichte. Zum Beispiel, dass die Kolumnenplätze im Printteil großer Zeitungen und Magazine nach wie vor überwiegend männlich besetzt sind. Das hat Julia Karnick in einem umsichtigen und klugen Text auf ihrem Blog herausgefunden, der von dort aus rege Verbreitung im Internet fand und schließlich über ein Interview mit der taz wieder im Print landete. Dort wiederholt Karnick noch einmal die wichtigste These, die aus der Interpretation der Zahlen abgeleitet wurde. Bei der Frage nach der Form (Kolumne) geht es um Macht: “Natürlich gibt es andere relevante Formate. Aber Kolumnen waren schon immer Aushängeschilder. Da steht jemand mit Gesicht, Namen, Stil und seiner Haltung für ein Medium.”

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Am 29. Januar ist Christoph Meckel gestorben. In der FAZ erinnert sein Lektor Wolfgang Matz in einem kurzen Nachruf an ihn. “Die frühe Entscheidung für die Kunst hat er mit störrischem Eigensinn durchgehalten.” Auch in anderen Medien wurde Meckel mit ausführlichen Nachrufen bedacht. Die große Bestseller-Queen Mary Higgins Clark verstarb am 1. Februar. Einen wirklich ausführlichen Nachruf, mit Würdigung des umfangreichen Werks der global erfolgreichen Krimi- und Thrillerautorin und einer literaturkritischen und zeithistorischen Einordnung haben wir leider nicht gefunden. Zumindest war sie in vielen Medien mit einer Meldung vertreten. Am 17. Februar ist außerdem Ror Wolf verstorben, es gab zahlreiche Nachrufe und auch auf Twitter wurde mit vielen Tweets an ihn erinnert.

Unsichtbare Frauen – Was Daten nicht erzählen

von Cordula Kehr 

 

Die Beobachtung ist eigentlich nicht neu: der prototypische Mensch ist männlich – Frauen sind das Andere, das atypische Geschlecht. Die westliche Kulturgeschichte ist geprägt von diesem Männerzentrismus und die feministische Kritik an ihm füllt inzwischen auch eigene Bibliotheken. Allerdings – und hier setzt Caroline Criado-Perez’ Buch Unsichtbare Frauen an – hat sich in unserer von Daten beherrschten Welt der Kontext verändert, in dem die Perspektiven und Bedürfnisse von Frauen übersehen und übergangen werden: Big Data hat eine geschlechterbezogene Datenlücke. Sie ist sowohl Ausgangspunkt als auch Folge der Diskriminierung von Frauen. 

Big Vagina vs. Big Data

Criado-Perez, die sich auf Twitter als „Lobbyist for Big Vagina“ bezeichnet, nimmt sich in ihrem gerade auf Deutsch erschienenen Buch diesen Gender Data Gap vor. Sechs Themenfelder – Alltagsleben, Arbeitsplatz, Design, Bildergebnis für criado perez Unsichtbare FrauenArztbesuch, Öffentliches Leben und Katastrophenmanagement – nutzt sie als Schauplätze, um evidenzbasiert (also auf Basis empirisch ausgewerteter Daten) die Benachteiligung von Frauen vorzuführen. Es geht ihr darum, die (Gender-)Neutralität von Algorithmen in Frage zu stellen und die weibliche Hälfte der Bevölkerung zu rezentrieren. Denn obwohl wir geradezu manisch Daten sammeln, bleiben Frauen zu oft unsichtbar: „Frauen werden nicht gesehen, und man erinnert sich nicht an sie, weil Daten über Männer den Großteil unseres Wissens ausmachen.“

Wie oft Frauen einen Autounfall überleben, wenn sie selbst am Steuer sitzen? Wissen wir nicht. Dafür kennen wir die Überlebenschancen eines 1,77 m großen und 76 kg schweren Crashtest-Dummys. Wissen wir, welche Nebenwirkungen ein Medikament für Frauen hat, oder nur welche bei männlichen Mäusen auftreten? Berücksichtigen Algorithmen, die Schichtpläne erstellen, dass die meisten Frauen nicht nur Lohnarbeit sondern auch Care-Arbeit leisten?

Die Benachteiligung von Frauen ist weder individuell noch zufällig, sondern strukturell und allgegenwärtig. Anschaulich reiht Criado-Perez in ihrem Buch Studie an Studie und nutzt diese beeindruckende Datenfülle, um mit Nachdruck einen Systemwandel zu fordern. Sorgfältig recherchierte Daten werden durch Storytelling ergänzt, O-Töne betroffener Frauen illustrieren Statistiken, und Criado-Perez schöpft auch mal aus dem Privaten, um das Politische zu erzählen. 

Ohne Storytelling reproduziert sich die Datenlücke

Wie aber lässt sich die Geschichte einer Abwesenheit erzählen? „Es gibt eine Leerstelle in den wissenschaftlichen Daten in Bezug auf Frauen im Allgemeinen […], doch über Schwarze Frauen, behinderte Frauen oder Frauen aus der Arbeiterschicht gibt es praktisch keinerlei wissenschaftliche Daten.“ Damit macht Criado-Perez auf einen grundlegenden Widerspruch ihres Buches aufmerksam: Einerseits argumentiert sie datenbasiert und weist Diskriminierung in Zahlen nach. Andererseits will sie die Folgen und Ursachen der geschlechterbezogenen Datenlücke beschreiben, also über fehlende Daten sprechen. 

Das ist ein Problem! Die Datenlücke potenziert sich, wo es nicht um weiße, nicht-behinderte, wohlhabende, heterosexuelle Frauen geht. Gleich zu Beginn ihres Buches verspricht Criado-Perez deswegen, dass sie intersektionale Daten, soweit vorhanden, immer anführen wird. Sehr selten werden also „Frauen aus ethnischen Minderheiten“ oder „Frauen aus der Arbeiterschicht“ sichtbar. Und Criado-Perez erinnert wiederholt daran, dass nicht alle Frauen in gleicher Weise benachteiligt sind, selbst wenn ihr keine Daten zu Mehrfachdiskriminierungen vorliegen. 

An einigen entscheidenden Stellen verzichtet die Autorin dann aber darauf, ihren Blick intersektional zu weiten und Positionen zu benennen, die von der weiblichen Mehrheitsperspektive abweichen. So ignoriert sie die Sicht von Frauen mit Behinderung auf Mobilität, von Frauen of Color auf Care-Arbeit und von queeren Personen auf Zweigeschlechtlichkeit. Das ist nicht einfach eine Frage der fehlenden Repräsentation. Bei vielen Themen, die das Buch anschneidet, fällt es nicht besonders ins Gewicht, dass eine vermeintlich homogene Gruppe von Frauen konstruiert wird. In den genannten Fällen verzerrt die fehlende Differenzierung aber den Blick auf vorhandene Ausschlüsse. 

Frauen mit Behinderung brauchen zum Teil andere öffentliche Mobilitätsangebote und sind stärker auf Barriereabbau im öffentlichen Raum angewiesen als Frauen ohne Behinderung. Persönliche Mobilität ist nicht umsonst ein eigener Artikel der UN-Behindertenrechtskonvention. Es gibt Studien die zeigen, dass weiße Frauen nicht in gleichem Maße Care-Arbeit leisten wie Frauen of Color, weil sie sich häufiger davon freikaufen können. Man fragt sich, warum diese Zusammenhänge im Buch unterbelichtet bleiben.

Die Probleme des Buches zeigen sich etwa in der Art, wie die Autorin die folgende Anekdote zu genderneutralen Toiletten verwendet, ohne die Perspektive queerer Personen auf Zweigeschlechtlichkeit zu berücksichtigen: „Im April 2017 wollte die erfahrene BBC-Journalistin Samira Ahmed auf die Toilette gehen. Sie war gerade bei einer Pressevorführung […] im berühmten Barbican Arts Centre in London […].“ Als Ahmed in der Pause die Toilette aufsuchen will, ist die Schlange noch länger als üblich: „Wie um in fast komischer Manier zu beweisen, dass an Frauen kein bisschen gedacht worden war, hatte das Barbican sowohl die Herren- als auch die Damentoiletten geschlechtsneutral gestaltet. Die Schilder für „Männer“ und „Frauen“ waren durch die Hinweise „geschlechtsneutral mit Urinalen“ und „geschlechtsneutral mit Kabinen“ ersetzt worden. Es geschah das Naheliegende: Nur Männer benutzten die angeblich ‚geschlechtsneutralen‘ Toiletten ‚mit Urinalen‘, und beide Geschlechter benutzten die ‚geschlechtsneutralen mit Kabinen‘.“

Criado-Perez nutzt in ihrem Buch Anekdoten, um starke Identifikationsmomente zu schaffen. Aber warum nutzt sie sie nicht, um genau die Perspektiven sichtbar zu machen, die in der Datenlücke verschwinden? Geschlechtsneutrale Toiletten richten sich an queere Personen, die sich jenseits der zweigeschlechtlichen Norm verorten und sich auf „Herren- und Damentoiletten“ nicht wohl fühlen. Wer wie Criado-Perez beklagt, dass Männer Frauenanliegen auf die Zeit nach der Revolution verschieben wollen, sollte aufpassen, nicht selbst Perspektiven zu marginalisieren, die in der geschlechterbezogenen Datenerhebung nicht sichtbar werden. Wer nicht gezählt wird, zählt nicht – das trifft bei Studien über Männer und Frauen auf alle zu, die sich jenseits der zweigeschlechtlichen Norm verorten. Das hätte man zumindest kurz erwähnen können, wenn man Anekdoten über genderneutrale Toiletten erzählt.

Gleichstellung: eine Frage fehlender Daten?

Und apropos nicht gezählt werden: Kurz vor der Oscar-Verleihung vor zwei Wochen forderte die Journalistin Ann Mbuti im monopol Magazin, dass wir mit dem Zählen aufhören: Unter Hashtags wie #OscarsSoWhite und #OscarsSoMale würde nur gezählt, wer fehle, die Ursachen der ungerechten Strukturen würden nicht analysiert. Das System ändere sich so nicht, egal wie oft wir Oscars zählten.

Natürlich ist Gleichstellung nicht einfach eine Frage vorhandener oder fehlender Daten. Es reicht nicht, geschlechterbezogene Daten zu erheben und Benachteiligungen sichtbar zu machen. Entscheidungsträger*innen müssen aus diesen Daten auch einen Handlungsbedarf ableiten. Criado-Perez plädiert in ihrem Buch deshalb nicht nur dafür, Gleichstellungsdaten zu erheben, sondern diese auch zu nutzen. Was aber hindert Entscheidungsträger*innen daran, evidenzbasierte Politik zu machen? Natürlich ist es immer leicht, Bedürfnisse zu übersehen – ob absichtlich oder unabsichtlich –, die nicht die eigenen sind.

Criado-Perez benennt aber auch den offenen Widerstand gegen Gleichstellungspolitik, der sich z.B. in Form sexistischer Shitstorms äußert. (Der Verdacht liegt nahe, Männer, die nicht genug Care Arbeit leisten, haben zu viel Zeit, um im Internet zu trollen.) Und gerade privilegierte Menschen hängen oft dem Mythos der Meritokratie an, der ihnen suggeriert, ihre gesellschaftliche Stellung sei allein eine persönliche Leistung, die sie ihrem Talent zu verdanken haben. 

„Dieser Mythos verstellt den Blick auf die institutionalisierte Bevorzugung weißer Männer. Und er ist leider bemerkenswert immun gegen die seit Jahrzehnten bekannten Fakten, die ihn als Fantasie entlarven. Wenn wir diesen Mythos abschaffen wollen, genügt die bloße Datenerhebung nicht.“  

Criado-Perez nennt Quoten, finanzielle Anreize und gesetzliche Verpflichtungen sowie bessere Meldestrukturen für Diskriminierungsfälle als mögliche politische Stellschrauben, um Gleichberechtigung zu erwirken. Um diese Schrauben anzubringen, brauche es aber mehr Politikerinnen, und dazu brauche es wiederum Quoten und ein frauenfreundlicheres Arbeitsklima in der Politik. Was also tun?

Unsichtbare Frauen von Caroline Criado-Perez ist ein Plädoyer dafür, den Gender Data Gap zu schließen. Es ist keine Anleitung, wie man die politischen Widerstände auf dem Weg dorthin überwindet. Vielleicht kann es aber zum Gesprächsanlass werden, um datenbasiert über Benachteiligung zu sprechen und – im Gespräch – intersektionale Datenlücken durch Storytelling zu verkleinern. Dann könnte dieses Buch zum Ausgangspunkt einer solidarischen feministischen Bündnispolitik werden.

 

Photo by Crissy Jarvis on Unsplash

Randnotizen

Manchmal stößt man beim Scrollen durch die Timeline auf Texte, die den gewöhnlichen Strom aus Neuigkeiten, Selbstnarrativierungen und Sprachspielen weit hinter sich lassen und Statusmeldungen in Literatur verwandeln – Elisa Asevas Beiträge auf Facebook gehören zu diesem Genre. Wir freuen uns daher, dass wir Texte von Elisa Aseva in der Reihe 54stories präsentieren können.

 

10.11.2018, 21:45 Uhr

beim aufräumen die unscharfen fotos.
du auf dem sofabett, vor dem kacheltisch mit kram drauf.
das war der winter in dem wir die eissorten mit den meisten chemischen zusätzen durchgingen.
und die verfügbaren bestellservices, am liebsten chinabox wegen der verpackung mit den süßen drachen. es war der winter in dem wir uns die schwere decke teilten.
es gab nur diese eine, aber sie war groß wie ein see oder ein schwimmbad.
groß genug jedenfalls um nur kurz daraus aufzutauchen, aufs klo zu gehen oder das eis aus dem fach zu holen.
manchmal schwammen wir darin. ich suchte deine hand.
und dann gleiten durch die unterdecketiefen

– – –

rauhe seesternhaut, anemonenblick.

hörst du die wale?
jaaa.

– – –

wir durchfluteten uns, tauchten ineinander, neben dem griff in die chipstüte oder zur fernbedienung.
unser atem legte eisblumen auf die fenster, wir freuten uns darüber.
noch eines dieser wunder.
als immer öfter die türklingel ging, hielten wir die luft an um das lachen zu verdrücken. wenn es gar nicht mehr ging, pressten wir die münder in die decke und lachten stumm hinein.
du suchtest meine hand.
nachdem die heizung abgeschaltet wurde wärmten wir aus dem backofen, unserem “kamin” und tauchten noch tiefer hinab. bis es in den ohren rauschte.

bis ich eines morgens erwachte, aus dem bett und über die im zimmer verstreuten tüten und eisschalen stieg und vorsichtig die tür zuzog.
der morgenverkehr stand noch bevor, die strasse lag leer. durch den pyjama spürte ich warmen wind + beschloss dem salz in der luft zu folgen.

hey. ich hoffe es geht dir gut.
keine offenen rechnungen für nessie

 

24.11.2018, 15:46 Uhr

warte! nur noch rasch
den honig erwärmen bevor ich ihn dir
über die blassen kokosbrüste gieße
das fenster öffnen auf dass
schwarzer sesam hereinwehe
und kältemoleküle
deine süße speise kosten
rieche donner atme blitz
wenn sich die temperaturen
auf meiner zunge
begegnen

 

22.01.2019, 13:37

die deutschen mit ihrem distanzfetisch. selbst in engeren freundeskreisen gibt es recht klare vorstellungen, dies das sei PRIVAT, jenes schon wirklich grenzüberschreitend + wer zuviel von sich zeigt mindestens bemitleidenswert.

vielleicht hat der nationalsozialismus einen verborgenen dabei physischen ekel hinterlassen.
gefühle, so scheint es jedenfalls, schmecken den deutschen so gut wie saure milch.
+ nähe ist wenn du die toilette von einer person übernimmst nur um mitten in ihren dämpfen zu stehen

 

8.4.2019, 16:26 Uhr

geht man mit 1 kind an der hand durch 1 dunklen wald
wird man größer ruhiger stärker weil die ganze angst nun beim kind ist

das ist das seltsame talent der kinder

 

4.7.2019, 19:52 Uhr

ausländisch

ausländer – der begriff ist heute etwas verpönt aber ich hab ihn gern.
fragt mich wer ob ich deutsche sei sage ich:
gott nee, ich bin ausländerin.
auf weitere nachfrage dann: afrikanerin.
das gerne weil es leute oft richtig stört (“echt afrika? sieht man gar nicht so bei dir. dachte
brasilien/kuba/philippinen”). + es stimmt schon nur noch so halb, auch in äthiopien bleibe ich
ausländerin.

ein freies weites wort.
ich will wohnen wo die ausländer*innen sind, essen mit den ausländern,
ausländisch lieben, denken + wichtig: trauern – das machen sie hier einfach nicht.
ich träume also davon dass wenn ich einmal sterbe alle zu ausländer*innen geworden sind, jede für sich.

in den menschen liegt ein ausland. + wer weiß.
vielleicht grenzen wir mal aneinander

 

7.9.2019, 14:31 Uhr

alle reden vom osten, einige sind von dort, manche waren mal da.
mein bruder zb.
1993 wurde er per zvs dekret nach greifswald zum studium entsandt. bitten + flehen halfen nichts – nur weil da gerade ausländer abgefackelt werden können wir nicht das gesamte SYSTEM umstellen, schließlich immer noch deutschland, hier bekommt niemand eine extrawurst. na gut.
brav reihte sich mein bruder jeden zweiten tag in die ewige schlange vor der telefonzelle ein um seiner schwester + seiner mutter zu versichern “hallo hab’s wieder überlebt, bin immer noch da”. recht schnell wurde er teil einer clique von ausländer-medizinstudis – ein schweiz-iraner, ein weiterer äthiopier + ein fliegerjackentragender grieche namens stavros kanakis.
an den weiten ostseestränden träumten sie vom gewinn der greencardlotterie, einem discobesuch ohne stress + der gutlaufenden gemeinschaftspraxis. gemeinsam flohen sie vor faschos, letschogemüse + dem nächsten staatsexamen.

heute arbeiten alle als ärzte.
2 von 4 sollten eine psychotische episode erleben.
1 gewann tatsächlich bei der green card lottery.
3 sind nach jetzigem stand eltern von mehr als 1 kind.
stavros trägt immer noch den besten nachnamen der welt.
geblieben ist keiner

 

6.11.2019, 21:43 Uhr

gut küssen ist wenn’s flüssig wird. nein nicht nur spucke
ich meine tiefer, in den muskeln + anderen verhärtungen.
gut küssen ist wenn ich dich erreiche, halbfest
+ halbweich mache; nicht so dass du matsch wirst.
gut küssen ist zahnfleisch.
gut küssen ist fallen aber ohne angst. nach unten nach oben
hin + weg.
gut küssen ist eine gelegenheit:
in die wellen werfen + auf den grund sinken.
die fähigkeit besteht darin nicht ans ersticken zu denken.
wir atmen luft für generationen.
gut küssen wäscht ängstlichen furcht ab,
religiösen den glauben, müttern die sorgen.
wir senden fluten.
algen wehen, quallen steigen aus den brücken.

komm her koralle. dein riff setzt mich frei

 

5.12.2019, 07:33

ob es nochmal schneien wird?
in berlin macht mich das immer fertig, der unausweichliche matsch, die schmutzige beschwerlichkeit. beides in der stadt ohnehin reichlich vorhanden, nach dem schneefall kippt es dann. gut, das eine aufgeregte wochenende an dem isolierverpackte kinderballen in die parks strömen. ihre schlitten hinterlassen zugspuren, darin reste von silvesterknallern.
hier diese farbe von altem blut, da an der baumscheibe sulfursprenkel. von der hauswand wölben plakate runter – pisse diese band die sie jetzt mögen hat schon wieder gespielt. urin wäre der bessere name gewesen.
sowas regt mich manchmal auf, wenn es so naheliegend ist. nein es regt mich nicht auf. nur ein halber schmelzender egalgedanke.
bald wird es tropfen. schnee schmerzt mich, wenn er fällt hält alles andere an.

wir stehen am fenster, sehen durch die atembeschlagene scheibe. wechselndes ampellicht.
ich will die welt runterzählen, bis auf deine haut bis auf jedes wort dass es jetzt nicht braucht. bleib.

die autos fahren an, ziehen die verwehten bremswege nach. kiesel, kajal. ich setze kaffee auf, schalte das radio an. es wird nichts liegenbleiben, glättegefahr.
vielleicht schneit es auch einfach nicht mehr, nicht mehr so richtig. noch eine verletzliche stelle weniger.

 

7.12.2019, 15:02 Uhr

ostern

meine mutter hat zeitweise in einer grundschule geputzt die ich auch besuchte, sie erledigte das am frühen abend oder auch wochenends.
es kam vor, ergab sich aber nicht oft dass ich sie begleitete. ich half ihr dann mit kleinigkeiten wie dem reinigen der waschbecken (wichtig: armaturen zum glänzen bringen) oder der spiegel aber die meiste zeit saß ich nur auf den garderobebänken herum + las.
einmal bekam meine mutter einen anfall – erst atemnot dann spuckte sie in die toilette. ich durfte nicht nah herankommen sah aber rote spritzer auf dem boden.

ein andermal lagen osterkörbe, wir hatten sie am vormittag gebastelt + befüllt, auf dem fensterbrett gereiht. 24 osterhasen sahen mich an, eigentümliches gefühl. aus den besonders vollen körben nahm ich jeweils eine kleinigkeit heraus.
den nachhauseweg über war ich voller angst meine mutter könnte meinen schatz entdecken, aber mehr noch, jemand, etwas hätte draussen in der dämmerung in den büschen gesessen + mich im erleuchteten klassenzimmer beim stehlen beobachtet.
nächster morgen am selben ort:
wir bekamen die körbe ausgehändigt, der süßigkeiten-tauschhandel war umgehend eröffnet + niemand schien etwas zu vermissen oder zu bemerken. ich spürte nicht unbedingt schuld – mehr eine art weisung von den meisten dingen zu schweigen.

vielleicht war aber auch nichts geschehen. vielleicht war ich gestern nicht hier gewesen, meine mutter nicht krank, lauerte nichts da draussen wenn es dunkel wurde. vielleicht bildete ich es mir wirklich nur ein das leben

 

 

Elisa Aseva – lebt in Berlin + schreibt auf Facebook