Jahr: 2020

Podcast-Kolumne: “Call Your Girlfriend”

von Svenja Reiner

 

Als ich in die 5. Klasse kam, waren meine Eltern sehr besorgt und drohten mir, alle meine Bücher zu verstecken, sollte ich nicht wenigstens zwei oder drei Nachmittage in der Woche mit Gleichaltrigen verbringen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass diese Anekdote nach einer halbgaren Young Adult-Erzählung klingt, für die mein Vorname zu sperrig ist, und ich bin nicht einmal sicher, ob die angedrohte Maßnahme jemals umgesetzt wurde. Aber ich erinnere mich an eine zweite große Pause, in der ich verzweifelt versuchte, irgendein Mädchen aus meiner Klasse zu überreden, mich nach Schulschluss zu treffen.

Irgendwann habe ich soziale Konventionen gelernt und bis heute sind mir Freund*innenschaften wertvoller als Gold. Bekannte sammelt man in Großstädten in der Toilettenschlange oder auf schlecht gematchten Tinderdates, Affären findet man durch glücklichere Swipes. Aber richtige Freund*innen sind selten und schwer zu bekommen. Selbst wenn es vermutlich bei wenigen Menschen zu ähnlichen Szenarien kam wie auf meinem Schulhof, ist das Finden und Pflegen von Freund*innenschaften eine ganze eigene Herausforderung, über die in unserer Gesellschaft wenig gesprochen und noch weniger gewusst wird. Aminatou Sow und Ann Friedman sind Freundinnen und die Hosts von Call Your Girlfrienda podcast for long-distance besties everywhere – und haben mich in den vergangenen Jahren einiges über  Geld, Queerness in Rural America, Sex Ed, Hautpflege, Scamming, Gossip, Steuern, US-Politik und Shine Theory gelehrt. Als halbwegs anglophiler Mensch mit Twitteraccount hatte ich immer den Eindruck, wenigstens eine ansatzweise fundierte Meinung zu diesen Themen zu haben. Nach den ersten Sätzen jeder Folge erinnerte ich mich regelmäßig daran, dass es schon einen Grund gibt, warum mir nie jemand ein Mikrofon unter die Nase hält. 

Aminatou und Ann treffen in ihren Gesprächen den sweet spot zwischen Millenial’scher Lässigkeit, informiertem Journalismus, intersektionalem Feminismus und tongue-in-cheek teasing. Die beiden wichtigsten Wörter des Podcasts sind Ugh und Structural. Nebenbei führen sie eloquente Gespräche mit Zadie Smith, Jessica Hopper, Gloria SteinemTracy K. Smith, Rebecca Traister und Hillary Clinton, als wäre sie ebenfalls langjährig befreundet. Über ihre eigene Beziehung haben Ann und Aminatou dieses Jahr ihr Buch Big Friendship: How We Keep Each Other Close (2020, Simon & Schuster) geschrieben. In den neun Folgen, die die beiden parallel als quasi digitale Lesereise im Summer of Friendship veröffentlichten, zeigt sich, wie ernsthaft sie ihre Beziehung betrachten.

Das Buch ist kein nostalgisches Memoir großartiger Momente, es geht den beiden um die Untersuchung einer besonderen Verbindung.  Der Umstand, dass Aminatou in Guinea geboren wurde, in Nigeria, Belgien und Frankreich aufwuchs, und Schwarz ist, und dass Ann weiß ist und aus Iowa  kommt, verleiht dieser Freundschaft politische Dimensionen. Race spielt im Miteinander der beiden daher ebenso eine Rolle wie die Entwicklung von Sameness oder Complementary Schismogenesis, die Herausforderung, eine long distance Freund*innenschaft 10 Jahre oder länger zu führen. Die beiden analysieren, wie schwierig es für sie war, Konflikte zu erkennen und anzusprechen – denn sind Big Friendships nicht diejenigen, in denen man sich ohne Worte versteht? Und sie reden offen darüber, wie sie schließlich eine Therapie machten um sich nicht zu verlieren. 

Es wäre zu kurz gegriffen, Aminatou Sow und Ann Friedman nur als Couple zu betrachten – Sow ist Geschäftsfrau, Digital Strategist und erfolgreiche Mitgründerin von Tech LadyMafia, Friedman ist Journalistin und schreibt sehr lesenswerte Features, Essays, Profiles und Interviews. Aber ihre Verbindung ist etwas Besonderes und hat schon vielen Belastungen standgehalten. Den Wegzug von Ann an die Westküste etwa, der der Beginn des Podcasts war, oder Aminatous Krebserkrankung, in deren Folge Ann eine landesweite Blutspendenaktion organisierte (#Bleedin4Amina). Wenn Corona vielleicht dazu geführt hat, dass viele unserer Freund*innenschaften sich ein bisschen long distance anfühlen oder es tatsächlich geworden sind, ist Call Your Girlfriend ein Vorbild dafür, wie man diese besonderen Beziehungen pflegen und wertschätzen kann. Wem durch Sorgearbeit oder Mehrbelastung die Zeit fehlt, kann zumindest den beiden lauschen oder ihren Newsletter The Bleed lesen. See You On The Internet.

 

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[Atelier NRW] Nabelschau

Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.

Einleitung von Dorian Steinhoff
Über das Leben der Ideen im Verborgenen von Sabrina Janesch

 

 

Von Yannic Han Biao Federer

Ich dachte, ich würde es mögen, einmal poetologisch zu schreiben, einmal poetologisch nachzudenken, einmal systematisch eine Position herauszuarbeiten, die ich einnehmen möchte, die ich vertreten möchte, für die ich stehen möchte, und wie immer, wenn ich mir vorstelle, was ich geschrieben haben werde und wie ich es geschrieben haben werde, wirkt es ganz einfach und logisch und zwingend, ich freue mich sogar, mich hinzusetzen, Kaffee, Blick aus dem Fenster, blinkender Cursor, einatmen, ausatmen, und schon verdichten sich die Buchstaben zu Sätzen zu Absätzen zu Seiten zu Argumenten und es ist ganz wunderbar, aber das Futur Zwei ist die unliterarischste Tempusform, die es gibt, es überspringt alle Verlaufsform, setzt vor vollendete Tatsachen, die aber noch gar nicht vollendet sind, die es also nicht gibt, das Futur Zwei lügt. Die Wahrheit ist immer der nächste Satz und nichts als der nächste Satz, die Wahrheit ist immer, ob sich die Sprache fügt und mir erlaubt, zu erzählen, was ich erzählen will, oder ob sie es nicht tut. Obwohl, nein, so ist es nicht, es ist vielmehr so: Die Wahrheit ist immer, was die Sprache mir aufzwingt zu erzählen. Obwohl, nein, so ist es auch nicht, es ist vielmehr so: Die Wahrheit ist immer, was ich zu schreiben versuche und was die Sprache dann mit mir anstellt, dass ich am Ende das Gefühl habe, das, was ich geschrieben habe, von Anfang an zu schreiben vorgehabt zu haben.

Das Geschriebenhabenwerden ist eine Schablone und nicht die erste und nicht die einzige, wir sind umgeben von Schablonen und wir brauchen sie auch, sonst stünden wir an der Dönerbude und hinter uns eine anschwellende Masse an Wartenden, die uns irgendwann beiseite schöbe, weil wir noch immer nicht artikuliert bekämen, was das ist, eine Salattasche mit extra Soße. Schablonen sind völlig in Ordnung.

Schablonen braucht es auch, wenn wir über Texte sprechen, wir sagen, dies ist ein Eifel-Krimi und jenes eine Fouché-Biographie, dies ist ein historischer Roman und jenes Antikriegsliteratur, dies ist ein Coming-of-age-Roman und jenes ein postmodernistisches Spiel mit Fiktionsebenen. Und die Schubladisierung erschöpft sich nicht in diesen Genrekonventionen, wir müssen dem Text auch immer eine Intention mit auf den Weg geben, wir müssen sagen, es geht um, als hätte sich da jemand hingesetzt und gesagt, Migration, darüber sollte man mal schreiben, oder, Klimawandel, das ist doch mal ein Thema, oder, die besorgten Bürger, über die sollte man was machen, als wäre das Esgehtum nicht immer eine retrospektive Selbstinterpretation, als wäre Schreiben nicht ein störrischer Hund, der sich wie tot auf den Boden wirft, wenn man ihn zu streng führt, er läuft nur brav durch den Park, wenn man ihm Leine lässt und erst hinterher guckt, wie man wieder nach Hause kommt.

Und schon die erste Falle am Poetologischen, ich hypostasiere das, was ich von mir selbst annehme, als das, was allgemein der Fall ist, stülpe anderen mein Unvermögen über, vielleicht gibt es sie ja zu Hauf, die von Anfang an wissen, was sie schreiben, und es dann auch tun, die Grenze meines Vorstellungsvermögens ist ja nicht die Grenze der Welt, nur die der meinen.

Aber es ist kein Ästhetizismus, dem Hund durch den Park zu folgen, es ist kein weltbefreites Schwelgen im rhetorisch Möglichen, es ist kein Sichsuhlen im schön schwingenden Sprachmaterial, es ist etwas anderes, weil die Scheiße, die der Hund wittert, die Pisse, die der Hund aus all dem bunten Laub herausschnüffelt, die Verwesungsdämpfe, die der Hund immer deutlicher in seiner empfindsamen Nase spürt, nichts davon hätte man geahnt, nichts davon gefunden, ohne ihn, der Hund ist auf Fährten unterwegs, die da sind, die wir aber auf den vorgefertigten Pfaden der Landschaftsgärtnerei beständig umgehen und zwar weiträumig.

Nota bene, es geht nicht um Tabubrecherei, die elenden Tabubrecher haben keine Ahnung, was Tabu bedeutet, sie wissen nicht, woher der Begriff kommt und was er eigentlich soll, bitte nachlesen, Triebregulation als Grundvoraussetzung von Kultur, bitte nachblättern, bevor noch einer mit der alten Tabubrechernummer kommt.

Wenn das Erzählen sich von Silbe zu Silbe, von Wort zu Wort, von Satz zu Satz, von Absatz zu Absatz, von Seite zu Seite in den Text hineinwagt, passiert etwas, das die alltägliche Schnellsprecherei nicht leisten kann. Während sich das Schnellsprechen zur Komplexitätsreduktion auf Vorselegiertes, auf Verhärtetes, auf Strukturen verlassen muss, auf Abstraktionen also, kann das Erzählen das Einzelne und Genaue und Konkrete ins Licht rücken. Und es kann dabei von Selektionsmoment zu Selektionsmoment neu und frei sein, es kann dabei prüfen, wie plausibel und glaubhaft jede einzelne Selektion verläuft und verlaufen soll, es kann sich also vortasten in eine imaginierte Wirklichkeit, die aber ein bestimmtes Verhältnis zur wirklichen Wirklichkeit behält, und es kann auf diese Weise etwas beschreiben, das sonst nicht beschrieben werden könnte, es kann die Wahrnehmung entautomatisieren, wenn ich diesen alten Hut einmal bemühen darf, und es hat die Möglichkeit, die vielleicht nicht zwingende Notwendigkeit, aber doch die mögliche Möglichkeit, die Schablonen zu zertrümmern.

Und dann eben doch das Problem des Themas, denn wenn der Hund einmal eifrig unterwegs gewesen ist und wir stolpernd, schwitzend hinterdrein, wenn wir dann, schlammstrotzend und nach Exkrementen stinkend, zurück sind, auf der Matte stehen, der Hund glücklich hechelnd, ist die erste Frage immer: Um was geht’s, um was geht‘s in deinem Text?

Um was geht’s, das ist die Minimalformel des Thematismus und der Thematismus ist ein Alchemist, er erntet ausufernde Erzählungen, die reich sind an Welt und Phantasie und Glaubeliebehoffnung, er pflückt und sammelt alles, was die Menschheit schreibend zustande bringen kann, er köchelt es, er destilliert es, es blubbert und faucht, und am Ende, ein edles Elixier, das spricht: Es geht um Vergänglichkeit. Oder. Es geht um die Wende. Oder. Es geht um Glenn Gould.

Das heißt, der Text, der sich mühsam aus den Schablonen herausgewunden hat, bedarf anschließend doch wieder einer Schablone, er muss reschablonisiert werden, denn er muss ja zurück in die Schablonenhaftigkeit der Welt, ein dauerndes Exil davon gibt es nur auf einsamen Bergen, auf denen Einsiedlerinnen und Einsiedler sich meditierend in verlassene Höhlen zurückgezogen haben, abseits davon nichts als Schablonen, es ist halt so, es ist halt so, es geht nicht anders, es muss so sein.

Wenn dem aber so ist, dann ist eines von zentraler Bedeutung, nämlich die Reihenfolge und die Essentialität der Umleitung, es kann nicht sein, es darf nicht sein, dass die Reschablonisierung des Entschablonisierten zur Totalschablone verkürzt wird, es kann nicht angehen, dass man den Umweg, der Literatur heißt, verkürzt auf eine erzählerische Aufpolsterung jener Schablonen, die später auf der Klappe stehen sollen, es ist fatal, den Themen zu folgen, also dem, was relevant ist, denn Relevanz ist irrelevant.

(Also. Für mich.)

Die Relevanz, die sie meinen, ist die gesellschaftliche Relevanz, und die gesellschaftliche Relevanz, die sie meinen, ist die, die im Politikteil steht und im Wirtschaftsteil und im Wissensteil und im Feuilleton und vielleicht noch im Magazin zum Wochenende. Die Gesellschaft, die sie meinen, ist also in Wirklichkeit nicht die Gesellschaft, sondern der enge, wabernde Raum zwischen den Systemen der Gesellschaft, aus deren membranartiger Oberfläche immer nur so viel dringt, wie in der allerallgemeinsten Sphäre verdaulich ist, es sind nichts als Abbauprodukte eigenlogischer Operationsweisen, die innerhalb der Systeme ganz anderes bedeutet haben mögen oder nichts bedeutet haben mögen oder nicht mehr oder längst wieder, aber, und darauf kommt es an: Die Gesellschaft, die sie meinen, ist nicht die Gesellschaft, sondern nur die Zeitung neben ihrer Müslischale, die tagsdarauf schon welk in der Papiertonne liegt.

Literatur schreiben zu wollen, die gesellschaftlich relevant ist, heißt also zweierlei, nämlich einerseits den Umweg der Reschablonisierung des Entschablonisierten einzubetonieren zu Gunsten einer Schablonenautobahn, und andererseits die Gesellschaft mit ihrer publizistischen Oberfläche zu verwechseln. Die Gesellschaft, wenn man sie wirklich meinen möchte, kann dem Nomen Relevanz weder adjektivisch noch sonstwie attribuiert werden, denn die Gesellschaft ist alles, die Gesellschaft meint alles, die Gesellschaft hat kein Außen. Relevanz dagegen bedürfte eines Teilbereichs, der sich vom Irrelevanten unterscheiden müsste, und diese Unterscheidung ist eine, die jedes gesellschaftliche Subsystem jeweils für sich operationalisieren muss, die Gesellschaft als Ganze kann davon nichts wissen, wie die Petrischale nichts davon wissen kann, was die Bakterien, die sich auf ihr mehren, am liebsten fressen.

Es gibt einen bewährten Ausgangspunkt für ein Erzählen, das sich den Schablonen entziehen kann, das sich abseits aller Relevanzzwänge bewegt, das sich frei macht, frei selegiert, von Beobachtung zu Beobachtung zu Beobachtung, von Silbe zu Silbe zu Silbe, Satz zu Satz zu Satz, und so fort, und das dabei den eigenen Blick miterzählt, gewissermaßen einen Rückspiegel mitführt, der die jeweilige Linsenkrümmung des Beobachtenden beim Beobachten mitbeobachtet, also die Relativität des eigenen Schauens und Sagens transparent macht, es ist ein Erzählen, das oft autofiktional genannt wird, obwohl das eine trügerische Schablone ist, denn im Kern besitzt jedes Erzählen, das sich der Schablonenhaftigkeit der Welt für eine Zeit zu entziehen vermag, einen autofiktionalen Glutkern, eine eigene Beobachtung, einen eigenen Weltzugang, denn sonst blieben ja nichts als Schablonen. Autofiktionalität ist also etwas, das ein entschablonisiertes Erzählen offen ausstellen kann oder nicht ausstellen kann, das aber an und für sich immer sein mehr oder weniger verhüllter Motor ist, denn Fiktion ist ja immer die Fiktion von Fiktion, alles ist von irgendwoher genommen worden und somit Verwertung, Wertschöpfung, Ökonomie.

Das offen autofiktionale Erzählen ist aber auch ein Erzählen, das in seiner Reschablonisierungsbewegung regelmäßig mit dem Vorwurf konfrontiert wird, nichts als ein Kreisen um den eigenen Bauchnabel zu sein, vor allem dann, wenn das aus der Ferne attestierte Milieu des Bauchnabelinhabers oder der Bauchnabelinhaberin keines ist, das gerade in die Mühlen der Relevanzschablonen geraten ist. Die aber, die in die Mühlen geraten sind, das möchte ich betonen, sind sicher nicht zu beneiden, denn es mag der Publicity dienlich sein, den Aufmachern und Lead-Sätzen, doch über dem Relevanzgeheul geht immer eines unter, nämlich die literarische Qualität ihres Textes, der fortan nur noch mit den Totschlagformeln der Titelseiten traktiert wird, statt dem unter Umständen minutiös Beobachteten zu folgen, dem genau Erzählten, dem schön Geschriebenen. Scheinbar bauchnabellos werden sie als Zeuginnen und Zeugen gehandelt, verschachert, als Aufschreiberinnen und Aufschreiber von Authentischem, der ästhetische Eigensinn ihrer Texte wird zur Registratur von Realität degradiert, das heißt, zur Reaffirmierung des bereits Schablonisierten herangezogen, sie werden enteignet, ihr Bauchnabel vergesellschaftet.

Vielleicht also doch eine Position, die ich beziehen kann, für die ich einstehen kann, ich zergliedere sie in drei Thesen.

Erstens: Der Bauchnabel ist ein Guckloch. Man bedient sich der redlichsten aller Weltzugänge, der Beobachtung nämlich, die nicht nur sieht, was man sieht, sondern auch sieht, was man nicht sieht, oder: dass man etwas nicht sieht. Es ist die Beobachtung der Welt und zugleich die Beobachtung der gekrümmten Linse, mit der man die Welt beobachtet. Mehr kann man nicht beobachten, weil gekrümmte Linse.

Zweitens: Relevanz ist ein Dispositiv, mit dem das Schreiben über die Welt in einer bestimmten Weise zugerichtet werden kann, um das Schablonenhafte zu schonen und zu streicheln und zu pflegen und ihm artig zuzuhauchen, morgen wieder, morgen wieder, morgen wieder.

Drittens: Kunst ist das Künftige. Und das Künftige ist irrelevant, denn die Relevanzschablonen sind immer nur von heute. (Manchmal von gestern.) Zukunftswissen aber, so beschreibt es die Soziologin Maren Lehmann, ist dasjenige Wissen, das von seiner eigenen Relevanz nichts wissen kann. Denn die kommt ja erst noch. Im Schablonentempo.

„Deutsche Verlage wollen keine Literatur“ – Ein Interview mit Mahmoud Hosseini Zad

Mahmoud Hosseini Zad hat Dürrenmatt, Brecht und zuletzt die Tagebücher von David Rubinowicz ins Persische übersetzt, wurde 2013 mit der Goethe-Medaille geehrt. Während deutsche Literatur in Iran viele Leser findet, beklagt er Desinteresse und Einseitigkeit bei deutschen Verlagen. Gerrit Wustmann hat mit ihm gesprochen. 

 

In Iran erscheint wahnsinnig viel europäische und amerikanische Literatur in Übersetzung… 

Mahmoud Hosseini Zad: Wir sind stark von Übersetzungen abhängig, nicht nur in der Literatur. Auch in der Technik, Medizin, Psychologie, Philosophie. Das schadet uns auch, wenn wir nichts selbst schreiben, sondern nur das übersetzen, was andere geschrieben haben. Übersetzer sind daher sehr respektiert. Das geht so weit, dass auf manchen Büchern der Name des Übersetzers größer gedruckt wird als der Name des Autors. Und weil Iran das Copyright-Abkommen nicht unterzeichnet hat wird oft mehrfach übersetzt, denn die Rechte kosten ja nichts. Wenn ein neues Buch von Murakami erscheint machen sich direkt zwanzig Übersetzer an die Arbeit.

Seit wann ist das so?

Mahmoud Hosseini Zad: Ich habe mal recherchiert, wie viele Werke aus dem Deutschen ins Persische übersetzt wurden. Über Jahrzehnte war das sehr wenig, von 1921 bis 2015 waren es gerade mal etwa 380 Bücher. Aber zuletzt gab es eine Explosion. Von 2015 bis 2018 waren es 530 Bücher.

Wie kommt das?

Mahmoud Hosseini Zad: Dass bei uns so viel übersetzt wird hat mehrere Gründe. Zum einen die Leser. Es gibt nicht wenige, die grundsätzlich keine iranische Literatur lesen, sondern nur Übersetzungen. Aber es liegt auch an der Verlagswelt. Weil es so einfach ist, eine Verlagslizenz zu bekommen, gibt es rund 18.000 kleine Verlage, die müssen aber jedes Jahr wenigstens eine Handvoll Bücher publizieren. Sonst verlieren sie die Lizenz wieder. Aber es gibt schon auch ein Publikum, besonders für deutsche Literatur.

Welche AutorInnen werden denn bevorzugt gelesen?

Mahmoud Hosseini Zad: Das erste deutsche Buch, das meines Wissens übersetzt wurde, war 1921 der Roman „Ein Kampf um Rom“ von Felix Dahn. Das zweite war Goethes „Werther“. Das zeigt auch eine gewisse Wahllosigkeit. Und bis in die Achtziger wurden nur ganz bestimmte Autoren übersetzt. Goethe, Böll, Brecht, Grass, Hesse, Thomas Mann. Es war ziemlich einseitig. Ich habe selbst rund fünfzehn Jahre lang kein einziges Buch übersetzt. Weil die Verlage nur ganz bestimmte Autoren wollten. Und ich hatte keine Lust, Mann oder Hesse zu übersetzen.

Was hat dich stattdessen interessiert?

Mahmoud Hosseini Zad: Zeitgenössische, junge Autorinnen und Autoren, die ich dann auch übersetzt habe: Judith Hermann, Ingo Schulze, Uwe Timm. Aber auch Dürrenmatt war als Romanautor neu für die Iraner, sie kannten zuvor nur seine Dramen. Ein wirkliches Interesse an deutscher Literatur gibt es hier seit etwa zehn oder fünfzehn Jahren. Seit man die Gegenwartsliteratur entdeckt hat. Meine Übersetzungen von Julia Franck und anderen werden immer wieder neu aufgelegt. Das heißt nicht, dass die älteren Autoren nicht immer noch gelesen werden. Bölls „Ansichten eines Clowns“ gibt es in zwölf verschiedenen Übersetzungen.

Umgekehrt sieht es anders aus: Vom Persischen ins Deutsche wurden in den letzten fünf Jahren kaum zwanzig Bücher übersetzt…

Mahmoud Hosseini Zad: Mit deutschen Verlagen ist es schon tragisch, obwohl sie so viel größere Freiheiten haben als die Verlage in Iran. Sie wollen nur Politik. Sie haben ihre Orient-Vorstellung vom Anfang des 20. Jahrhunderts mit Harem, Sultan und Sklaven, bis heute nicht abgelegt. Sie wollen Bücher über Mullahs, Ayatollahs, Pasdaran und Gefängnisse. Heißt, sie wollen eigentlich keine Literatur. Die ganz großen Verlage sind wie ein Schaufenster. In der Mitte ist amerikanische Literatur, drumherum gibt es deutsche, französische, italienische Literatur, und irgendwo in einer Ecke steht ein Buch aus oder über Persien. Ob ich das schreibe oder du oder sonstjemand ist ihnen egal.

Empfindest du die Auswahl persischer Übersetzungen ins Deutsche als zu einseitig?

Mahmoud Hisseini Zad: Es gibt drei Gruppen von persischer Literatur in Deutschland. Zum einen die Klassiker, die ab dem 18. Jahrhundert von Rosenzweig, Hammer-Purgstall, Rückert und so weiter übersetzt wurden: Hafez, Saadi, Djami, Rumi, all die großen Dichter – und ihre Übersetzer waren oft ebenfalls Poeten. Dann kamen mit Sadegh Hedayat, Houschang Golschiri und weiteren die Prosaautoren des 20. Jahrhunderts und die zeitgenössischen Autoren wie zum Beispiel Mahmoud Doulatabadi. Die dritte Gruppe sind die Exiliraner. Und was man zur Übersetzung aussucht, das folgt diesem Schema. Es muss unbedingt politisch sein. Es muss was mit dem Schah zu tun haben. Vierzig Jahre nach der Revolution werden noch Bücher über den Schah und den SAVAK übersetzt. Auch die Exiliraner, die jetzt schreiben und dafür Preise bekommen, bewegen sich in dieser Schablone.

Inwiefern?

Mahmoud Hosseini Zad: In diesen Büchern gibt es immer eine sehr nette Familie in Teheran, die Mutter ging zur französischen Schule, der Vater war ein netter Ingenieur oder Militär, und dann gibt es den bösen Onkel und den bösen Nachbar, die sich dem Islam zuwandten, was der netten Familie Angst machte, weshalb sie nach Deutschland oder Amerika ging. Und so weiter… furchtbar!

Du widmest dich in deinen eigenen Texten anderen Themen…

Mahmoud Hosseini Zad: … und damit habe ich auf dem deutschen Buchmarkt keine Chance. Du kennst meinen Roman „20 tödliche Wunden“. Eine prominente Berliner Agentur hat ihn Verlagen angeboten, aber natürlich wollte ihn keiner nehmen. Ein Lektor eines großen Verlages sagte, der Roman gefalle ihm, aber sie hätten gerade erst ein Buch eines irakischen Autors über die Korruption in Saudi-Arabien gemacht, das genüge erstmal. Ein, zwei Bücher pro Jahr mit Bezug zu islamischen Ländern, mehr meinen sie nicht zu brauchen. Aber es sind ja nicht nur die Romane. Auch für die iranische Lyrik interessieren sich deutsche Verlage nicht, obwohl diese sich auf einem sehr hohen Niveau bewegt. Und das müssten sie, wenn sie es ernst meinen würden…

Wobei ich einwerfen muss, dass es nicht nur an den Verlagen liegt. Es gibt durchaus auch große Verlage, die versuchen, iranische Literatur zu machen, die dann scheitert, weil das Interesse der Leser zu gering ist. Und Lyrik liest, so traurig es auch ist, nur eine winzige Minderheit in Deutschland.

Mahmoud Hosseini Zad: Das stimmt schon, aber ich denke dennoch, dass es viel mit der Auswahl durch die Verlage zu tun hat. Das Publikum will vielleicht nicht das tausendste Buch über die Mullahs lesen, sondern auch mal etwas ganz anderes. So gesehen haben die deutschen Leser schon recht. Wie viel kann man denn lesen über Schah, Mullahs und das Evin-Gefängnis? Wahrscheinlich wissen die Deutschen darüber längst mehr als ich… Klar, es gibt kleine Verlage, die es besser machen. Aber die erreichen nicht das große Publikum.

Nutzen wir doch die Gelegenheit: Welches Buch sollten deutsche Verlage unbedingt übersetzen?

Mahmoud Hosseini Zad: Es gibt einen Roman, den ich sehr mag, er heißt „Atemnot“ von Farhad Guran, einem kurdisch-iranischen Autor. Es geht darin um den irakischen Giftgasangriff auf Halabdscha, bei dem 1988 tausende Menschen starben. Zwanzig Jahre später versuchen die Protagonistinnen, die aus dem Dorf stammen, das Verbrechen via Social Media zu rekonstruieren und die Erinnerung daran wachzuhalten. Ein großartiges Buch, das leider auch in Iran bislang kaum wahrgenommen wurde. Und ich möchte die Dichterin Sarah Mohammadi Ardehali empfehlen. Sie war zweimal in Berlin, ich habe sie gerade erst wieder der Botschaft für ein Projekt in Deutschland vorgeschlagen. Es wird wirklich Zeit, dass mal ein Buch von ihr auf Deutsch erscheint.

 

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Missionen statt Handlung – “Tenet” und das Zeitalter des videospieligen Films

von Matthias Kreienbrink

 

Was unterscheidet das Videospiel vom Film? Die einfachste Antwort ist wohl: Seine Interaktivität.  Es mag abgedroschen klingen, aber der Input der Spieler*innen, der die Veränderbarkeit bedingt, das Performative des Spielens, macht den Unterschied. Daraus folgen Konventionen, die die Narrationen der Spiele formen, die Art, wie Geschichten erzählt werden. Nun ist es spätestens mit Einzug von aufwendig animierten Zwischensequenzen das Bestreben vieler großer Enwicklerstudios, ihre Videospiele filmischer zu machen, sich dem (Hollywood)Kino und seinem Bombast und Überschwang zu nähern – und damit auch seinem starren Erzählen. Seit einigen Jahren erscheint diese Beeinflussung jedoch nicht mehr so einseitig: Viele moderne Filme erzählen wie Videospiele. Und in beiden Fällen zeigt sich: So richtig funktionieren tut das nicht.

Leere Spielmechaniken

Wenn Nathan Drake in einem „Uncharted 4“ an bröckelnden Ruinen emporklettert, dabei Schüssen ausweicht und schließlich durch das Dach des Gemäuers bricht, dann geht das freilich gut von der Hand. Fein laufende Videospiel-Mechaniken, die auf Knopfdruck das erledigen, was sie sollen. Ebenso wenn Kassandra in „Assassin’s Creed: Odyssey“ diverse Nebenaufgaben abklappert, Türme erklimmt oder gegen Spartaner kämpft. Das macht Freude, ist kurzweilig. Es funktioniert. Wir befinden uns in einer Spielwelt, durchzogen von Spielmechaniken, die ihr Sinn und Ziele geben.

Doch diese Spielmechaniken transportieren selten erzählerische Inhalte, sind selten Teil der Narration. Vielmehr dienen sie als Fleißarbeit für die Spieler*innen, als Herausforderung, bevor es zur nächsten Zwischensequenz kommt – und die Geschichte tatsächlich weitererzählt wird. Auf diese Weise funktioniert die Narration in vielen (AAA)Spielen: Sie wird ausgelagert, von den Spielmechaniken getrennt. Wenn erzählt wird, dann zumeist in Zwischensequenzen – das Spielen verkommt beinahe zum Beiwerk zwischen den aufwändig erstellten Filmen. Selbst in dem durchaus komplexen „The Last of Us 2“ wird das eigentliche Spielen zuweilen zur Farce. Da das Spiel vom Zirkel der Rache erzählen möchte, inszeniert es Gewalt in den Zwischensequenzen äußerst drastisch. Hier wird jeder Tod, jeder Mord zu einer Tragödie. Bis die Spieler*innen den Controller wieder in die Hand nehmen, und mehrere hundert anonyme Gegner töten.Gameplay und Geschichte scheinen wie zwei Ebenen, die parallel zueinander laufen, aber selten in Kontakt zueinander stehen.Dagegen gibt es Spiele, wie etwa „What Remains of Edith Finch“, die genau das versuchen: aus den Mechaniken erwächst die Geschichte – das Steuern der Charaktere ist die Narration.

Videospielig

Vor einigen Wochen kam „Tenet“ ins Kino, der neue Film von Christopher Nolan. Vor ihm erschien „Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers“ und davor viele andere Filme, die sich irgendwie anders anfühlten, sonderbar, videospielig eben. Doch was mact sie anders? Dem lässt sich, zum Videospiel passend, wohl am besten in einzelnen Etappen nähern.

1. Sie  erzählen in „Missionen“: Da Videospiele oftmals länger als 40 Stunden dauern, besonders wenn es sich um die notorisch umfangreichen „Open World“-Spiele handelt, gibt es nur einen rudimentären dramaturgischen Bogen, der sich von der ersten bis zur letzten Minute zieht. Vielmehr teilt sich das Spiel in diverse Missionen (oder Episoden, oder Quests etc.) auf. Auch „Tenet“ fühlt sich an wie eine Abfolge einzelner Missionen, die die Zuschauer*innen stets im Hier und Jetzt halten, ihnen vor Augen führen, was die Protagonist*innen gerade zu tun haben: Jetzt gilt es, ein Flugzeug in ein Gebäude zu rammen. Nun müssen wir einen wertvollen Gegenstand aus einem Transporter stehlen. Es sind einzelne Missionen, die für sich Anfang, Mitte und Ende haben. Doch wo auch immer sie sich in der Dramaturgie des Filmes einreihen – wieso die Protagonist*innen das gerade machen, geht verloren. Die Zuschauer*innen haben womöglich längst vergessen, wie es zu dieser Mission kam und wie sie im Zusammenhang zu anderen Missionen steht. Wie in einem Videospiel klappern sie mit den Protagonist*innen die einzelnen Etappen ab – es fehlt eigentlich nur eine Punktevergabe am Ende jeder Mission.

2. Eine Mechanik steht im Mittelpunkt: In “Tenet” haben einige wenige die Möglichkeit, sich rückwärts durch die Zeit zu bewegen. Es ist diese Mechanik, die den Kern des Films ausmacht. Dialoge ordnen sich ihr unter, der Handlungsbogen ebenso. Ähnlich wie in einem Videospiel basiert der Film auf der Idee, dass die Spieler*innen eine Fähigkeit besitzen, die sich in Form einer konkreten Spielmechanik manifestiert, anhand derer sie sich durch das Spiel bewegen. Sie ist Ausgangs- und Endpunkt des Films, gibt ihm Struktur, ordnet ihn. Doch bleiben die Zuschauer*innen  passiv. Die Mechanik scheint zum Greifen nahe, doch ist sie eben nicht greifbar, nicht anwendbar. Dennoch steht sie im Mittelpunkt des Films, sie macht die Action des Films aus und sie ist es, die bombastisch inszeniert wird. In dem ganzen Spektakel gehen dann allerdings die erzählenden Momente des Films unter.

3. Sie bedienen sich der Ästhetik von Videospielen. Die Kamera filmt die Protagonist*innen über die Schulter. Teilweise folgen die Zuschauer*innen dem Geschehen in Ego-Perspektive. Der Film gaukelt vor, dass er steuerbar ist, wie ein Videospiel. Aber er ist es nicht. Die Inszenierung der Mechanik spielt mit Zeitlupen, die Kamera dreht sich um gewaltige Explosionen, zoomt heran an die herumfliegenden Partikel. Wie in den Zwischensequenzen von Videospielen ist es diese Inszenierung, die den Zuschauer*innen bedeutet, welche Teile des Films wichtig sind – handlungstragend – und welche lediglich dem Überschwang geschuldet sind.

Starke Erzählungen

Nun ist es  nichts Neues, dass Medien sich gegenseitig beeinflussen, Erzählstrukturen adaptieren. Mit Filmen wie „Black Mirror: Bandersnatch“ wird gar versucht, die Interaktionsmöglichkeiten eines Videospiels zu integrieren, um auch den Film veränderbar zu machen. Doch zeigt sich, dass bisher weder das filmische Videospiel noch der videospielige Film wirklich gut funktionieren. Bei Videospielen zeigt sich das Problem seit Anbeginn: Das Medium entstand in einem Spannungsfeld aus Innovation und starkem Kommerzialisierungsdruck – es ist das einzige Erzählmedium, das nie eine Zeit vor dem modernen Kapitalismus erlebt hat. Es wurde geformt in und durch die Strukturen des Marktes. Da mag es naheliegen, geläufigen und bewährten Konsumgewohnheiten eher nachzukommen, als wirklich neue Möglichkeiten des Erzählens zu erforschen. Daher die vielen Spiele, die filmisch sein wollen, denen Hollywood am nächsten steht.

Der Film aber hat seine Erzählkonventionen über Jahrzehnte hinweg in einem konfliktreichen Aushandlunsgprozess entwickelt. Auch hier wird es in der Zukunft Veränderungen geben. Aber es stellt sich die Frage, ob gerade das Videospiel, das zu größten Teilen selbst ein Hybrid aus verschiedenen Erzählformen ist, die Quelle sein sollte, an der sich der Film mit frischen Ideen bereichern kann. Videospiele sind lang, und sie werden immer länger. Dass ein solches Medium eine andere Art des Erzählens braucht, ist naheliegend. Wenden sich Spieler*innen nach Wochen wieder ihrem Spiel zu, können Sie zumindest im Menü nachvollziehen, in welcher Mission sie sich gerade befinden. Sie kennen ihr nächstes Ziel und sie kennen die Spielmechaniken, die ihnen auf dem Weg dahin zur Seite stehen. Dieses fragmentarische Erzählen findet nun auch immer öfter seinen Weg in (Hollywood)Filme. Mission für Mission wird abgeklappert, ein actiongeladener Höhepunkt folgt dem nächsten. Doch was im Videospiel aktiv gestaltet werden kann, drückt die Zuschauer*innen im Kino tiefer in ihre Sessel. „Wozu passiert das hier eigentlich gerade?“, mag sich die ein oder andere nach Mission 23 des Films denken. Aber wen interessiert schon ein Handlungsbogen, wenn die Explosionen wie im Videospiel aussehen?

 

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Das Leben ganz elementar lesen – Vier Bücher über die Gegenwart der Natur

von Susanne Wedlich

 

Vielleicht fange ich am besten mit einem saisonalen Disclaimer an. Wenn ich mir eine Jahreszeit aussuchen müsste, würde ich dem Herbst nachlaufen, bis die Wehmut nicht mehr auszuhalten ist. Greenery, dem aktuellen Buch des Nature Writers Tim Dee musste ich angesichts des Untertitels Journeys in Springtime also mit der gebotenen Vorsicht begegnen. Zu Unrecht: Tim Dee denkt beim Frühling konsequent zyklisch den Herbst mit und jedem Anfang wohnt hier mindestens ein Ende inne, ob biologisch, ob in der Zeit oder im Raum.

Und manchmal hängt das auch zusammen. Der Brite Dee ist mit einer südafrikanischen Ornithologin verheiratet und teilt sein Jahr auf die beiden Heimatländer auf, pendelt also ähnlich longitudinal zwischen den Hemisphären wie die Schwalben, die er an einem Dezembertag bei seinem Haus kurz vorm Kap beobachtet. Ob er ihnen schon einmal im Sommer in England begegnet ist? Ob sie heimfliegen? Wo ist eigentlich das Daheim der Zugvögel – und des schreibenden Nomaden Dee? Er habe den Halt auf der Landkarte verloren, schreibt er. 

Schließlich sei die Wintersonnwende in Südafrika im Juni, die Schwalben also dort, wo sie im Dezember auch sein sollten: as at home as they could be. Irgendwann würden sie aber wieder gen Norden fliegen und die ersten unter ihnen früh im noch jungen Jahr Südeuropa erreichen. This might be one definition of the beginning of spring. Spring moves north through Europe at a speed comparable to the swallows´ flights. Im Menschenmaß gerechnet: Der Frühling ist etwa im Schritttempo unterwegs und liefert eine Art grünen Faden für Dees poetisches Meisterwerk. 

Einmal lesen ist nicht genug, so dicht sind hier Natur und Literatur mit Biografischem verwoben. Dees Reisen führen unter anderem in den Tschad und in die Sahara, nach Helgoland und an den Polarkreis. Wohin er aber auch geht, überall hat er mindestens ein Auge gen Himmel gerichtet. Vögel sind seine Frühlingsboten und noch mehr: Er ist ihnen schon ein Leben lang verfallen, beobachtet und beschreibt, atmet und lebt sie. Hier ist klar im Vorteil, wer den Rüppell´s warbler vom willow, olivaceous, subalpine, garden, Upcher und black-throated green warbler unterscheiden kann.

Ich kann das nicht, habe aber einen anderen Zugang zur Lektüre gefunden. So unbelastet in der Vogelkunde war mein Kopf eine mehr oder weniger weiße Leinwand für Dees Porträts – und er kann wunderbar mit Worten malen. Das geht mit raschen Pinselstrichen – They were swallows: the gast of dried-blood at their throats told me that, and the blue, metal-shiny crick crack of their sharp wings and deep-cut tails –  genauso wie mit spitzer Feder: …it carries with it something of the dirt inside us all. It is old like shit is old“, schreibt er über den woodcock

Und wer wie ein night soil bird aussieht, kann sich kaum besser anhören: …their antiquity scored with brief squeals, snores, grunts, and methane blows. Old, far-off. Unlovely things. Muss man mehr wissen? Dem woodcock mag es ein Trost sein, dass sich auch andere Arten alt und unnahbar anhören. Its song was things old and cold made into music. If a colander could sing it would sound like a mistle thrush: cold light, cold air, cold water coming through cold and hammered steel. Es bleiben viele Vogelbilder in meinem Kopf. Weil in jedem davon so viel Dee steckt, habe ich nun zum ersten Mal aber auch eine Ahnung davon, was  diese Tiere für manche Menschen so unwiderstehlich macht.

Abgesehen vom ornithologischen name-dropping liest sich das Buch aber auch wie ein who´s who der Literaturgeschichte. Shakespeare, Coleridge, Rilke, Rimbaud… Wer hat nicht den Frühling besungen? Noch eindrücklicher fand ich allerdings Passagen aus Tagebüchern und Briefen, in denen beispielsweise der schwer lungenkranke D.H. Lawrence nur eines vergeblich ersehnte: einen letzten Frühling. 

Spring means more to me with every year that passes and takes me deeper into my own autumn, schreibt Dee. Es ist eine Klammer, die er zum Ende des Buches schließt mit dem Bericht seiner eigenen Parkinson-Diagnose. Eine Nachricht, die er in England erhält und seiner schwangeren Frau am Telefon übermitteln muss. Spring seems to bring forth elegies for a world that is still in the process of being born. A beginning is always the beginning of an end; we are dying from the moment we hatch. 

Was aber, wenn sich Organismen diesen engen Grenzen von Leben entziehen? Merlin Sheldrakes Buch Entangled Life führt ins dunkle Reich der Pilze, in die Erde, aber eben nicht nur dort: Fungi are everywhere, but they are easy to miss. They are inside you and around you. They sustain you and all that you depend on…They are eating rock, making soil, digesting pollutants, nourishing and killing plants, surviving in space, inducing visions, producing food, making medicines, manipulating animal behavior, and influencing the composition of the Earth´s atmosphere.

Pilze helfen seit Menschengedenken unter anderem beim Brotbacken und Bierbrauen. Künftig sollen sie weitere Aufgaben übernehmen, etwa Öko-Baumaterial liefern und gefährliche Abfälle von Nervengiften über radioaktiv verseuchtes Material bis zu vollen Windeln abbauen. Schließlich sind sie die geborenen Zerstörer: Using cocktails of potent enzymes and acids, fungi can break down some of the most stubborn substances on the planet, from lignin, wood´s toughest component, to rock; crude oil; polyurethane plastics; and the explosive TNT

Doch trotz dieser langen und fruchtbaren Zusammenarbeit von Mensch und Pilz wissen wir noch erstaunlich wenig über sie, weniger als ein Zehntel aller Arten sind bislang dokumentiert. Pilze können passionierte Fürsprecher wie Sheldrake also gut gebrauchen, dessen Herangehensweise sich mit einem Satz aus dem Buch zusammenfassen lässt: I tried to imagine the scene from the truffle´s point of view. Dieser Wechsel in die Perspektive des Trüffels ist allerdings leichter gesagt als getan. Den Pilz macht das Myzel aus, ein komplexe Netzwerk aus Hyphenfäden, die verzweigen, fusionieren und so gut wie alles durchdringen können. 

Mycelium is how fungi feed…The more of their surroundings that hyphae can touch, the more they can consume. The difference between animals and fungi is simple: Animals put food in their bodies, whereas fungi put their bodies in the food. Das Myzel sei Appetit in körperlicher Form. Ein Körper ohne Bauplan, eher eine Art ökologisches Bindegewebe mit kaum vorstellbarer Reichweite. In practice, it is impossible to measure the extent to which mycelium perfuses the Earth´s structures, systems, and inhabitants – its weave is too tight. 

Und sein Einfluss währt lange und reicht weit. Pilze halfen wahrscheinlich vor rund 500 Millionen Jahren den ersten Pflanzen an Land, von denen noch heute mehr als neunzig Prozent von ihren unterirdischen Partnern abhängen. Eine Ausprägung ist das wood wide web, das oft als pilz- und wurzelbasiertes Kommunikationsnetzwerk der Bäume verstanden wird, die bei Bedarf auch Nährstoffe austauschen. Evolutionär lässt sich der scheinbare Altruismus der pflanzlichen Nachbarschaftshilfe aber kaum erklären. 

Hier kann Sheldrakes pilzzentrierte Lesart helfen. Möglicherweise halten sich ja die Pilze ein paar Pflanzen – und erzwingen den Austausch. Müssen wir jetzt alle die Trüffelperspektive einnehmen? Es würde zumindest verhindern, dass wir charismatischen Lebewesen wie Bäumen automatisch die Rolle des Drahtziehers und nie die der Marionette zuschieben. Und wir könnten vielleicht dezentrale Organismen wie Pilze besser verstehen, denen bislang kaum Intelligenz zugeschrieben werden kann, weil diese traditionell über die Hardware – sprich: Nervensystem und Gehirn – definiert wird. 

Pilze, Schleimpilze und auch andere reagieren aber auch ohne Neuron flexibel auf ihre Umwelt, lösen Problem und treffen Entscheidungen. Schwarmintelligenz ist hier ein Denkmodell, das für Sheldrake bei Pilzen aber zu kurz greift, weil sie als Geflecht nicht aus getrennten Einheiten bestehen. Es gibt also noch viel zu lernen und vielleicht kristallisieren sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede ja beim Blick auf Schwarmvarianten anderer Art heraus: A murmuration of starlings is a swarm, as is a school of sardines. Swarms are patterns of collective behavior

Das Medium mag sich ändern, kollektives Verhalten lässt sich aber häufig schwer entschlüsseln oder auch nur nachweisen. Der Meeresbiologe Callum Roberts ging zu Beginn seiner Karriere in den 1980er Jahren einer grundlegenden Frage nach: Herrscht am Riff Chaos oder Ordnung? Wie er in Reef Life. An underwater memoir schreibt, half seine gute Vorbereitung recht wenig vor Ort, weil die  Fische den Abbildungen in Lehrbüchern kaum ähnelten, ihre Farben lebhafter, ihre Muster subtiler und die Kontraste zwischen den Arten weniger klar waren. 

Jegliche Ordnung kam also chaotisch herrüber: Shock blossoms into wonder. Fish throng a labyrinth of coral: fat fish, slender, spiny, smooth, bulbous-eyed, serious, striped, barred, spotted, dotted, ringed, plain, lemon peel, orange, aquamarine, black; a mind-bending confusion coming and going. Es war kaum möglich, auch nur das Kommen und Gehen einiger weniger Arten zu dokumentieren, nicht zuletzt, weil Roberts die Kommunikation per Farbe, Muster und Geräusch nicht verstand. 

Offen war zu jener Zeit auch die Frage, wie robust Korallenriffe eigentlich sind. Viele Fachleute sahen sie als fast unzerstörbar an oder befürchteten nur lokale Schäden. Wie fehlgeleitet diese Einschätzung war, zeigte sich um die Jahrtausendwende mit den ersten „Massenbleichen“, bei denen Korallen im überhitzten Meer ihre symbiotischen Mikroben ausstießen. A bleached coral is a starving coral; if conditions don´t soon swing back to normal, it dies. Mittlerweile ist dies hinlänglich als globales Problem bekannt, das sich im Zuge der Klimakatastrophe rasant beschleunigt. 

Was geht hier verloren? In den letzten vier Dekaden hätten drei katastrophale Erwärmungen Riffe rund um die Welt zerstört, schreibt Roberts. Dabei sind sie die reichsten aller marinen Ökosysteme, die mindestens ein Viertel aller Arten im Meer unterstützen. Er selbst kämpft als Forscher, Ausbilder und politischer Berater, wenn auch ohne viel Hoffnung, denn die Korallenriffe seien on a trajectory to collapse within a human generation. There will be remnants here and there, but the global coral reef ecosystem – with its storehouse of biodiversity and fisheries supporting millions of the world´s poor – will cease to be

Es sei schon von Zombie-Ökosystemen die Rede, die weder tot noch in einem funktionalen Sinne wirklich am Leben seien. Und manche Fachleute hätten die Riffe schon aufgegeben, würden jede Investition in ihre Rettung als Geldverschwendung ablehnen. Muss man das lesen? Die Lektüre ist schmerzhaft, aber doch mitreißend, denn Roberts ist ein ebenso leidenschaftlicher Lobbyist der Riffe wie es Tim Dee bei den Vögeln und Merlin Sheldrake bei den Pilzen ist. 

Zum anderen eröffnet auch er hier eine Welt, die den meisten Menschen notgedrungen verschlossen bleibt. Wenn die Korallenriffe aber überhaupt noch eine Überlebenschance haben sollen, darf ihr Niedergang nicht unter der Wasseroberfläche verborgen bleiben, der sich in Jahren und Jahrzehnten messen lässt. Die Zeit läuft: We are fortunate to live in the greatest period of coral reef growth in planetary history. Yet we might bring it all to an end within the space of a few human generations.

Korallenriffe sind in ihrer Komplexität schwer zu entschlüsseln sind, bleiben aber wenigstens am Platz. Die australische Autorin Rebecca Giggs fokussiert in Fathoms. The World in the Whale auf Tiere, auf denen ebenfalls ganze Ökosysteme basieren – wenn auch der mobilen Art. Hier geht es um die biologisch einzigartigen und dank ihres Charismas für die Umweltbewegung ikonischen Wale, deren Einfluss sich  Ozeane erstreckt. 

Neu war für mich, dass auch Wale als Organismus kaum zu fassen sind. Die immense Größe macht den Unterschied, wie Giggs erfährt, als sie mit einem Fachmann das langsame Sterben eines gestrandeten Wals diskutiert, das sich nur schwer beschleunigen lässt. Denn Herz und Hirn des Wals liegen so weit auseinander, dass die Auswirkungen eines tödlichen Bolzenschusses in eines der Organe das andere nur zeitverzögert erreichen würden. Ein Ausbluten wiederum könnte Tage dauern und würde ein Schlachtfeld hinterlassen. 

Und der Green Dream, ein starkes Barbiturat würde zwar den Wal erlösen, aber als tödliches Risiko für Aasfresser und andere ins Ökosystem einsickern. Hier habe sie angefangen, über den Walkörper nachzudenken als etwas, wo Sterben an mehreren Stellen und über unterschiedliche Zeitspannen stattfindet. Der Anfang vom Ende ist dann häufig Müll des Menschen, wenn etwa Fischernetze in Walmägen landen oder Chemikalien wie Düngemittel und Pestizide im Walfett lagern, um dann über die Milch der Weibchen auch die Jungen zu vergiften. 

Giggs zeichnet in ihrem Ausnahmebuch viele Verbindungen zwischen Mensch und Wal nach, dem tierischen Ökosystem, das wir seit Jahrhunderten verehren und erforschen, vor allem aber ausschlachten. People of the nineteenth century – across an array of classes, professions, and life stages – dressed in, slept, and dreamt on the stuff of whales; they cooked with, played with, desired with, and made art from, looked through, healed with, explored….In the ordinary course of life, they were almost constantly in contact with whale-gleaned products, in much the same way as most people today are never far from plastic object. 

Der Verlust von Walen dezimiert aber nicht nur deren Bestände, sondern wirkt sich großflächig auf die marine Biodiversität aus. The world in a whale lautet der Untertitel des Buches und ließe sich damit ergänzen, dass mit jedem Wal auch eine Welt untergeht. Wenn zu viele Wale eines unnatürlichen Todes sterben, macht sich das sogar in der Tiefe bemerkbar.  Denn hier befinden sich hunderte Arten von whalefalls. Das ist das Absinken eines Walkadavers, der auf jeder Station dieser oft wochenlangen Reise Überleben bietet, wo es sonst kaum Nahrung gibt. 

Schöner als Giggs kann keiner über Verrottung schreiben und über Leben, das dem Kadaver entspringt. Am Meeresboden tunnelt der Schleimaal glitschige Gänge ins Aas und ein Teppich weißer Würmer wächst. Muscheln, Krabben und Schnecken, auch die sogenannte „Rotzblume“ Osedax, ein hochspezialisierter Wurm, der das Mark über wurzelartige Ausläufer aus den Knochen saugt. Es kann ein Jahrhundert dauern, bis der Kadaver durch Tiere zerlegt wurde, die nur auf toten Walen und manchmal nur auf einer einzigen Walart leben können. 

Was bedeutet also ein toter Wal für diesen extremen Lebensraum? In undersea sites bereft of seasons (as we are wont to understand the seasons), a whalefall is tantamount to springtime – a fountain of life; spectacular, then squalid. Und warum auch nicht? Wenn wir schon vertraut eng gesteckte Definitionen von Leben aufweichen müssen, wenn maßgeschneiderte Zerstörung erwünscht ist, aber die Fragilität der Korallenriffe unerwartet jedes Maß übersteigt, kann der Frühling doch auch dunkel und kalt sein und aus der Zeit gelöst entspringen. 

 

Photo by Max Gotts on Unsplash

[Atelier NRW] Über das Leben der Ideen im Verborgenen

Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.

Einleitung von Dorian Steinhoff

Von Sabrina Janesch

Der Traktor stemmte sich in den sumpfigen Steppenboden, ratterte, röchelte, der Motor stotterte – und gab schließlich mit einem lauten Knall den Geist auf. Er hatte sich festgefahren. Und ich, die mit meinem Geländewagen hätte von ihm rausgezogen werden sollen, war dazu verdammt, weitere Stunden auf den nächsten, nächst-größeren Traktor zu warten. Rings um mich herum erstreckte sich die kasachische Steppe, am Horizont zeichneten sich die Dächer des Dorfes ab, das ich tagsüber besucht hatte. Der Kasache im Traktor gestikulierte, ich gestikulierte zurück. Es ging auf siebzehn Uhr, der Himmel verfärbte sich. Ratlos blickte ich auf das Notizbuch neben mir, überflog die Skizzen, Eindrücke, vermeintliche Geistesblitze, die schon jetzt, wenige Stunden später, ihre Brillanz eingebüßt hatten.

Ich steckte fest.

Das Sujet, an dem ich arbeitete, war mir seit langer Zeit vertraut. Einige Themen begleiten einen Schriftsteller über viele Jahre, manchmal Jahrzehnte. Nun hatte ich also die Zeit für reif gehalten, mich einem autobiographischen Thema zu widmen, und wunderte mich, dass ich kaum mit Konzeption und Gestaltung vorankam.

Noch einmal, und diesmal nicht im Hinblick auf Traktoren und plötzlich auftretende Steppenseen (ich wartete übrigens noch weitere viereinhalb Stunden, bevor der nächstgrößere Traktor mich erreichte): Ich steckte fest. Knöcheltief in der Fehlannahme, ich hätte den richtigen Moment erwischt, und die Zeit für jenes Sujet wäre gekommen.

Während dieser Wochen in Zentralasien – es war ganz egal ob ich währenddessen ritt, schwamm, wanderte, kletterte, fror oder schwitzte – hielt ich für mein vordringlichstes Problem, für die größte Frage, die mich quälte, die Frage nach der Positionierung meines Manuskripts. Wie nah an mir selber, an meiner Familie, wollte ich entlang schreiben? Ich fand keine Antwort, und dementsprechend sabotiert, lahmgelegt, außer Gefecht gesetzt, war ich lange Zeit nicht imstande, auch nur eine Zeile zu verfassen.

Ich zermarterte mir das Gehirn, ohne zu bemerken, dass im Verborgenen, in einem Getriebe, zu dem ich noch keinen Zugang hatte, ein ganz anderer Prozess ablief, und dieser Prozess hatte nichts mit meinen vordergründigen Fragen (Wie persönlich ist zu persönlich? Autobiographie, oder Autofiktion, oder gar Automythographie?) oder multiplen Ratlosigkeiten zu schaffen.

Das Feststecken ist ein undankbarer Zustand, der jedem Schriftsteller widerfährt. Manchem vielleicht ein-, zweimal während eines Schaffensprozesses, manch anderem jeden Tag, jede Stunde, auf jeder Seite. Aber dieses Feststecken meine ich nicht; ich meine wesentlich tiefer liegende Phänomene in der Schreibbiographie eines Schriftstellers.

 

Im Englischen gibt es den Begriff der riptide; eine Art gefährlicher Brandungsrückstrom, der auch in vermeintlich ruhigen Strandabschnitten Schwimmer hinaus aufs offene Meer reißen kann. Wichtig ist es dann, nicht in Panik zu verfallen, nicht zu versuchen, frontal dorthin zurück zu schwimmen, woher man gekommen ist – sondern sich von der Strömung forttreiben zu lassen und schließlich, wenn sie abklingt, zurück zur Küste zu gelangen.

Dieses Gepackt-Werden, Fortgerissen-Werden, lässt sich vergleichen mit gewissen Momenten des Schreibprozesses, vor allem zu Anfang. Es sind heftige, intensive Kräfte, die da wirken, und hinein ziehen in den Sog des Manuskripts. Nach diesem Sog sehnt man sich in Momenten, da man, zwischen zwei Manuskripten, etwas ziel-und planlos umherirrt, auf der Suche nach einem neuen Thema, einer neuen Obsession, einer neuen Zwangsläufigkeit. Wie einfach ist es da, auf Themen zurückzukommen, die einen schon seit längerem begleiten. Warum sie nicht endlich aufgreifen – das wäre doch sicher die Gelegenheit?

Jetzt, eine ganze Zeit nach meiner Reise nach Zentralasien und den ersten, konkreten Plänen zu einem neuen Manuskript, kommt es mir so vor, als sei meine Annahme, selber und einigermaßen willkürlich über den Beginn einer neuen Arbeit zu bestimmen, fehlerbehaftet.

Schon nach meinem ersten Roman war mir jenes Thema nah, für das ich in Kasachstan recherchierte; auch nach dem zweiten und während des dritten dachte ich daran und beabsichtigte, mich ihm bald zuzuwenden. Ich bin dankbar dafür, dass ich es nicht tat, dass mich etwas Unbewusstes gleichsam davon abhielt und mich zu anderen Sujets steuerte. Oder, um diese Vokabel nochmals zu bemühen: die Strömung war noch längst nicht stark genug. Und mit Strömungen schien es zu sein wie mit vielem anderen auch: suchte man sie aktiv, entwanden sie sich, wurden unsichtbar, unerreichbar. Mit jedem Beginn einer neuen Schreibphase zog es mich zu anderen Themen, anderen Bereichen. Immer präsentierte sich etwas Anderes als dringlicher, aktueller, machbarer. Die Strömungen: sie trugen mich in eine andere Richtung, nie in die eine, die ich schon seit längerer Zeit im Blick hatte. Auch, als ich schon im Geländewagen in der kasachischen Steppe saß, mein Sujet längst auserkoren, die Recherche begonnen, mit dem Verleger, dem Lektor abgestimmt; ich mochte es vielleicht im Blick haben – aber bereit war weder es noch ich.

 

Mich fasziniert, wie ein Künstler, ein Schriftsteller in diesem Fall, den Mut aufbringt, eine Entscheidung zu treffen. Von hundert Ideen – warum diese eine? Mit jedem Verfolgen einer Richtung entscheidet man sich gegen alle anderen, die Masse der Möglichkeiten ist atemberaubend, und der Entscheidungsdruck manchmal paralysierend. Und doch scheint es Momente großer Klarheit zu geben (ich lasse die Myriade verschwommener Momente einmal diskret beiseite). Mir scheint, als ob zeitgleich mit den Ideen, die im Verborgenen gedeihen, auch die Kraft wächst, sich für sie zu entscheiden und ihnen Form und Ausdruck verleihen zu können.

Dort, im Verborgenen, gehorchen die Themen ihren eigenen Gesetzen der Reifung und Werdung; brüten, wachsen, ruhen. Und wer weiß: vielleicht hängen ungewöhnlich starke Qualen der Entscheidungsfindung – writer’s block? Schreibblockade? Fest-Stecken? – damit zusammen, dass entweder Sujet oder der Schreibende, womöglich beide, noch nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden haben.

 

Ob es den richtigen Zeitpunkt überhaupt gibt? Eventuell existiert er überhaupt nicht, ist selber nur eine Phantasie, ein Wunschtraum; wie mit einem Kind ist es auch mit einem Roman niemals leicht.

Vielfach habe ich aber Kollegen von diesem Phänomen berichten gehört oder es selber beobachtet und mitverfolgt: wie ein Thema schon greifbar ist, miteinander besprochen wird oder in einer Kurzgeschichte, einem Hörspiel ausprobiert. Teils werden schon langwierige und kostspielige Recherchen unternommen, nur, um das Sujet wieder für ein paar Jahre (in einem Fall sogar für ein ganzes Jahrzehnt) ruhen zu lassen, bis man den Atem, den Willen und die Courage hat, es anzupacken. Der Zeitpunkt war zuvor schlicht noch nicht gekommen.

Was sich jahrelang entzogen hat – weil es zu groß, schwierig, sperrig, enigmatisch, unlösbar, unschreibbar schien – fällt plötzlich wie von selbst auf den rechten Platz. Lange vorher hatte es im Verborgenen sein Eigenleben begonnen. Im besten Fall offenbart sich nun eine zwingende, berückende Logik, die häufig so simpel daherkommt, dass man sich fragt, wie man es all die Jahre zuvor nicht hatte sehen können.

Manchmal enthüllt sich eine Konstruktion, die so souverän scheint, dass man sich unsicher ist: Hat man sie wirklich selber erstellt, oder vielleicht eher unbewusst kopiert, plagiiert, adaptiert? Meistens folgen gründliche Nachforschungen, um diesen Verdacht zu widerlegen. Die Verwunderung darüber, dass „plötzlich“ etwas so einfach war, was vorher so schwierig schien, ist einfach zu groß.

 

Lesen, leben, lernen. Während sich die eigene Biographie abspult, wird unablässig gesammelt und verarbeitet. Wir sammeln Erfahrungen, akkumulieren Wissen, Methoden und Handwerk aus Lektüre. Nicht zuletzt gewinnt man Schreib- und Arbeitserfahrung. Für ein Manuskript dürfte es kaum unerheblich sein, ob es das erste ist, das man verfasst, oder das vierzehnte. Wieviel, was und wie man bereits geschrieben hat – ein wichtiger Faktor, der in jede Entscheidung, in jedes Timing einfließt. Es braucht mindestens zweierlei: ein fruchtbares Zusammentreffen von herangereiftem Thema und geeignetem Zeitpunkt in der eigenen Biographie.

Aber nicht nur die Akkumulation oder die Erfahrungen sind es, die das Eigenleben der Ideen im Verborgenen beeinflussen. Sicherlich auch persönliche Entwicklung und das Lebensalter neigen uns gewissen Themen zu, die Perspektive wird eine andere, mit der man auf Sujets blickt und sie einschätzt.

Was ich der verwirrten Person, die vor zwei Jahren im Geländewagen in einem kasachischen Sumpf feststeckte, gerne sagen würde: Lehn dich zurück, iss einen deiner (zahllosen) Energy-Riegel, genieße den Sonnenuntergang. Ein Manuskript, das über Tiefe verfügt, Eigensinn und Anmut? Braucht Zeit. Braucht Eigen-Leben. Solange kann man in aller Seelenruhe auf den nächstgrößeren Traktor, einen guten Song oder besseres Wetter warten. Die nächste riptide kommt bestimmt – sogar im zentralasiatischen Steppenmeer.

Mehr als Twitteratur – Eine kurze Twitter-Literaturgeschichte

von Elias Kreuzmair & Magdalena Pflock

In der Rezension einer Susan-Sontag-Biografie konnte man letztens über  Autorinnen wie Sontag, Sylvia Plath und Virginia Woolf lesen: „Sie erlangten nicht nur Ruhm zu Lebzeiten, sondern ein echter Mythos umgibt sie fortan – mit allem, was dazugehört: ikonische Fotoporträts, Twitter-Bots, sofort wiedererkennbare Zitate, biografische Mini-Industrien, die im Schatten dieser Frauen entstanden.“

Ganz selbstverständlich stehen hier Twitter-Bots in einer Reihe mit anderen Anzeichen populärer Kanonisierung. Es ist bemerkenswert, dass hier eben nicht eine Facebook-Fanpage oder ein Instagram-Account genannt werden, sondern Twitter. Dieser Umstand deutet auf die Rolle hin, die dem  Microblogging-Dienst im literarischen Feld inzwischen zukommt. Er hat in den letzten fünfzehn Jahren verändert, was wir unter Literatur verstehen und wie der Literaturbetrieb funktioniert.

Die erste größere Aufmerksamkeit des Literaturbetriebs für Twitter verbindet sich mit dem Begriff „Twitteratur“. Prägend für den Begriff war der Band Twitterature. The World’s Greatest Books Retold Through Twitter (2009) von Alexander Aciman und Emmett Rensin, der 2011 auf deutsch erschien. Aciman und Rensin hatten einige Klassiker der Weltliteratur in Tweets übersetzt, jedoch nie auf Twitter gepostet. Um den Band entbrannte eine heftige Debatte darüber, ob denn Twitteratur nur auf Twitter stattfinden könne oder auch offline in Buchform. Es ging also darum, ob die Gattung an ihr Medium gebunden ist. Zu diesem Zeitpunkt fand der Begriff „Twitteratur” seinen Weg auch über die Grenzen des Netzwerks hinaus. Der Werbetexter Florian Meimberg gewann für seine Twittertexte 2010 den Grimme Online Award in der Kategorie „Spezial“. Ein Twitter-Lyrik-Preis wurde ausgerufen. Einer der erfolgreichsten Figuren dieser Phase, @RenateBergmann, hat inzwischen mehr als ein Dutzend Bücher bei Rowohlt veröffentlicht. Schon kurz darauf fand sich ein Eintrag zu Meimberg auch in einer Einführung in die Kurzgeschichte und verschiedene Aufsätze zur „Twitteratur“ wurden publiziert, wie etwa Twitteratur. Digitale Kürzestschreibweisen von Jan Drees und Sandra Annika Meyer.

In diesem Kontext wurde das Thema Literatur und Twitter von Feuilletons aufgegriffen und diskutiert – oft in einem kulturkritischen Ton, der sich für die Berichterstattung über Netzphänomene etabliert hat. Der Zeit-Kolumnist Harald Martenstein etwa hatte einfach nur „Angst vor der Twitteratur“ und  „regt sich über inhaltsarme Minitexte auf“, Die Welt titelte: „Twitter als Literatur – total genial oder nur banal?“. Was sich in diesen Titeln artikuliert, ist eine Frage, die Twitter immer wieder herausgefordert hat: Was erkennen wir als Literatur an? Was sind unserer Kriterien dafür, etwas als Literatur zu bestimmen? Ist, wer ein paar Witze und Sentenzen in 280 Zeichen packt, eine literarische Autor*in? Wer ein Buch beim twitteraffinen Frohmann Verlag veröffentlicht hat? Oder muss es Suhrkamp sein?

Eine zentrale Schwierigkeit bei der ästhetischen Einschätzung zeigt sich in der alltäglichen Praxis des Twitterns. Ein Account kann in einem Moment den Alltag poetisieren und im nächsten eine Eilmeldung retweeten, dann eine Reply unter einen Tweet des Sprechers der Bundesregierung schreiben und anschließend ein Haiku posten. Ab wann ist ein Account literarisch? Wenn seine Betreiber*in einen Roman veröffentlicht hat? Wenn man seinen Stil poetisch nennen würde? Wenn sie sich selbst als Kunstfigur erschafft? Oder ist mit Blick auf die Konjunktur solcher Texte jedes autofiktionale Schreiben auf Twitter auch literarisch? Und kann man so etwas wie Genrebegriffe für Twitter überhaupt gebrauchen?

Im deutschsprachigen Raum dokumentieren die erste Phase der literarischen Betätigung einige Publikationen in der Reihe „Kleine Formen“ im Frohmann Verlag.Tweetsammlungen wie Unkritische Theorie (2012) von @Wondergirl oder @blutundkaffee 2012-2016 (2017) von Ianina Ilitcheva versammeln ausgewählte Tweets und heben deren aphoristische Qualität hervor. In ihnen zeigt sich, dass Twitter eine eigene Ästhetik hervorgebracht hat, die weit über das Spiel mit den 140 beziehungsweise 280 Zeichen hinausgeht und sich in schnellen Schritten weiterentwickelt. Gekennzeichnet ist die Ästhetik durch eine vielschichtige Ironie und eine spezifische Verquickung von Alltagsbeobachtungen, Kommentar der Gegenwartskultur und autofiktionalem Schreiben. Die Kunst liegt darin, individuell genug zu schreiben, um aufzufallen, und allgemein genug, um für möglichst viele andere anschlussfähig zu sein. Für die Frühphase dieser Ästhetik liegt mit Johannes Paßmanns Die soziale Logik des Likes (2018) seit kurzem eine wissenschaftliche Analyse vor. Der Band Mindstate Malibu (2018) dokumentiert schon eine der nächsten Phase dieser Ästhetik, die einerseits – bezogen etwa auf ironische Formen – eine Fortsetzung der ersten Phase bildet und andererseits – etwa durch den Import von Ausdrücken aus Computerspielforen –  neue  Entwicklungen anstößt. Im Lauf dieser Entwicklung  hat Twitter nicht nur immer wieder unsere Wertungskategorien in Frage gestellt, sondern auch verändert, wie literarische Texte aussehen.

Das zeigt sich auch in Texten jenseits der Plattform. Jennifer Egans Black Box (2012, dt. 2013), ein Agentinnen-Thriller im Tweet-Format, kann in dieser Hinsicht als Grenzfall gelten: Egan, die selbst nicht aktiv twittert, hat für diesen Text Twitter als Konzept aufgenommen, indem sie ihren Text in kurze Abschnitte unterteilt hat und sich immer wieder auf die Form des Aphorismus bezieht. Der Text wurde vom New Yorker zunächst in einzelnen Tweets veröffentlicht und später auch im gedruckten Magazin publiziert. Ganz ohne die Veröffentlichung auf Twitter kommen andere Texte aus: Der Roman Lookalikes (2012) von Thomas Meinecke etwa, der kürzlich in einem literaturwissenschaftlichen Call for Papers als „Twitter-Roman“ bezeichnet wurde. Auch Romane wie Sibylle Bergs GRM (2019) oder Joshua Groß’ Flexen in Miami (2020) zehren auf ganz unterschiedliche Weise von der Erfahrung des Twitterns.

Noch radikaler provozieren Twitter-Bots die Frage nach dem Literaturbegriff: In einer Art uncreative writing (Kenneth Goldsmith) produzieren sie aus vorhandenem Textmaterial neue Tweets. Grundlage können literarische Texte wie Joyces Ulysses, der erste Satz von Prousts Recherche, bestimmte formelhafte Formulierungen oder auch Kochrezepte sein. Der @Sosweetbot wiederum retweetet Variationen auf William Carlos Williams Gedicht „This Is Just To Say“ und andere schmuggeln Zitate von Goethe, Blanchot oder Austen in die Timelines. Unübertroffen ist der @Pentametron, der die Silben von Tweets zählt und aus ihnen ein unendliches Gedicht im Pentameter schreibt. Beim Blick auf die Bots verdichten sich die Fragen, die schon in den „Twitteratur“-Diskussionen gestellt wurden: Ist das Literatur? Oder: Ab wann ist das Literatur? Kann man einem Bot, der stur Abschnitt um Abschnitt aus dem Moby Dick postet, literarische Autorschaft zuschreiben? Oder seiner Programmier*in? Handelt es sich um eigenständige literarische Texte?

Twitter fordert  jedoch nicht nur unseren Literaturbegriff heraus, sondern stößt auch eine neue Literaturpolitik an. Der Microblogging-Dienst zeichnet sich unter anderem durch die Sensibilisierung für Positionen jenseits des eigenen Blickwinkels aus.  Daraus entstehen neue Kollaborationen. Das Netzwerk bietet etwa eine Plattform für Indie-Verlage wie Frohmann, Herzstück, oder mikrotext. Hier treffen sich Lesende, Schreibende und Verlegende auf Augenhöhe, was vielfältige Wechselwirkungen zur Folge haben kann. Diese Verlage bringen Stimmen  von @sei_riots bis @sibelschick zu Gehör, die im white old Literaturbetrieb nicht vorkommen.

Auf einer andere Ebene verfolgen Hashtags wie #frauenlesen und #vorschauenzählen einen ähnlichen Zweck. Thema ist die Überrepräsentation von Männern im Literaturbetrieb. Unter #frauenlesen werden Leseempfehlungen von Autorinnen gesammelt und die eigene Lektüre von Autorinnen besprochen. Dadurch entwickelt sich ein Netzwerk, das stark von Lesenden geprägt ist und sich für Vielfalt im Bücherregal und im literarischen Kanon stark macht. #vorschauenzählen koordiniert das gemeinsame Auszählen der Verlagsvorschauen, um das dort oft herrschende Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern abzubilden.

Diese Kampagnen finden ihren Weg ins traditionelle Feuilleton. Tweets und Hashtag-Kampagnen sind oft der Anstoß, der den diskursiven Stein ins Rollen bringt. Auf Twitter stehen dem autonomieästhetisch denkenden Literaturbetrieb Verfechter*innen einer politischen Ästhetik gegenüber. Kollaborative Projekte werden gegen Autor*innengenies gesetzt: Im Frohmann-Verlag zum Beispiel erscheint der Sammelband #1000Todeschreiben als Gemeinschaftsprojekt vieler auch unbekannter Schreibender, die Literaturzeitschrift mischen sammelt Texte verschiedener Twitterautor*innen. Durch ständiges schreiben, gegenlesen, kommentieren und wieder schreiben, entwickelt sich die Twitterästhetik schnell weiter. Diese meist überheblichen Schreibweisen der Kritik werden über Memes und Tweet-Schablonen, über das sich übertrumpfende Schreiben mit- und gegeneinander und als Insider oder Running-Gags kontinuierlich in das Schreiben eingebunden weiterentwickelt und prägen maßgeblich die Ästhetik.

Die unterschiedlichen Stimmen auf Twitter erweitern den männlich geprägten Blick der Literaturkritik. Hashtags wie #dichterdran  thematisieren dieses Ungleichgewicht. Unter dem Hashtag finden sich Tweets, die männliche Autoren so beschreiben, wie Literaturkritiker Autorinnen und ihre Texte beschreiben: Reich geschmückt mit Adjektiven und auf Äußerlichkeiten fixiert, häufig werden Parallelen zu Figuren hergestellt. Aus der überspitzten Literaturkritikkritik entstand sogar ein Buch (Hemingways sexy Beine #dichterdran).

2019 ging der Literaturnobelpreis an Peter Handke, über dessen Jugoslawien-Texte sich eine Diskussion entwickelte. Thematisiert wurde die Trennung von Autor und Werk, Geschichtsrevisionismus und die Leugnung eines Genozids und Political Correctness. Auch hier war Twitter ein zentraler Schauplatz. Besonders der Schriftsteller Saša Stanišić sprach sich auf Twitter gegen die Verleihung des Preises aus und verschaffte dem Thema Aufmerksamkeit. Der Streit brachte sogar ein Meme hervor: „Ich komme von Tolstoi, ich komme von Homer, ich komme von Cervantes“, sagte Handke in Reaktion auf die Kritik. Es entwickelte sich ein Meme, das so „bubbleübergreifend“ und langlebig ist wie selten eines zuvor

Thomas Melle schrieb im Feuilleton der FAZ angeekelt von „Clowns auf Hetzjagd“ und bewies damit einmal mehr, dass das traditionelle Feuilleton sich weiterhin schwer tut mit der schnellen und offenen Debatte auf Twitter, die eigene Regeln entwickelt hat, zurechtzukommen.

Ein aktuelleres Beispiel ist die Debatte über die Biografie Woody Allens. Rowohlt Autor*innen wehrten sich in Deutschland mit einem Offenen Brief gegen die Veröffentlichung. Sie verlangen ausdrücklich eine aktive Beteiligung Rowohlts zur Klärung der Vorwürfe gegen den Autor.

Zwischen Feuilleton und Twitter ist ein Spannungsverhältnis zu beobachten, das die Zeit in einem Kommentar als „Elfenbeinturm gegen Kommentarkloake“ beschrieben hat. Bei nüchterner Betrachtung handelt es sich jedoch vielmehr um eine Hassliebe, die sich auf der einen Seite durch extreme Gegenpositionen und auf der anderen durch wechselseitige Bezugnahme auszeichnet – ein Spiel um Deutungshoheit. Diese führt nicht zuletzt dazu, dass nicht nur Feuilleton-Autor*innen auf Twitter auftauchen, sondern Twitter-Autor*innen im Feuilleton.

Dass Twitter in all diesen Feldern eine wichtigere Rolle spielt als andere digitale soziale Netzwerke, mag an der demographischen Zusammensetzung liegen. Oft haben Twitter-Nutzer*innen einen akademischen Hintergrund, häufig scheinen auch schreibende Berufe wie Werbetexter*innen, Journalist*innen vertreten zu sein. Zudem ist Twitter wesentlich textbasiert – trotz all der Möglichkeiten multimedialer Einbindung. Dies sind die Voraussetzungen der vielfältigen Wirksamkeit des sozialen Netzwerks. Es fordert Autor*innen, Literaturkritik und Literaturwissenschaften heraus, drängt sie zum Neudenken und leistet einen nicht zu unterschätzenden Beitrag, wenn es um die Vielfalt von Stimmen im Literaturbetrieb geht. Es begünstigt ästhetische Innovationen, führt zur Reflexion der eigenen Wertungskriterien und provoziert immer wieder die Frage, was Literatur überhaupt ist. Twitter hat das literarische Leben grundlegend verändert – mehr als Facebook, Instagram oder Snapchat.

 

 

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Letzte Ausfahrt “Tatort”-Münster

von Dax Werner

 

Mitte der 2010er-Jahre war ich das erste und einzige Mal auf einem WG-Abend, bei dem wir gemeinsam den Tatort geguckt haben. Das Treffen war konkret als “Tatortabend” deklariert, ich kann mich nicht mehr erinnern, welche:r Kommissar:in oder welches Duo in der Folge ermittelte oder worum es ging. Wir bestellten Pizza und konnten der Handlung gut folgen, obwohl wir uns parallel zum Film von unserem Wochenende erzählten. Es fühlte sich nicht hundertprozentig cool an, aber auch nicht grundfalsch, vielleicht ein bisschen flau, in jedem Fall ziemlich studentisch.

Der Song, der diese Zeit damals, also die Phase vor dem Einzug der AfD in den Bundestag und der gesellschaftlichen Debatte um Flüchtende spätestens ab 2016 zusammenfasst, war für mich Wolke 4 von Philipp Dittberner & Marv. Das Lied hat mich schon damals jedes Mal, wenn es lief, ein bisschen aufgeregt, auch weil ich seine Aussage vermutlich immer missverstanden habe: Dass man zufrieden sein kann mit Wolke 4 und nicht für eine bessere und vielversprechendere Wolke wie zum Beispiel Wolke 7 kämpfen soll. Das las sich wie eine perfekte ideologische Beschreibung der Jahre nach der Finanzkrise 2008 bis zur Mitte der Zehnerjahre: Zufrieden sein, mit dem was man hat, nicht nach mehr streben, sich nicht zu viele Gedanken machen. Zumindest wollte ich den Songtext so verstehen.

Diese Form der Selbstgenügsamkeit und des kulturellen Mittelwegs ließ und lässt sich jedoch auch am Tatort beobachten, der Krimireihe, in der seit nun exakt 50 Jahren gesellschaftspolitische Debatten in populärer Form verrührt werden; eine Selbstgenügsamkeit, in der gar nicht erst versucht wird, mit nationalen oder internationalen Produktionen zu konkurrieren. Stattdessen steht die Thematisierung und Vermittlung von gesellschaftspolitischen Diskursen im Vordergrund, über die man im besten Fall parallel in den sozialen Medien und anschließend in der Runde bei Anne Will miteinander ins Gespräch kommt. Durch das Emotionalisieren von bestimmten Themen, indem abstrakte Probleme an einzelnen Figuren durchgespielt und dramatisiert werden, ist der Tatort häufig Bestandteil einer gesellschaftlichen Debatte über virulente Fragen. Dieser sehr didaktische Ansatz bedingt eine konventionelle Filmsprache, die die Sehgewohnheiten des öffentlich-rechtlichen Publikums im Großen und Ganzen nicht zu sehr herausfordert. Mein Irrtum bestand lange Zeit darin, den Tatort als einen Fernsehfilm wie jeden anderen zu gucken. Beim Tatort aber und seinem Kontext in Form öffentlich-rechtlicher Produktionsbedingungen, Sendungen, die inhaltlich anschließen, und dem bis vor wenigen Jahren populären “Twittern über den Tatort”, kann man einem bestimmten Teil der Gesellschaft zuschauen, wie er über sich selbst ins Gespräch kommt: Der Tatort als jetzt aber nun wirklich allerletztes Lagerfeuer-TV.

Für mich aber stand lange vergeblich die Frage im Mittelpunkt was die dort erzählten Geschichten eigentlich mit mir und meiner Biografie zu tun haben. Ich verfolgte die sonntägliche Krimireihe schon seit vielen Jahren, weil ich immer das diffuse Gefühl hatte, dass man dort einen guten Eindruck von etwas bekam, was ich nicht so richtig benennen konnte (vielleicht den bundesdeutschen Durchschnitt?). Am Anfang mochte ich wie viele andere den Münsteraner Tatort am liebsten, weil er das damals angestaubte Format für Millennials wie mich als eine Art frische Genreparodie zugänglich machte. Später interessierte ich mich dann eher für das Dortmunder Team um den düsteren und weltverdrossenen Peter Faber und die Metaexperimente von Ulrich Tukur als Felix Murot, gegen die sich kleine Schlaumeier wie ich mit ihren vielen Filmreferenzen dann kaum wehren konnten. Doch ganz gleich wie ambitioniert und experimentell der Tatort sich hin und wieder gibt, das Grundgefühl ist für mich immer dasselbe geblieben: Enttäuschung. Denn am Ende waren es immer dieselben Fragen, die mich aus der Story rissen: Warum muss dieser vielversprechende Fall schon wieder in einer Verfolgungsjagd mit Showdown enden? Warum geht dieser übermütige Kommissar zum wiederholten Mal auf eigene Faust in das dunkle Gebäude und wartet nicht fünf Minuten auf Verstärkung? Warum tauchen junge Menschen eigentlich so oft psychisch vollkommen gebrochen auf oder geben sich gegenüber den Polizeikommissar:innen so standhaft störrisch? Warum schreien junge Mädchen im Tatort so viel? Ist die Zeitlupe wirklich die einzige mögliche filmische Form, einen Tod durch Schusswaffe darzustellen? Wieso ist die Tatsache, dass ein:e Zeug:in schweigt, gerade schon wieder der einzige Handlungsmotor? Und schließlich: Warum kennt der Tatort soziale Milieus eigentlich ausschließlich als Extreme (sehr reich oder klischeehaft arm), warum also findet die so viel zitierte bedrohte Mittelschicht so wenig Repräsentation? Um es auf eine Kernfrage zu bringen: Von was will mir der Tatort also eigentlich erzählen?

Vielleicht will er ja auch einfach nur mir gar nicht so viel erzählen, zumindest nicht über mich oder meine Lebensrealität. Oder was mich an langen Filmformaten interessiert. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass der Tatort, wenn schon nicht sein eigenes Genre, so zumindest eine eigene Ästhetik herausgebildet hat. Der Drehbuchautor und Regisseur Robert Bramkamp sprach 2010 beim 6. Bundeskongress des Bundesverbandes für kommunale Filmarbeit unter dem Titel Abschied vom Retrorealismus und skizzierte dabei das Konzept des Retrorealismus so:

Es handelt sich um eine fiktionale Konsensproduktion nach politisch korrekten, aus dem Meinungsjournalismus stammenden Kriterien. Das ist die Basis. Diese Kriterien werden übersetzt in Personenhandeln; dieses Personenhandeln wird mit unterkomplexem Illusionismus illustriert – und fertig ist die retrorealistische Wirklichkeit als eine absichtsvoll unterkomplexe, die Zuschauer gewissermaßen ständig abdämmernde Weltmodellierung.

Zwar sprach er nicht über den Tatort, aber es kam mir beim Lesen ein bisschen so vor. Denn mit dem Retrorealismus wird ja gerade auch eine Anschlussfähigkeit filmischer Produktionen an tagesaktuelle gesellschaftliche Debatten und öffentlich-rechtliche Themenwochen anvisiert, also Fernsehen für ein bestimmtes Segment des Publikums, das tendenziell älter und tendenziell bürgerlicher als ich selbst ist. Diese Kompatibilität wird eben auch dadurch hergestellt, dass die durchschnittliche Tatort-Folge im Laufe ihrer Entstehung viele verschiedene Interessen berücksichtigen muss und dadurch auch in ihren erzählerischen Mitteln limitiert wird. Das unterkomplexe, meist wenig Fragen offenlassende Personenhandeln inmitten von Schauplätzen, die jeder potenziell kennt, erzeugt eine Realität, die es so natürlich gar nicht gibt. Sie verläuft stattdessen immer knapp entlang der realen tatsächlichen Alltagswelt und erinnert so manchmal an den Uncanny Valley-Effekt: So nah an der Realität dran, dass man es als Realität erkennt, aber gerade so weit weg, dass eine diffuse Irritation entsteht; in dem Sinne, dass der Tatort mich eigentlich immer an etwas erinnert, was ich gerne gucken würde, dieses jedoch nie erfüllt. Und so rührte meine immer wiederkehrende Enttäuschung beim Tatort-Gucken vielleicht einfach daher, dass ich als Zuschauer, der gehofft hatte, etwas Neues zu sehen oder zu erfahren, nie gemeint war.

Nun sind die zitierten Überlegungen Bramkamps auch schon wieder zehn Jahre her und die Frage, wie ein auf mich persönlich zugeschnittenes Programm überhaupt aussehen könnte, ist vollumfänglich beantwortet: Netflix. Das komplett personalisierte und subjektivierte Fernseherlebnis ist schon länger Realität und der letzte bewusst wahrgenommene Tatort-Sonntagabend im linearen Fernsehen auch schon ziemlich lange her. Aber so sehr die Flut an internationalen Hochglanzproduktionen zum sogenannten Bingewatchen einladen, so schnell zeichnen sich parallel zu den neuen Sehgewohnheiten auch neue Probleme ab. Einige davon hat Georgen Seeßlen letztes Jahr in einem Essay formuliert:

Mit der Serie, die sich als »speziell« ausweist, reagiert die Produktion direkt auf die Wünsche und Möglichkeiten der Kunden, ohne eine lästige Öffentlichkeit dazwischen, und, abgesehen von Äußerungen des Enthusiasmus oder der Enttäuschung, ohne ein Dazwischenfunken der Kritik.

Der in hohen Maße subjektivierte und hochfrequente Serienkonsum sorgt für eine sich immer weiter fragmentierende Öffentlichkeit, in der man nicht mehr so recht ins Gespräch kommt über das, was man da gerade gesehen hat. Auch mit Folgen für öffentlich-rechtliche Produktionen:

Das Fatale an der Spaltung des TV-Verhaltens liegt in der Kraft der Selbstverstärkung. Um noch akzeptable Quoten zu erlangen, müssen die »alten« Sender, die öffentlich-rechtlichen vor allem, genau die Klientel bedienen, die noch im Geschmack an der »heilen Welt« verharrt. Daraus entsteht ein mehr oder weniger gerontologisches Fernsehen, aus Quiz-Sendungen, »Traumschiff« und Formaten über die »Heimat«, durchsetzt mit der üblichen Krimi-Kost, was wiederum die letzten Zuschauer vertreiben dürfte.

Dass sich die öffentlich-rechtlichen Film- und Fernsehproduktionen unter dem Eindruck der neuen Marktmacht der Streaminganbieter nur immer weiter in ihren retrorealistischen Fiktionen verlieren könnten, klingt zumindest nicht unplausibel. Auf der anderen Seite ist es auch nicht so, dass Netflix, Amazon und die anderen Anbieter nun plötzlich alles richtig machen, was früher falsch gemacht wurde. Die deutsche Netflix-Produktion Biohackers etwa wirkt wie eine Serie, die wie bei Malen-nach-Zahlen nach dem Tatort-Prinzip realisiert wurde, eine Art Tatort für die Generation Netflix in halbstündigen Portionen: Ein gesellschaftspolitisches Thema (Gentechnologie) wird in einem bekannten Setting (Studieren in einer mittleren deutschen Stadt) mit unterkomplexen und motivationslosen Figuren thematisiert. Und so streamt es sich auch. Dass Biohackers auf eine unmissverständliche Einteilung zwischen Gut und Böse sowie eine exakt kalkulierte Mischung aus Liebe, Action und Nerd Culture á la Big Bang Theory setzt, zeigt, wie natürlich auch Netflix mit dieser und anderen gefälligen Produktionen letztendlich ein Konsenspublikum bespielt, das sich von dem der Öffentlich-Rechtlichen nur noch im Alter unterscheidet. Zugleich beobachte ich auch an mir selber inzwischen kaum noch zu rechtfertigende Vorurteile, wann immer es um deutsche Produktionen geht, wie zum Beispiel bei der international sehr erfolgreichen Science-Fiction-Mysteryserie Dark. Während internationale Kritiker:innern die Serie mit Twin Peaks vergleichen, blockieren mich die trostlose Visualität, das mysteriöse Geschwurbel der Dialoge und die bedeutungsvolle Schwere jeder einzelnen Einstellung in Dark gerade deswegen, weil ich so genau weiß, dass es sich um eine deutsche Produktion handelt. Schade eigentlich.

Denn um uns bei Laune zu halten, suchen die großen Video-on-demand-Anbieter ja auch außerhalb der USA immer weiter nach spezifischen Stories, die so nur in ihrem jeweiligen Land spielen können und uns so etwas über dieses Land erzählen wollen. Aber wenn man ganz ehrlich ist, gibt es eigentlich nur ein Format, um jemandem Deutschland in 90 Minuten zu erklären: Auch zehn Jahre nach meinem ersten und einzigen organisierten WG-Abend gibt es immer noch nichts, was das diffuse Gefühl von Stillstand und retrorealistischer Nostalgie besser vermitteln könnte als der Tatort.

 

 

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[Atelier NRW] Das schreibende Ich im Kaleidoskop

Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.

 

Eine Einleitung von Dorian Steinhoff

Es kam anders als geplant. Die Autoverleihstation hatte überaus pünktlich geschlossen. So pünktlich, dass drei Minuten nach dem vereinbarten Abholtermin für unseren Mietwagen nicht einmal mehr jemand hinter den verschlossenen Glastüren saß, den man mit einem sanften Klopfen auf die eigene Ankunft und den bestehenden Abholwunsch hätte aufmerksam machen können. Ratlos bis aufgebracht standen wir, die Reisegruppe Atelier NRW, also im Gepäckfächer-Gang des Kölner Hauptbahnhofs und telefonierten abwechselnd mit dem Autovermieter und der Buchungsplattform, über die wir den Wagen reserviert hatten. Wir schauten verunsichert von links nach rechts, bewegten die Zehen in den Schuhen und versuchten Witze zu machen, die sich allesamt im Hallraum über uns und der unbefriedigenden Situation versendeten. Auf der anderen Seite des Ganges bissen andere Reisende hinter anderen Glastüren in Wraps und nippten zaghaft an Kaffeebechern. Wir passten nicht hierher, dieser Gang – ein Transitraum, weder architektonisch noch sozial konstruiert, um in ihm herumzustehen, nach schlechten Zugverbindungen zu suchen und parallel Telefongespräche zu führen, die beide Gesprächspartner aus unterschiedlichen Gründen erschöpft und entnervt zurücklassen.

Im Endeffekt nahmen wir den Zug, mussten zwei Mal umsteigen, verpassten ein Mal den Anschluss und teilten Snacks in der Wartehalle des Paderborner Hauptbahnhofs. Als wir schließlich im Gräflichen Park Bad Driburg ankamen, teilte man uns an der Rezeption mit, dass die Küche nicht mehr lange geöffnet haben würde.

So könnte man die Geschichte unserer Anfahrt zum Autorensymposium Atelier NRW erzählen. Zugleich wirft diese kurze Episode alle Fragen und Themen auf, mit denen wir uns in Bad Driburg beschäftigen sollten.

Yannic Han Biao Federer, Gunther Geltinger, Sabrina Janesch, Husch Josten, Juliana Kálnay und Bastian Schneider waren der Einladung von Thorsten Dönges und mir gefolgt, drei Tage lang gemeinsam über selbstgewählte poetologische Fragestellungen nachzudenken. Zu diskutieren, Thesen über den Tisch zu kegeln, Rat zu suchen, Erfahrungen auszutauschen. Alle Teilnehmenden hatten Impulsvorträge zu im Vorfeld verabredeten Themen ausgearbeitet. Gemeinsam saßen wir dann drei Tage bei Keks und lokalem Quellwasser im Tagungsraum Sabine und hörten zu, dachten mit, immer im Interesse am Verfolgen des eigenen Gedankens mit anderen. Im Danach und im Dazwischen ging es dann oft noch weiter, bis es wieder ein Davor gab, in dem wir uns begegnen konnten.

Im übertragenen Sinne führten unsere Gespräche durch das Kaleidoskop eines erlebenden und schreibenden Ichs, das sich selbst zum (Mit)Gegenstand des Erzählten macht: Ist die Anreise zu einem Symposium für das Symposium selbst relevant? Und wenn ja, gilt das auch für das Editorial einer Essaysammlung zu eben jenem Symposium? Oder ist Relevanz ohnehin nur mit Wissen über die Zukunft konstruierbar, in der diese Relevanz hergestellt wird? Wie konstruiere ich überhaupt ein erzählendes Wir, das diejenigen auf integre Weise einbezieht, die offenkundig gemeint sind? Müsste jede Anfahrt, die ich in Zukunft unternehme, ebenfalls missglücken, damit ich weiter von Anfahrten erzählen kann?

Und was würde das für meine Reisen, mein Nervenkostüm und mein Schreiben über Anfahrten bedeuten? Sollte ich einen Mietwagen etwa immer drei Minuten zu spät abholen, um etwas zu erleben, über das ich schreiben kann? Wie beschreibe ich die Tristesse des Paderborner Hauptbahnhofs, wenn alles, was man über sie sagen könnte, den Eichstrich des Erzählbaren übersteigt? Und wie beeinflusst bin ich beim Schreiben, beim Arrangieren und Zuschneiden des Erlebten davon, dass ich weiß, dass ein zukünftiges Ich, das ich sein könnte, auf die Beschreibung des Erlebten zurückgeworfen, mit ihm in Verbindung gebracht werden könnte? Und zwar wiederum von diesem Ich. Und der Autovermietung. Oder auch, man stelle sich vor – dem Wir. Wer auch immer das sein soll.

Dass die Tage in Bad Driburg nun in verdichteter Form für eine Leserschaft zugänglich gemacht werden, halte ich für einen relevanten Beitrag zu einem hochaktuellen literarischen Phänomen. Tangieren sie doch fast alle drängenden Fragen einer der populärsten Formen und Diskurse der Gegenwartsliteratur: die Autofiktion.

Ich freue mich, dass Atelier NRW auf diese Weise beiträgt, dieses literarische Vexierspiels zu umkreisen. Ganz besonderen Dank für die langjährige Ermöglichung dieses Projektes, das auch in diesem Jahr fortgesetzt wird, gebührt der Kunststiftung NRW und dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen. Durch ihre finanzielle Unterstützung wurde uns erst ermöglicht, in dieser Form der Literatur und unserem Schreiben nachspüren zu können.

Die Küche im Hotelrestaurant hatte übrigens noch lange genug geöffnet. Wir wurden ausgiebig bedient und bekocht, und auch das ist natürlich bloß eine von unzähligen möglichen Fiktionalisierungen eines Fakts. Ob sie relevant ist, weiß nur der Magen des Wir. In diesem Sinne wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Begehen des Essay-Kaleidoskops: Atelier NRW.

 

Dorian Steinhoff, geboren 1985 in Bonn, ist Deutscher und Österreicher. Er veröffentlicht Prosa, schreibt für Presse, Rundfunk und Bühne. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, Texte von ihm liegen übersetzt in fünf Sprachen vor. Dorian Steinhoff lebt in Köln.

Beitragsbild von Andre Benz

Genealogie der Sorge – Vom Erzählen der Zukunft und denen, die am Ende aufräumen müssen

von Solvejg Nitzke

 

Im Urlaub, als ich gemütlich Andri Snær Magnasons Wasser und Zeit lesend im Liegestuhl lag, stellte mir mein Mann eine Frage, die mich seitdem beschäftigt: „Wie viele solcher Bücher musst Du eigentlich noch lesen?“ Wäre er nicht auch ein Büchermensch, wäre diese Frage eine Frechheit. Ich kann ja schließlich lesen, so viel ich will. Da er aber zur statischen Verunsicherung unserer Wohnung durch immense Buchkäufe ebenso beiträgt, wie ich, kann die Frage nach der Zahl der gelesenen Bücher nicht Grund für seinen Kommentar sein. Auch das Prinzip, mehrere Bücher zu einem Thema zu lesen, ist ihm als Wissenschaftler nicht fremd. In seiner Frage lag vielmehr eine andere Sorge, denn „solche“ Bücher, meint: Bücher über die globale Klimaerwärmung, die Gefährdung von Ökosystemen und Biodiversitätsverluste, kurz, über eine Zukunft, die in beinahe jeder Hinsicht von Zerstörung und Verlust natürlicher Umwelten gekennzeichnet sein wird.

Die Sorge, die ich meinem Mann unterstelle, umfasst also nicht nur den Verdacht, ich arbeite im Urlaub (plausibel), sondern auch die Vorahnung, dass ich nach der Lektüre einmal mehr vollkommen frustriert sein würde. Denn ich muss kein Klimabuch mehr lesen – das Projekt zur „Zeit des Klimas“, in dem ich in Wien gearbeitet habe, ist abgeschlossen, das letzte ausstehende Sonderheft erschienen. Handelt es sich also um ein zwanghaftes Verhalten – masochistisches Lesen sozusagen?

Die Frage legt nahe, dass es ein „Genug“ gäbe, also eine Menge an Büchern, nach deren Lektüre man Bescheid wisse oder ab der es zumindest ratsam wäre, nicht noch mehr zu lesen und sei es nur, um sich wenigstens im Urlaub nicht noch einmal mit den drohenden Katastrophen einer sich radikal verändernden Welt und der weitreichenden Ignoranz gegenüber diesen wahrscheinlicher werdenden Szenarien zu konfrontieren. Diese Grenze zu überschreiten markiert dann vielleicht tatsächlich den Übergang von Wissensdurst und wissenschaftlichem Interesse zu etwas Anderem. Aber wozu?

Die Frage beschäftigt mich nicht nur, weil ich befürchte, es könnte etwas dran sein an der impliziten Unterstellung eines gewissen Lesemasochismus. Man müsste sie nämlich auch an die Autor*innen „solcher“ Bücher stellen: Wie viele Klima-Bücher müsst Ihr noch schreiben? Was könnt Ihr noch sagen, das wir nicht schon längst wissen? Leistet Ihr mehr, als uns zu frustrieren oder – vielleicht noch schlimmer – falsche Hoffnung zu wecken? Diesen Fragen, so grundsätzlich sie sind, muss sich ein Buch über „Wasser und Zeit“ stellen, denn gerade weil Bücher über Klima und Natur oft ein so großes Publikum finden, tragen sie eine Verantwortung. Das heißt nicht, dass sie letzte Antworten liefern oder gar Probleme lösen müssen, die Politik und Gesellschaft seit Jahrzehnten vehement verweigern, aber sie müssen sich fragen lassen, was sie zu sagen haben und wie.

Familienklimageschichte

Andri Snær Magnasons Geschichte unserer Zukunft versucht, die ‚Generationenfrage‘ zum Erzählprinzip zu machen. Nicht zuletzt angesichts des ersten isländischen Gletschertodes begann er, sich mit der Frage zu beschäftigen, in welcher Welt zukünftige Generationen, in diesem Fall seine Tochter Hulda, leben werden und wie sich die Welt in einem Zeitraum, der direkt mit ihrem Leben verbunden ist, verändern wird:

„Stell Dir mal vor! 262 Jahre! Das ist die Zeitspanne mit der du in Verbindung stehst, du kennst Menschen aus dieser gesamten Zeitspanne. Deine Zeit ist die Zeit von jemandem, den du kennst, den du liebst und der dich prägt. Und deine Zeit ist auch die Zeit von jemandem, den du kennen und lieben wirst, die Zeit, die du gestalten wirst. Du kannst 262 Jahre mit deinen bloßen Händen berühren. Deine Uroma bringt dir etwas bei, und du bringst deiner Urenkelin etwas bei. Du kannst direkten Einfluss auf die Zukunft nehmen, bis zum Jahr 2186.“ (22)

Es wäre kein Buch über die Zukunft, würde Andri hier nur seine Tochter ansprechen. (Da es im Isländischen statt Nachnamen Patronyme gibt, muss entweder der Vorname oder der vollständige Name verwendet werden – der persönliche oder intime Eindruck, der so im Deutschen entsteht, passt aber auch über die korrekte Benennung hinaus zu Andris Leser*innenansprache). In der Rechenaufgabe (wie lange lebt meine Urenkelin, wenn ich so alt werde, wie meine Uroma) steckt die Aufforderung, die „eigene Zeit“ selbst zu berechnen. Damit wären wir mitten in dem Forschungsfeld, an dem ich in den letzten Jahren mitgearbeitet habe. Im Projekt „Zeit des Klimas“ an der Universität Wien wäre das ein gutes Beispiel für den erzählerischen Einsatz „ästhetischer Eigenzeiten“ gewesen. Es ging dabei um die Verzeitlichung der Natur in der modernen Literatur, d.h. um den Paradigmenwechsel einer Vorstellung von Klima und Natur als statischen hin zu dynamischen und damit letztlich auch von Menschen veränderbaren Größen.

Gerade mit Blick auf das Klima ist die Literatur – in einem sehr weiten Sinne – eine zentrale Agentin dieser Transformation, denn sie kann (Zukunfts-)Szenarien unabhängig davon durchspielen, ob sie wahrscheinlich sind, sie kann „exotische“ Klimata vergegenwärtigen und Klima auf jeder erdenklichen Ebene manipulieren. Gerade im Erzählen lassen sich unbegreiflich komplexe Zusammenhänge auf eine Weise darstellen, die menschliche Dimensionen von Zeit und Raum mit den Größenordnungen von Erd- und Klimageschichte in einen sinnvollen Zusammenhang stellen. Andri greift genau diese Idee auf und versucht, sie zu einem Handlungsaufruf zu entwickeln.

Bis er dort ankommt, muss er all jene Szenarien von Verfall und Zerstörung aufrufen, die den Diskurs über die ökologische Krisenlage der Gegenwart bebildern und soviel Angst erzeugen, dass sie – zumindest bis die Corona-Pandemie dem vorerst ein Ende setzte – vor allem junge Menschen in Massen zu Streiks und Demonstrationen bringen. Dass er trotzdem nicht in einen apokalyptischen Tonfall verfällt, wie z.B. der von ihm zitierte David Wallace-Wells [1], liegt daran, dass die (Erd-)Geschichte den Menschen in der von Andri Snær Magnason geschilderten Welt (noch) nicht entglitten ist. Vielmehr verschiebt sie menschliche Agency, genauer, das Narrativ der Kontrolle über die Natur von einem Dominanzdiskurs zu einem der Sorge. Dazu muss er zunächst die Größenordnungen der ökologischen und klimatologischen Transformationen auf ein menschliches Maß bringen.

Andris genealogisches Gedankenexperiment dient genau diesem Zweck. Es bringt die Zeiträume der Zukunftszenarien des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change – der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaveränderungen oder Weltklimarat) in Berührung mit tatsächlichen Menschen. Weil es verwandte Menschen sind, wird aus der Metapher der Berührung ein ‚natürlicher‘ Zusammenhang. Wasser und Zeit macht aus Klimageschichte Familiengeschichte – das macht das Buch nicht nur besonders lesbar, sondern auch problematisch, denn die Beziehung der Familie von Andri Snær Magnason zu den Gletschern wird über den nur scheinbar kleinen Umweg des Mythos zu einem genealogischen und nationalen Wir, das ohne viel Aufhebens pars pro toto für die ganze Menschheit einstehen soll.

Die scheinbare Unvereinbarkeit der neuen Wirklichkeit erfordere, so Andri zu Beginn des Textes, eine massive Anstrengung sowohl in Hinblick auf die materiellen Bedingungen der drohenden Veränderungen des Erdsystems, als auch auf die Sprache, in der sie beschrieben werden: „Wenn ein System zusammenbricht, befreit sich die Sprache aus ihren Fesseln. Wörter, die eigentlich die Realität beschreiben sollten, schweben frei in der Luft und sind nicht mehr zutreffend. […]“ (10).

Der Systemzusammenbruch, den Andri Snær Magnason zu Beginn beschreibt, ist die Bankenkrise, die Island besonders hart traf und (nicht nur) in seiner Darstellung an den Zauberlehrling erinnert, der die Geister, die er rief, nun nicht mehr loswird. Wie Zauberworte befreit sich dann auch die Sprache aus ihren Fesseln und verweigert den ihr anscheinend eigenen Zusammenhang mit der Realität. Die Leitmotivik des Buchs – Gletscher und Staudämme – klingt hier bereits an, denn die unfassbare Energie der gefrorenen, wie flüssigen Wassermassen, die in Andris Geschichte der Zukunft Island mit Tibet und damit ‚der ganzen Welt‘ verbinden, bricht sich hier bereits rhetorisch Bahn. Der Sprung von der Finanzkrise (immerhin einer globalen Krise) zur globalen Erderwärmung wird dadurch abgesichert, dass Island zum tertium comparationis, also zur Gemeinsamkeit oder zum Kontinuum in den Krisen wird. Island, als konkreter Ort ebenso wie als Idee, wird also zum Anfang und Ende einer Geschichte der Zukunft, die – so scheint es – nur von hier aus so erzählbar wird. Es hält alle Sprünge zusammen, weil alle Ebenen der Erzählung  (Familie, Mythos, Klima) sich hier treffen.

Arbeit am Mythos

Es lohnt sich diese Sprünge, etwas genauer zu betrachten. Wasser und Zeit spielt sich auf drei Ebenen ab, die zugleich Erzählverfahren, Motive und Argumente bilden: Familie bzw. Familienbeziehungen, Mythos und Mythologie sowie die der ökologischen Verhältnisse, vor allem des Weltklimas. Die Aufgabe an die Tochter, auszurechnen, wie viele Jahre mit ihrem Leben „direkt“ verbunden sind, d.h. durch Verwandtschaft, Vor- und Nachfahren, denen sie begegnet ist oder denen sie begegnen kann, bildet den Kontrapunkt zur Entfesselung der Sprache, die der Schriftsteller (Andri Snær Magnason) selbst erlebt. Während der Zusammenhang zwischen Wörtern und Wirklichkeit mit der Gewalt eines Dammbruchs zerfällt, bildet die (Bluts-)Verwandschaft einen Zusammenhang, dessen Realität eben nicht durch Sprache konstruiert, sondern durch Genealogie gegeben ist. Sie holt die entfesselte Sprache wieder ein, indem sie eine Alternative anbietet, die – zumindest in dieser Logik – unabhängig vom Sprachvermögen ‚greifbar‘ ist.

Ob die dereinst 94 Jahre alte Urenkelin im Jahr 2186 für die zehnjährige Hulda ‚wirklich‘ greifbarer ist als ansteigende Meeresspiegel oder die „Versauerung der Meere“ sei dahin gestellt. Das Gedankenexperiment erzeugt eine vertraute Relation, die Tochter (wie Leserin) als Konzept näher ist, als die “Versauerung”. Denn die Zukunft der Gletscher wird durch die Familienverbindung zum Teil der eigenen Geschichte. Auf diese Weise kann Andri Snær Magnason nicht nur die Gletscher, sondern auch J.R.R. Tolkien und Robert Oppenheimer in „seine“ Geschichte einbeziehen – seine Großtante war Tolkiens Kindermädchen, sein Onkel, Arzt in New York, operierte Oppenheimer und den iranischen Schah.

Damit macht es Andri Snær Magnason sich und seinen Leser*innen allerdings eine Spur zu einfach. Die Krux seiner Geschichte der Zukunft liegt im Verhältnis  von Mythos und Natur. Denn es handelt sich nicht um Gegensätze die Wasser und Zeit wieder vereint, sondern um gleichermaßen wirkmächtige Konzepte, die im Erzählen auf problematische Weise zusammen kommen. Diese erzählerische Operation leistet nämlich weit mehr, als Anschaulichkeit herzustellen, sie naturalisiert Relationen und Beziehungen.

Roland Barthes hat das Verfahren der Naturalisierung  als zentrale Funktion des Mythos beschrieben: Der Mythos als Rede [2] verdoppelt den Zeichenprozess mit dem Ergebnis, die Arbitrarität des ursprünglichen Zeichens zu verschleiern bzw. zurückzunehmen. Der Mythos wird so zum Werkzeug von Ideologie, weil er menschengemachte, sprachlich erzeugte Zeichen, wie die Dinge selbst erscheinen lässt, also naturalisiert. Zugespitzt: der Mythos macht aus Geschichten Wirklichkeit. Damit lassen sich gesellschaftliche Ordnungen, Rituale und Vorlieben, aber eben auch nationalistische Erzählungen nicht nur rechtfertigen, sondern gleich unhinterfragbar machen. Weil Gletscher Teil der Familiengeschichte sind, wird ihr Verlust emotional belegt. „Unser“ Gletscher stirbt; „Ich kannte noch…“-Geschichten, die lang genug zu den Genres der Familiengeschichten gehörten, werden hier zum Gradmesser und Wertmaßstab nicht-menschlicher Natur und das, ohne dass dieser Wertungsprozess reflektiert werden müsste.

Die „deutsche“ Wald- und Heimatliebe gehören ebenso zu diesen Erzählungen, wie die bei Andri Snær Magnason ausgestellte isländische Gletscherverwandtschaft. Was abstrakt klingt, wird bei Andri insofern zum Programm, als er die semiotische Funktion des Mythos verdoppelt und verdreifacht. Denn wo die familiären Beziehungen doch (wiederum buchstäblich) zu kurz greifen, verbindet Andri sie mit isländischen und – in einer etwas abenteuerlichen, wenn auch charmanten Bewegung – tibetischen Mythen. Die Kuh Auðhumla dient ihm als Anlass, die scheinbar universale Bedeutung des Gletscherwassers für ‚die Menschen‘ zu behaupten. Auch wenn er die Unterschiede aufzählt, sie verschwinden hinter dem allzu passenden Bild der „heiligen Kuh“. Rund um den Himalaya hängen die Wasserversorgung von Millionen Menschen sowie das regionale Klima von den Gletscherflüssen ab. Das Verschwinden der isländischen Gletscher wirkt sich hingegen nicht so unmittelbar auf die Bevölkerung des Landes aus, zumal wenn man die Anzahl der direkt betroffenen Menschen bedenkt, denen ggf. der Zugang zu Frischwasser fehlt. Auch die Etymologie von Auðhumla und dem Himalaya bleibt assoziativ  (u.a. über den tibetischen Distrikt Humla, 79).

Die Behauptung der globalen Gletscherverwandtschaft der Isländer und Tibeter auf die Tatsache zu gründen, dass Edda und Veden an (unterschiedlich) zentraler Stelle von einer Kuh erzählen aus deren Euter Flüsse aus Milch entstehen, ist philologisch so unsauber wie sie narrativ wirksam ist. Dennoch gelingt es Andri dadurch die geschilderten  Verhältnisse einmal mehr zu naturalisieren  – so, als müsse eine Gemeinschaft, die an Gletscherflüssen lebt (unabhängig davon, ob sie wissen kann, dass es sich um solche handelt) davon ausgehen, eine riesige Kuh „spende“ dieses Leben. Dass seine Besessenheit mit der Kuh zumindest zum Schmunzeln anregt, zeigt Andri Snær Magnason immerhin selbst auf. Sie leitet nichtsdestotrotz eine tour de force der Überblendungen von Familie, Mythos und Klima an, deren gut gemeintes Ziel sie nicht vollständig von ihren problematischen Aspekten befreit. Das Lachen des Dalai Lama über Andris „Magic Cow“ (245) ist in dieser Hinsicht sehr großzügig.

Problematisch ist Andri Snær Magnasons Geschichte der Zukunft im Grunde aus den gleichen Gründen, die sie so gut lesbar machen. Die Genealogie der Sorge für die Zukunft, die Wasser und Zeit avant la lettre entwirft, geht ein bisschen zu gut auf. Sie verknüpft einzelne Menschen mit den globalen, tiefenzeitlichen Systemen der Atmosphäre, der Wasserkreisläufe und damit mit der gesamten Biosphäre. Ein Problem dieser „Mythologie für die Gegenwart“ (114) benennt Andri selbst: „Bei Themen, die das gesamte Wasser auf der Erde, die gesamte Erdoberfläche und die gesamte Atmosphäre betreffen, erreicht man eine Dimension, die jegliche Bedeutung aufsaugt“ (12). Das „Rauschen“, das Worte wie „Versauerung der Meere“, „Gletscherschmelze“ und „globale Erwärmung“ verursachen, vergleicht er passend mit einem schwarzen Loch.

Die Dimensionen von Erd- und Klimageschichte verschlucken alle menschlichen Ereignisse und Bedeutungen in einem Rahmen, der 262 Jahre (mögliche) Familiengeschichte, nicht einmal anderthalb Jahrtausende isländischer Geschichte und selbst die zehntausendjährige Geschichte des homo sapiens mit viel gutem Willen zu nebensächlichen Ausnahmefällen der Erdgeschichte macht. Aber die (Zeit-)Verhältnisse haben sich verändert: „Die größten Kräfte der Erde haben die geologische Zeitskala verlassen und verändern sich nun auf einer menschlichen Skala“ (11). Das ist, für das, was es sagt, ein verhältnismäßiger Satz; aber wenn man bedenkt, was er bedeutet, kann man geradezu die Energie des schwarzen Lochs fühlen, von dem Andri Snær Magnason spricht. Dinge, die sonst im Rahmen von Jahrmillionen ablaufen (geologische Zeitskala), passieren nun im Zeitraum weniger Generationen (menschliche Skala).

Das Problem mit der Naturverbundenheit

Es leuchtet also unmittelbar ein, die eigenen Kinder und Kindeskinder (Nichten und Neffen tun es vielleicht auch) zu bedenken, um sich die Auswirkungen dieser Zukunft vor Augen zu führen. Sich über Nachkommen und Vorfahren aber an eine Landschaft zu binden, kann genau den gegenteiligen Effekt haben. Die Literaturwissenschaftlerin Ursula K. Heise hat in ihrer grundlegenden Studie Sense of Place and Sense of Planet. The Environmental Imagination of the Global (2008) auf die nicht zuletzt politische Notwendigkeit hingewiesen, zwischen lokaler und globaler Sphäre zu vermitteln, ohne die Spannung des Prinzips ‚act locally, think globally‘ einfach aufzulösen.[3]

Denn die Auflösung des spannungsvollen Gegensatzes von lokaler und globaler Handlung kann dazu führen, einen falschen Glauben an die Übertragbarkeit kulturell spezifischer Beziehungen zu Landschaft und Umwelt zu schüren und einen verschwindend geringen Teil der Menschheit – zumeist ein „Wir“ – zum Maßstab für alle zu nehmen. Wenn nämlich jede individuelle Handlung auf das globale Ganze abstrahlt, ist die umgekehrte Konsequenz allzu oft, dass eine lokale Besonderheit zum Maßstab für alle erhoben wird. Dieses Problem betrifft nicht allein Andri Snær Magnasons Text, ganz im Gegenteil.

Einer der berühmtesten Artikel über Klima und Geschichte, Dipesh Chakrabartys The Climate of History (2009)[4] spricht vom Zusammenbruch der Unterscheidung von Erd- und Humangeschichte und ruft nach einem „species thinking“ (213), also einem Denken, das alle Menschen als Teil einer (bedrohten) Art begreift. In diesem Sinne agiert Wasser und Zeit genau richtig: es macht keine Unterschiede zwischen Tibeter*innen und Isländer*innen, wenn es um die Zukunft geht, denn die Gletscher schmelzen überall. Wie aber Rob Nixon [5] und viele andere Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen eindrücklich gezeigt haben, verkennt „species thinking“ die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und Auswirkungen der globalen Krisen.

Andri Snær Magnason streift diese nur kurz. Er verweist zwar auf ein Bewusstsein dafür, dass sich die Gletscherschmelze im Himalaya anders auf den ohnehin mangelnden Wohlstand in Bangladesh und Indien auswirken wird als in Island und darauf, dass in China auch und vor allem deswegen so hohe Mengen CO2 ausgestoßen werden, um einen Lebensstandard zu erreichen, der auch nur annähernd dem der isländischen Familien gleicht, die Andri beschreibt; am Ende aber kommt er immer wieder am gleichen Punkt an: Wenn allein in der überschaubaren Zeitspanne seiner Familiengeschichte so große Transformationen stattfinden konnten, warum soll das nicht auch in der für seine Tochter überschaubaren Zukunft passieren?

Das ist eine berechtigte Frage und sie liest sich so viel angenehmer als die Alternativen (z.B. David Wallace-Wells Entzeitgeschichte The Uninhabitable Earth. A Story of the Future, 2019). Sie produziert dennoch ein Narrativ, das nicht nur anthropozentrisch bleibt, sondern historisch eine absolute Ausnahme bildet. Doch genau das ist der Punkt, Island – und hier droht Wasser und Zeit trotz aller Ausblicke in die Welt ins Nationalistische zu kippen – ist die absolute Ausnahme und eignet sich genau deshalb um von hier aus die Welt zu erklären. Wie die Gletscher ist auch das Leben hier so sichtbar prekär, dass es seinen Schutz geradezu einfordert: „Im Urwald ist das Leben allgegenwärtig und selbstverständlich, doch hier war es nackt und schutzlos, jeder Grashalm ein kleines Wunder“ (233).

Island und die Isländer*innen werden durch das genealogische Narrativ, das Landschaft und Leute untrennbar verbindet, zu privilegierten Beobachter*innen einer Ganzheit, die nur mythisch überhöht überhaupt herstellbar ist. Man könnte das eine „anthropocene fallacy“ [6] nennen – angelehnt an John Ruskins „pathetic fallacy“, die die poetische Übereinkunft innerer und äußerer Stimmungen benennt (z.B. dass es regnet, wenn jemand sehr traurig ist). Der Trugschluss der „anthropocene fallacy“ verführt, wenn man so will, dazu, den je ‚eigenen‘ Ort zum Maßstab für alle anderen zu machen und dabei nicht nur Gefährdung völlig falsch einzuschätzen. Dazu gehört die Überschätzung dessen, was ein einzelner Mensch erreichen kann und was eine ‚unmittelbare‘ Verbindung zur ‚eigenen‘ Landschaft und den Weisen, in denen frühere Generationen damit umgegangen sind, bewirken kann.

Denn auch wenn die in Island wachsenden Grashalme Andri Snær Magnason vorkommen wie „ein kleines Wunder“, sind die meisten Pflanzen in tropischen Regenwäldern viel empfindlicher als diejenigen, die es schaffen unter den geschilderten Bedingungen auf Island zu wachsen. „Empfindlicher“ ist wiederum bereits eine anthropomorphisierende Beschreibung, die hier darauf hinweisen soll, dass die Ökosystembedingungen in beiden Fällen so spezifisch sind, dass die Effekte der globalen Erwärmung sich negativ auswirken werden.

Indem er sich an solchen Stellen ausschließlich auf seinen eigenen Eindruck verlässt, reproduziert Andri eine Haltung, die allzu viel dessen kennzeichnet, was als Nature Writing gerade eine Renaissance erlebt. Es handelt sich um die Illusion, dass man „mehr“ erfahren kann, wenn man sich „direkt“ mit nicht-menschlicher Natur auseinandersetzt. Auch wenn Nature Writing intimes (und formales) Wissen über die beschriebenen Phänomene beinahe voraussetzt, erwecken die Texte vielfach den Eindruck, dass eine kritische Befragung die erhoffte Unmittelbarkeit nur stört. So spielt es dann keine Rolle mehr, welche Bandbreite von Umweltfaktoren ein Grashalm aushalten kann, es zählt der prekäre Eindruck, den er beim Betrachter hinterlässt.

Andri Snær Magnason ist in dieser Hinsicht reflektierter als viele, denn er sitzt nicht bloß – man verzeihe mir die Polemik – unter irgendeinem Baum (die in Island ohnehin rar sind) oder an irgendeiner Küste und zieht Schlüsse aus einer achso reinen Naturerfahrung, um von dort aus den Verlust der „old ways“ zu beklagen. Aber ich frage mich dennoch, ob er denkt oder den Eindruck erwecken möchte, der erste (Schriftsteller) zu sein, der sich auf diese Weise der aktuellen Krisenlage annähert.

Dass er nicht nur die familiäre Zukunft und Vergangenheit betrachtet, sondern das Projekt einer „Mythologie für die Gegenwart“ verfolgt, schließt produktiv an die Forderung des Schriftstellers Amitav Gosh nach einer Wiederbelebung des Epos an. [7] Aber wenn solche Bezüge implizit bleiben und zugunsten von Lesbarkeit auf Reflexionstiefe und –Schärfe verzichtet wird, dann wird es schwierig, die Frage zu beantworten, warum man dieses Buch auch noch lesen sollte. Es läuft vielmehr Gefahr, als feel-good-Lektüre zu ebenjener Massenapathie beizutragen, die es beklagt. Andri Snær Magnason stellt in Wasser und Zeit viele richtige Fragen (nach der angemessenen Sprache für Veränderungen, die keine Entsprechung in der Menschheitsgeschichte haben; nach dem, was Eva Horn „Katastrophe ohne Ereignis“ nennt [8]), es endet jedoch immer wieder allzu einfach: „Manche Lösungen sind ganz einfach, wir müssen nur auf unsere Großmütter hören“ (287). Damit fällt er genau dem „derangement of scales“ anheim, das Timothy Clark anschaulich als Ausgangspunkt einer kollektiven „anthropocene disorder“ benennt. Damit bezeichnet der Literaturwissenschaftler die Unfähigkeit, einzelne Handlungen in sinnvoller Weise (kausal) mit den Transformationen globaler Systeme wie der Atmosphäre zu verbinden. [9] Das Missverhältnis der Maßstäbe drückt sich nicht nur in Slogans zum Kipplüften aus, mit dem man „das Klima rettet“, sondern auch in Phänomenen wie „Flugscham“ und eben auch in der Hoffnung auf eine Heilsbringerin: „und wie in einem alten Volksmärchen erscheint das Kind Greta, das dazu bestimmt ist, uns die Wahrheit zu sagen“ (278).

Messianische Hoffnung und wütende Töchter

Mit „Greta“ zu enden, erscheint mir gefährlich und trotzdem vollkommen angemessen. Gefährlich, weil ich damit drohe, die Alarmknöpfe von Klimawandelleugnenden und sogenannten „Realisten“ (sprich: denen, die meinen, „die Wirtschaft“ müsse immer Vorrang haben und Klimamaßnahmen seien zu teuer) zu drücken; aber auch angemessen, weil sie mir erlaubt, Andri Snær Magnasons pars pro toto zu kontern: Greta steht (als Figur) für all diejenigen jungen Frauen denen, wie Andris Tochter Hulda, die Verantwortung für die Zukunft auferlegt wird.

Der Sorgearbeit, die es bedeutet, sich um eine lebenswerte Welt zu bemühen (möglichst auch noch für alle) nehmen sich auch die gutmeinenden Männer wie Andri Snær Magnason nicht vollständig an. Sie kümmern sich ein bisschen mit, aus sich selbst heraus (er)finden und erforschen sie große Naturerzählungen, wo Greta (als pars pro toto) notwendig zitiert und wiederholt. Das ist ihre größte Stärke: sie sagt, was schon hunderte, tausende Male gesagt wurde und sie fragt, weil ihr Wissen nicht neu ist, warum wir immer noch nichts getan haben. Sie verkündet also nicht, wie eine Märchenfigur, eine wenigen zugängliche „Wahrheit“; sie hat ihre Hausaufgaben gemacht und wiederholt, was sie gelernt hat – neu ist, dass sie Gehör findet.

Es ist vielleicht unfair von mir, der Klima-Kulturwissenschaftlerin, dem Schriftsteller vorzuwerfen, welche Bücher er nicht gelesen (oder zitiert) hat, aber wenn ich mir die Frage stelle, wie viele „solche Bücher“ ich noch lese, dann stelle ich fest, ich werde kritisch mit dem, was ich weiterempfehle.

Andri Snær Magnasons Buch liest sich streckenweise hervorragend, es ist synthetisiert und unterhält, es ist eine gute Geschichte. Aber anders als Greta schöpft er seine Geschichte aus mysteriösen, intransparenten Quellen, so dass sie kraftvoll erscheint, aber flach bleibt. Gretas Energie ergibt sich daraus, dass sie immer wieder sagt: Ihr wisst das alles, warum tut Ihr nichts!? „Shame on you!“ konnte sie der UN-Versammlung auch deswegen so beeindruckend entgegen schleudern, weil sie all die Dinge, die sie immer wieder neu gehört hat, schon tausende Male gehört hat und nicht mehr hören kann. Ihr „Wir“ ist ein anderes, als das von Andri (dessen Buch ich nun zugegebenermaßen auch zum Sündenbock mache), es ist die wütende Antwort der Töchter, die die Suppe werden auslöffeln müssen.

Wie viele solcher Bücher werde ich also noch lesen müssen? Vielleicht ist die Antwort nicht wichtig, vielleicht muss sie aber auch lauten: so viele, bis sie nichts mehr zu sagen haben. Denn bei aller Kritik: Wenn Andri Snær Magnasons Wasser und Zeit eine der selbstgestellten Aufgaben erfüllt, dann, etwas festzuhalten, was es so vielleicht bald nicht mehr gibt: Gletscher und Zeit, um es zumindest nicht ganz so schlimm kommen zu lassen.

 

[1] David Wallace-Wells ist der Autor von „The Uninhabitable Earth“, der Artikel im Intelligencer https://nymag.com/intelligencer/2017/07/climate-change-earth-too-hot-for-humans.html ist 2019 in erweiterter Form auch auf Deutsch als Buch erschienen. The unbewohnbare Erde, Ludwig: 2019.

[2] Roland Barthes: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe, Suhrkamp 2010 (original: Mythologies. Paris: Edition du Seuil 1957), insbes.: „Der Mythos heute“ (S. 521-316).

[3] Eine ganze Reihe literaturwissenschaftlicher und historischer Arbeiten beschäftigen sich mit der Frage nach den Größenordnungen von Klimawandel und Anthropozän sowie ihrer (vermeintlichen) Unvereinbarkeit, so z.B. Timothy Clark: Ecocrictism on the Edge. The Anthropocene as a Threshold Concept (2015) und Deborah Coen: Climate in Motion: Science, Empire, and the Problem of Scale (2018).

[4] Chakrabarty, Dipesh. „The Climate of History: Four Theses“. Critical Inquiry 35 (2009): 197–222.

[5] Nixon, Robert. Slow Violence and the Environmentalism of the Poor. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press, 2011.

[6]Anders als der Ökonom Henrique Schneider, der mit „Anthropocene Fallacy“ meint, dass die zugrundeliegende Wissenschaft der Anthropozän-Forschung methodisch nicht haltbar sei, geht es mir hier um eine Perspektivverschiebung von Timothy Clarks „derangement of scales“. Vgl. Henrique Schneider: The Anthropocene Fallacy. Learning from Wrong Ideas, 2019 ; zum  „derangement of scales“ vgl, Timothy Clark: Scale, in: Telemorphosis. Theory in the Era of Climate Change Vol. 1, 2012.

[7] Ghosh, Amitav. The Great Derangement: Climate Change and the Unthinkable. Paperback edition. The Randy L. and Melvin R. Berlin Family Lectures. Chicago London: The University of Chicago Press, 2017.

[8] Horn, Eva. Zukunft als Katastrophe. Frankfurt am Main: Fischer, 2014.

[9] Clark, Ecocriticism on the Edge, 139-159.

 

Photo by Agustín Lautaro