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Ein kalter Kristall: Die Wiederentdeckung von Anna Kavans „Eis“

von Till Raether

(CN: Drogen, Suizid, Misshandlung, Vergewaltigung)

 

Einer der interessantesten Sätze, die ich je gelesen habe, verbirgt sich in einem anonym verfassten kurzen Text und steht vorne in der aktuellen Penguin Classics-Ausgabe von Anna Kavans Roman Ice, zuerst erschienen 1967. Der Text, der diesen Satz enthält, lautet:

Anna Kavan wurde 1901 als einziges Kind einer wohlhabenden britischen Familie geboren. Sie veröffentlichte anfangs unter ihrem angeheirateten Namen, Helen Ferguson. Während dieser Zeit wurde sie von ihrem Tennislehrer an Heroin herangeführt, um ihr Spiel zu verbessern. Sie erlitt einen Zusammenbruch nach ihrer zweiten Ehe und wurde in eine Einrichtung eingewiesen, um sowohl ihre Depression als auch ihre Drogenabhängigkeit zu behandeln. Nach dieser Erfahrung veröffentlichte sie ihre beiden bekanntesten Romane, „Asylum Piece“ und „Ice“, unter ‚Anna Kavan‘, dem Namen einer Figur aus einem früheren Roman. 1968 starb sie in ihrem Londoner Haus an Herzversagen.  

An dieser Vorstellung der Autorin fasziniert mich nicht so sehr die Kombination der melodramatischen Schicksals-Marker Reichtum, Ehekrisen, Drogen, Psychiatrie, sondern der Scharniersatz in der Mitte, der im Original lautet: “she was introduced to heroin by her tennis coach to improve her game.” Könnte man so einen Satz überhaupt besser erfinden? Er enthält in dreizehn Wörtern eine Gesellschaftsschicht, eine Ära, ein Psychogramm, ein Setting und einen Plot. Zugleich wirkt der Satz als Teil des Paratextes von Ice wie eine Art Menetekel vor Beginn des Romans. Auch im Buch versuchen ein oder zwei Männer, mit absurden und völlig ungeeigneten Mitteln, relativ unwichtige Ziele zu erreichen, und zerstören dabei sich selbst und andere.

Vor einem halben Jahr schrieb Chris Power im Guardian, dass Anna Kavans Leben ihr Werk immer zu überschatten drohe. Vielleicht, weil sie ihre Briefe und Tagebücher vor ihrem Tod fast vollständig vernichtete und wenig Spuren hinterließ. Weshalb ihre Biograph*innen sich unweigerlich auf die dramatischen Ehen, die Psychiatrie-Aufenthalte und vor allem die Drogen konzentrieren. „Man müsste lange suchen“, schreibt Power in seinem Artikel, den ich hier in meinem Artikel zitiere, „um einen Artikel über [Anna Kavan] zu finden, der nicht den Polizeibericht erwähnt, der auf die Entdeckung ihres Leichnams mit einer Spritze im Arm im Dezember 1968 folgte: in ihrer Wohnung in Notting Hill sei genug Heroin gefunden worden, ‚um die ganze Straße auszulöschen‘.“

Warum Ice ein so wichtiger, vielzitierter und gefeierter Text der britischendiaphanes Nachkriegsmoderne ist, kann man jedoch ganz ohne Verweise auf ihre Biographie verstehen, und es lässt sich jetzt endlich zum ersten Mal auch auf Deutsch nachvollziehen. Der Zürcher Diaphanes Verlag hat in diesem Frühjahr eine Übersetzung veröffentlicht. Und Ice wirkt erschreckend zeitgemäß. Die Welt wird von populistischen Regierungen beherrscht, die halboffizielle Kriege gegen eine isolierte, eingeschlossene Zivilbevölkerung führen, während eine Eisschicht sich unaufhaltsam auf der Erdoberfläche ausbreitet und „monstrous epidemics“, „ungeheure Seuchen“, wüten (ich zitiere im Folgenden das Original und die Übersetzung von Silvia Morawetz und Werner Schmitz). Ein namenloser Erzähler macht rücksichtslos, aber romantisch verbrämt Jagd auf eine unerreichbare Frau, der er bei jeder Begegnung Gewalt antut, und die er die ganze Zeit nur „the girl“ nennt, „das Mädchen“. Wir hätten hier also: Trump und andere ähnliche Staatsoberhäupter, Klimakatastrophe, Pandemie, Lockdown und patriarchale Gewalt, kurz: das Jahr 1967 streckt seine kalte Hand nach 2020 aus.

Aber es dauert nur wenige Seiten und man hat sich von diesen anachronistischen und lästigen Assoziationen befreit. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens ist Ice ein Text, der sich mit allem, was er hat, dagegen wehrt, gelesen zu werden: so dicht, so kalt, so trostlos. Zweitens lässt Anna Kavan keine Gelegenheit aus, um jede allegorische Leseweise durch einen Überfluss von und zugleich ein Desinteresse an Plot, Figuren und Psychologie zu zerstören: Das Eis ist Heroin? Das fliehende „Mädchen“ steht für einen unerreichbaren Seelenfrieden? Die Lemuren, deren Gesang der Erzähler eigentlich erforschen will, sind die blaue Blume des apokalyptischen Surrealismus? Vergiss es, denn hier sind zehn neue Figuren, hier werden Pistolen gezogen, verstiegene Spionageplots und wundersame Erfindungen innerhalb eines Absatzes eingeführt und wieder verworfen. Hier sind kurz nacheinander drei, vier, fünf neue Schauplätze, und falls sie dich an die vorigen erinnern: Egal, schau, jetzt sind wir schon wieder auf einem anderen Schiff.

Die Grundkonstellation ist die unverblümt gewalttätige Besessenheit des Ich-Erzählers mit der jungen Frau („the girl“), mit der er früher eine Beziehung hatte; Samuel Hamen nennt ihn in Die Zeit einen „Endzeitstalker“. Die Frau lebt und flieht mit ihrem Ehemann, der im Buch nur „the warden“ heißt, der Wächter, vor dem Eis und den Kriegen. Der Erzähler beschreibt diese junge Frau durchgehend als kindliche Figur oder ausdrücklich als Kind, was seine gewalttätige und sexualisierte Besessenheit umso verstörender macht:

„… the girl’s naked body, slight as a child’s, ivory white against the dead white of the snow, her hair bright as spun glas“ („… de[r] nackt[e] Körper des Mädchens, schmal wie der eines Kindes, elfenbeinweiß vor dem toten Schneeweiß, ihr Haar hell wie gesponnenes Glas“).

Die Dynamik ist immer dieselbe: die junge Frau entzieht sich dem Ich-Erzähler und flieht zum „Wärter“, der sie daraufhin misshandelt und einmal vergewaltigt.  Das erlebt der Ich-Erzähler visionenhaft mit, worauf er sie noch besessener verfolgt, um sie dann, wenn er sie erreicht, seinerseits zu misshandeln. Nur einmal gibt Kavan in der Stimme des Erzählers einen Hinweis auf die Psychologie der jungen Frau:

„She had been conditioned into obedience since early childhood, her independence destroyed by systematic suppression.“ („Seit frühester Kindheit hatte man ihr Gehorsam eingetrichtert, ihre Eigenständigkeit durch systematische Unterdrückung untergraben.“)

Dies ist allerdings aus Sicht des Erzählers eine rein klinische Feststellung, sie führt zu keinerlei Empathie. Eine Grundhaltung der seltsam ästhetisierten Gewalt, die das Buch hat, zugleich sein merkwürdiges Erzähltempo und seine Übersymbolisierung spiegelt folgende Passage:

We travelled on, changing from ship to ship. She could not stand the intense cold, she shivered continually, broke in pieces like venetian glass. The disintegration could be observed. She grew thinner and paler, more transparent, ghostlike. It was interesting to watch. She did not move more than was absolutely essential. Her limbs seemed too brittle for use. The seasons ceased to exist, replaced by perpetual cold. Ice-walls loomed and thundered, smooth, shining, unearthly, a glacial nightmare; the light of day lost in eerie, iceberg-glittering mirage-light. With one arm I warmed and supported her: the other arm was the executioner’s. (127)

Wir reisten weiter, wechselten von einem Schiff aufs nächste. Sie konnte die bittere Kälte nicht ertragen, zitterte unablässig, zersplitterte wie Muranoglas. Die Auflösung war augenfällig. Sie wurde dünner und blasser, durchsichtiger, geisterhaft. Es war interessant, das zu beobachten. Sie bewegte sich nicht mehr als unbedingt nötig. Ihre Glieder schienen zu spröde, nicht zu gebrauchen. Es gab keine Jahreszeiten mehr, nur noch ewige Kälte. Eismauern türmten sich donnernd übereinander, glatt, glänzend, unirdisch, ein frostklirrender Alptraum; das Tageslicht versank in unheimlichem, eisbergschimmerndem Schimärenlicht. Mit einem Arm wärmte und stützte ich sie: der andere Arm war der des Henkers.

 

Nun könnte man sagen, dass Kavan mit dem letzten Satz das patriarchale Selbstverständnis in einem Epigramm zusammengefasst hat. Aber die Erzählhaltung des Buches bleibt verrätselt. Zwar hat der Erzähler keinerlei Mitgefühl mit dem „Mädchen“, während sie in seiner Gewalt ist, aber wenn sie in anderen Situationen Bedrohungen ausgesetzt ist, kommt es zu einer fast empathischen Verschmelzung. Plötzlich kann der Ich-Erzähler dann von einem Absatz zum anderen die Perspektive des „Mädchens“ einnehmen. Zugleich verschmilzt er immer wieder mit dem Wärter, den er fürchtet und bewundert: „I felt closer to him than ever before; we were like brothers, like identical twin brothers“. („Allein mit meinem Gefährten, fühlte ich mich ihm näher als je zuvor; wir waren wie Brüder, wie eineiige Zwillinge.“) Bei fast jeder ihrer Begegnungen lösen sich die Grenzen zwischen ihm und dem anderen Mann auf, und auch die junge Frau kann irgendwann kaum noch zwischen den beiden Männern unterscheiden: „You’re both the same, selfish, treacherous, cruel.“ („Ihr seid alle gleich, selbstsüchtig, hinterhältig, grausam.“)

Diese Austauschbarkeit der männlichen Protagonisten spiegelt sich auch in der literaturgeschichtlichen Vertrautheit der Settings und des übrigen Personals. Franz Kafkas mysteriöse Schlossherren, seine unbegreiflichen Aufträge und Gerichtsprozesse treffen auf das klassische englische Spionageroman-Inventar etwa von James Buchan (The Thirty-Nine Steps, 1915): seine Geheimbünde mit esoterischen Erkennungszeichen und verschlüsselten Botschaften, vermischt mit sehr viel ins Düstere gewendeter britischer Seefahrerromantik, dem Schiff als Fluchtmittel und Unglücksort zugleich. Der Erzähler agiert in diesem Überschuss an Genre-Versatzstücken wie ein Comic-Held der dreißiger Jahre, eine Art Tim ohne Struppi on steroids. In einem einzigen Absatz beendet er um ein Haar den Krieg, weil er den Bau und das Programm eines Propagandasenders übernimmt:

 

To pass the time and for want of something better to do, I organized the work on the transmitter. (…) Soon we were ready to broadcast. I recorded events on both sides with equal respect for truth, put out programmes on world peace, urged an immediate ceasefire. The minister wrote, congratulating me on my work.

Zum Zeitvertreib und weil ich nichts Besseres zu tun hatte, organisierte ich die Arbeit an dem Sender. (…) Bald waren wir bereit, auf Sendung zu gehen. Ich berichtete von Ereignissen auf beiden Seiten mit gleichem Respekt vor der Wahrheit, sendete Beiträge zum Weltfrieden, drängte auf einen sofortigen Waffenstillstand. Der Minister schrieb und gratulierte mir zu meiner Arbeit.

 

Oder, meine neue Lieblingsstelle in der Weltliteratur, wenn es darum geht, dem Plot den Mittelfinger zu zeigen:

 

For days we had been attacking a strongly defended building said to contain secret papers. [Our leader] would not ask for reinforcements, determined to get credit for taking the place unaided. By a simple trick, I enabled him to capture the building and send the documents to headquarters.

Tagelang hatten wir ein erbittert verteidigtes Gebäude attackiert, in dem angeblich Geheimdokumente lagerten. [Unser Anführer] wollte keine Verstärkung anfordern, weil er die Ehre, das Haus ohne Unterstützung einzunehmen, für sich allein beanspruchte. Mit einem simplen Trick verhalf ich ihm dazu, sein Ziel zu erreichen und die Dokumente ins Hauptquartier zu schicken, wofür er großes Lob einstrich.

 

„By a simple trick“: natürlich wird dieser nicht erzählt oder erklärt, denn mehr müssen wir nicht wissen, es ist uninteressant. Klassische plot devices versteckt Kavan in einer Black-Box. Den Erzähler macht sie im Laufe seiner Jagd auf das „Mädchen“ zum Elitesoldaten, Spion, Ingenieur, Erfinder, Forscher und Entdecker, und zwar: by a simple trick. Es ist, als würde Anna Kavan das Gestrüpp und die morschen Äste aus dem Unterholz männlich besetzter narrativer Traditionen zerren und in einen großen Häcksler werfen, vor dessen Auswurföffnung wir beim Lesen stehen: Es tut weh, man sieht nur Bruchstücke vorbeifliegen, und der Sound betäubt die Sinne.

Anfangs habe ich gesagt, der Roman würde sich dagegen wehren, gelesen zu werden. Tatsächlich ist die Lektüreerfahrung weniger so, als würde man einer Geschichte folgen, und mehr, als starrte man in einen Kristall. Der Wechsel von möglicher Realität zu erklärtem Traum ist übergangslos, hart wie eine Kristallkante, ebenso der Perspektivwechsel zwischen den Figuren. Auch die Abschnitte der Handlung wiederholen sich in ihrer Struktur, man hat während der Lektüre das Gefühl, darin gefangen zu sein wie im Inneren eines Kaleidoskops. Insofern ist „Ice“ im schmerzhaften Sinne reiner Text. Es gibt keine Anschlussflächen zu einer Außenwelt der Lesenden, wie es Identifikationsmöglichkeiten mit Figuren, metaphysische Trostecken oder ästhetisierte Katastrophenbeschreibungen vielleicht sein könnten. Das Buch liegt plötzlich hier im Jahr 2020 wie ein Solitär, der ein kaltes, grausames Licht auf die Geschichten wirft, die Männer sich und anderen erzählen, und darauf, dass man diesen Geschichten nicht entkommen kann.

 

Anna Kavan: “Eis”; aus dem Englischen von Silvia Morawetz und Werner Schmitz; Diaphanes Forward, Zürich 2020; 184 Seiten; 18 €, als E-Book 14,99 €

 

 

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Theater am Limit – Matthias Lilienthal leitete fünf turbulente Jahre die Münchner Kammerspiele

von Anne Fritsch

 

Fünf Jahre war Lilienthal Intendant der Münchner Kammerspiele. Fünf Jahre, die vor allem eines waren: turbulent. Fünf Jahre, in denen er es dieser Stadt nicht leicht gemacht hat – und die Stadt es ihm ziemlich schwer. In denen er auf seinen Pressekonferenzen Spezialitäten aus dem Libanon servierte und bei diversen Interviews grünen Tee einschenkte. Fünf Jahre, in denen er diese Stadt und ihr Theater verändert hat. In denen er sich politisch engagiert hat und dafür angefeindet wurde. Fünf Jahre, in denen er sich seinen Platz hier erkämpfte. Und nach denen er dieser Stadt fehlen wird.

Man hört, in seinen Münchner Anfangszeiten wurde Matthias Lilienthal mal für den neuen Hausmeister gehalten, nicht für den zukünftigen Intendanten der Kammerspiele. Sein Style war einfach so gar nicht Maximilianstraße, so gar nicht Theaterchef. Schlabbershirt, Jeans und Kapuzenjacke wurden zu seinen vieldiskutierten Markenzeichen. In einem Vorab-Portrait, das 2015 im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschien, wurde er beschrieben als „ein großer, schwerer Mann im schlabberigen sonnengelben T-Shirt, das nicht den Verdacht erweckt, je in Mode zu kommen“. Lilienthal war rein äußerlich ein Exot, ein Berliner in München. Einer, der konsequent alle duzt, denen er über den Weg läuft. Einer, der keinen Wert auf Statussymbole legt.  Aber auch ein sehr angenehmer Gesprächspartner, der auch über schwierige Themen offen spricht (und von denen gab es einige in den letzten Jahren).

Seinen Abschied feierte er im Olympiastadion, seinem Lieblingsort in München, weil der so offen und demokratisch sei. Eigentlich hatte er zu seinem Finale nochmal ganz großes Kino geplant: „Olympia 2666“, eine 24-Stunden-Theater-Tour-de-Force durch die Stadt, frei nach Roberto Bolaños Roman „2666“. Doch dann kam Corona. Und Lilienthals Finale wurde abrupt ausgebremst. Nach dem Lockdown habe ich ihn im Olympiastadion getroffen, das eine der Stationen von „Olympia 2666“ gewesen wäre. Wie immer kam er mit dem Radl. Zum gelben T-Shirt trug er eine farblich passende Kurier-Tasche und einen ebenso abgestimmten Mund-Nasen-Schutz. Zufall? Oder doch ein Hauch von Style-Bewusstsein?

Er war nicht so niedergeschlagen wie erwartet. Auf die Corona-Krise reagierte er pragmatisch: „Wie kriege ich den Laden und mich über die nächsten 24 Stunden? Solange im Theater alle gesund bleiben, ist alles gut.“ Die noch geplanten Produktionen? „Luxusprobleme.“ Kurzerhand eröffnete er die „Kammer 4“, die virtuellen Kammerspiele. Sie streamten und spielten Live-Cam-Performances. Und auf einmal wurde deutlich, wie flexibel das Kammerspiel-Ensemble geworden war. Die Schauspielerin Gro Swantje Kohlhof improvisierte mal eben sämtliche Harry-Potter-Romane aus ihrem Jugendzimmer in Hamburg, in das sie sich während des Lockdowns zurückgezogen hatte. Jeden Mittwoch versammelte sich eine wachsende Fangemeinde vor dem Bildschirm zu diesem ganz speziellen und unglaublich charmanten Zoom-Meeting, das in einer Zeit größter Vereinzelung Routine und einen Live-Moment bedeutete. Von Folge zu Folge gesellten sich auch Kolleg*innen dazu, Kohlhof spielte sich durch ihr Elternhaus, durch ein Hotelzimmer und am Ende durch die verwaisten Kammerspiele. Eine tröstliche Begleitung zurück zu einer allmählich wieder erwachenden Normalität.

Irgendwie überrascht es nicht, dass Lilienthal souverän auf die Krise reagierte. Sie war nicht die erste seiner Intendanz. Als er 2015 nach München kam, mitten in der Flüchtlingskrise, war klar, dass er sich auch politisch engagierte: Er kämpfte für das Bellevue di Monaco, ein Wohn- und Kulturzentrum für Geflüchtete mitten in der Stadt. Mit dem Bayerischen Flüchtlingsrat veranstaltete er eine „Internationale Schlepper- und Schleusertagung“, die eine Debatte anregen sollte, zudem aber einen Shitstorm aus der rechten Szene auslöste. Vor dem Theater demonstrierte die AfD, Lilienthal wurde in einem Brief an seine Privatadresse bedroht. „Ich habe das zur Seite gelegt, ignoriert und nachts meine Wohnungstüre abgeschlossen“, erzählte er damals. „Ich will meinen Lebensstil dadurch nicht verändert sehen.“ Passiert ist zum Glück nichts.

Die nächste Krise allerdings traf Lilienthal empfindlicher. Es ging um das Theater, das er machte. Das sehr Berlin war und weniger München. Lilienthal hatte unterschätzt, wie viel Konflikt vermeintliche Kleinigkeiten in dieser Stadt auslösen können. Schon dass er die Spielstätten Schauspielhaus, Werkraum und Spielhalle umbenannte in „Kammer 1, 2 und 3“ (nach dem Vorbild HAU in Berlin, das er lange geleitet hatte) empfanden viele als Affront. Dass er zudem die Konstante „Schauspielhaus gleich große Dramen und Klassiker“ auflöste und stattdessen freie Gruppen wie Rimini Protokoll und She She Pop in die heiligen Hallen holte, war für viele schwer zu verkraften. Lilienthals Theater ist immer auch ein postdramatisches. Eher Reflexions- und Begegnungsort als Kunsttempel. Sein Verständnis von Theater ist das Gegenteil von elitär, bei ihm gibt es nicht das eine Projekt, mit dem das Theater in die Stadt geht. Er will vielmehr die ganze Stadt im Theater. Oder eben: die Zuschauer aus dem Theater in die Stadt bringen wie mit den Shabby Shabby Apartments, mit denen er seine Intendanz startete.

Überall in der Stadt bauten die Kammerspiele provisorische Behausungen auf, Baumhäuser, Matratzenburgen, Wolken- und Kuckucksheime. Mitten in der Stadt stand da plötzlich ein Streugutsilo mit Rapunzelzöpfen an der Corneliusbrücke, ein gestrandetes Schiff auf dem Gärtnerplatz, eine Behausung aus Altkleidern vis-a-vis des Hotels Vierjahreszeiten. Für eine Nacht (und wenig Geld) konnte man sich einmieten in eines der Häuschen. Ich fand mich in einem Provisorium aus Balken und transparenter Folie im Rosengarten an der Isar wieder, unter dicken Daunendecken wie in einem Hotel, nur eben mitten in einem Park. So eine Nacht draußen in der Stadt an einem Ort, wo man eigentlich nicht schlafen darf, ist schon ein Abenteuer. Eines, das das Bewusstsein für die Umgebung schärft. Am Morgen danach gab es Croissants und Kaffee mit Lilienthal in der Theaterkantine. Es war ein schöner Start, ein verbindlicher. Einer mit Bezug zu dieser Stadt, in der die Mieten so hoch sind wie nirgendwo im Land.

Im Theater inszenierte Nicolas Stemann zur Eröffnung einen postdramatischen „Kaufmann von Venedig“ nach Shakespeare, es folgte ein Premierenreigen von Rimini Protokoll, Rabih Mroué, Peaches, Giescheand, Simon Stone, Gob Squad, She She Pop, Stefan Pucher, Fux, David Marton und anderen. Eine teils spannende, teils weniger spannende Mischung aus Projekten, Musiktheater, Schauspiel, freien Gruppen, großen und kleinen Formaten. Eine Mischung, die viele in ihrer Fülle und Unübersichtlichkeit überforderte. Auch ein weiterer Unterschied zum HAU in Berlin wurde Lilienthal bewusst: „Das HAU bedeutete einfach, in der Schmuddelecke vor sich hinfummeln – wenn was super war, war gut, wenn nicht, war‘s auch wurscht. Hier in München habe ich manchmal das Gefühl, bei jeder Premiere an den Kammerspielen steht der Fortbestand des Abendlandes auf dem Spiel. Wenn nicht gar des Morgenlandes“, sagte er 2017 in einem Gespräch.

Seinem Ensemble traute er viel zu und verlangte er viel ab. Er machte Theater am Limit. Neben den regulären Premieren gab es ungezählte kleine Veranstaltungen, Lesungen, Konzerte, Partys, ein Welcome Café, internationale Gastspiele. Der Anspruch war immer, möglichst direkt auf die Welt da draußen zu reagieren. Als im Sommer 2016 ein Amokläufer im Münchner Norden neun Menschen und sich selbst tötete und die ganze Stadt in Panik versetzte, warf Yael Ronen spontan ein geplantes Projekt über den Haufen und setzte sich in „Point of no return“ mit den Reaktionen auf diese Tat auseinander. Manchmal kam bei so viel Betriebsamkeit die Ruhe und Konzentration für die einzelne Produktion zu kurz. Nicht jede*r Schauspieler*in wollte oder konnte mit dieser Art, Theater zu machen, umgehen.

Die beliebten Ensemblemitglieder Brigitte Hobmeier, Katja Bürkle und Anna Drexler kündigten. Damit war das Maß für viele voll. Die Süddeutsche Zeitung widmete dem Theater im November 2016 eine komplette Feuilleton-Titelseite – unter der Überschrift „Jammerspiele“. Obwohl Lilienthal damals erst am Beginn seiner zweiten Spielzeit stand; obwohl es auch bei seinen Vorgängern Frank Baumbauer und Johan Simons am Anfang dauerte, bis ihre Konzepte vom Publikum wertgeschätzt wurden; obwohl diese zweite Spielzeit gerade sehr vielversprechend begonnen hatte – trotz all dem feuerte die Zeitung mit einer Wucht auf Lilienthal, die ihn letztlich zu Fall brachte. „Hätte man hellhöriger, misstrauischer sein müssen, bevor man einem freien Radikalen wie ihm die Kammerspiele anvertraut?“, fragte Christine Dössel, als wäre bereits alles gelaufen. Lilienthals Ansatz nannte sie „Pipifax-Theater“ und „eine Art Gastspielbetrieb mit angeschlossener Partyzone“. Die auch zu diesem Zeitpunkt schon vorhandenen guten Produktionen tat die Kritikerin in einem Halbsatz ab: „Ja, es gab ein paar Erfolge – Nicolas Stemanns „Wut“-Inszenierung etwa oder zuletzt „Der Fall Meursault“ und Yael Ronens „Point Of No Return“ –, aber das meiste ist Mittelmaß, harmlos, oberflächlich, simpel.“

Aber: Gab es in Lilienthals Kammerspielen wirklich mehr Flops als unter seinen Vorgängern? Als an anderen Häusern? Hatte sich das Verhältnis von gelungenen und weniger gelungenen Arbeiten an den Kammerspielen wirklich verändert hin zum Schlechten? Diese Fragen stellte Dössel sich und ihren Leser*innen nicht. Natürlich: Es war nicht alles gut unter Lilienthal. Einiges war sogar unerträglich langweilig. Aber es gab immer wieder diese Abende, die verzaubert haben. Und es gab sie unter Lilienthal nicht seltener als zuvor.

Dennoch: Das Misstrauen war gesät. Lilienthal zeigte Größe in der Krise, ging auf die Kritik ein und lud zur öffentlichen Diskussion zur Frage „Welches Theater braucht München?“. Dabei: Christine Dössel (Süddeutsche Zeitung), Robert Braunmüller (Abendzeitung), Kammerspiel-Schauspielerin Annette Paulmann und Matthias Lilienthal selbst. Ist die Krise herbeigeschrieben? War sie schon vorher da? Oder gibt es sie gar nicht? Das waren die Fragen, um die dieser Abend kreiste. Eines wurde mehr als alles andere klar: Das Theater, das allen gefällt, gibt es nicht und wird es nie geben. Zu unterschiedlich sind die Positionen und Vorstellungen. Auf dem Podium wie auch im Zuschauerraum. Die einen fühlten sich unterfordert, die anderen wollten mehr Kontroverse. Die einen kämpften für das Theater, wie es war. Die anderen für ein Theater, wie es werden kann.

Natürlich: Lilienthal konfrontierte die Stadt und das Theater sehr schnell mit radikalen strukturellen Änderungen. Vor allem tat er das in einer Zeit, die ungeduldiger geworden war. Seinen Vorgängern wurde mehr Zeit gelassen, anzukommen: 2001 übernahm Frank Baumbauer das Theater von Dieter Dorn, der es mit großer Konstanz seit 1983 geleitet hatte. Baumbauer tauschte das Ensemble komplett aus, eröffnete das Jugendstilhaus mit einem „Othello“ von Luk Perceval. Der Kontrast zu Dorns Shakespeare-Inszenierungen hätte nicht größer sein können, der Skandal schwerlich: Das Publikum ergriff in Scharen und türenschlagend die Flucht. Baumbauer war der Unhold, als er kam. Und der Münchner Theaterheld, als er acht Jahre später ging. Auf ihn folgte der Niederländer Johan Simons. Auch er hatte es nicht leicht. Abos wurden gekündigt, weil auf einmal „nur noch fette Menschen“ auf der Bühne standen, die „kein Deutsch sprechen“. Auch Simons: gefeierter Intendant, als er ging. Lilienthal erreichte in seiner letzten Spielzeit eine Auslastung von 85%, beim Berliner Theatertreffen war er Stammgast, seine Kammerspiele wurden von der Zeitschrift Theater heute zum „Theater des Jahres 2019“ gewählt. Aber: Da war es bereits zu spät.

Denn schon 2018 verkündete die CSU im Stadtrat, sie werde einer Verlängerung von Lilienthals Vertrag nicht zustimmen. Natürlich war das letzte Wort längst nicht gesprochen. Aber Lilienthal wollte dieses nicht abwarten. Er beschloss, nach seinen fünf Jahren zu gehen, vorher aber nochmal richtig Theater zu machen. Und das tat er auch. Die kleineren Formate gab er nicht auf, platzierte sie aber geschickter. Der Japaner Toshiki Okada bescherte Lilienthals Kammerspielen einige schräge, komische, traurige und skurrile Abende wie „No Sex“ oder „The Vaccum Cleaner“. Das Kollektiv Rimini Protokoll brachte einen Thomas-Melle-Roboter auf die Bühne und erforschte die Grenzbereiche zwischen Mensch und Künstlicher Intelligenz („Unheimliches Tal/Uncanny Valley“). Und dann war da noch Christopher Rüping, den Lilienthal als Hausregisseur verpflichtete. Nach einer eher mauen Inszenierung von Dostojewskis „Der Spieler“ legte Rüping richtig los, nahm sich „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ vor, Shakespeares „Hamlet“ und Brechts „Trommeln in der Nacht“. Und dann, als die Kritik an den Kammerspielen am lautesten war, machte er etwas, von dem Lilienthal sagte, dass man damit „richtig auf die Fresse fallen“ könne: ein zehnstündiges Antiken-Projekt.

Am Anfang gab es nur einen Titel: „Dionysos Stadt“. „Dionysos“: Gott des Weines, der Ekstase und des Theaters. Und „Stadt“ – für ein Theater mitten in der Stadt. Und genau das wurde es: ein kollektiver Rausch. Rüping entwickelte mit seinem Ensemble eine umfassende Menschheitsgeschichte ausgehend von Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte, über den Trojanischen Krieg bis zur Einführung einer Gerichtsbarkeit in der „Orestie“. Es war ein 10-Stunden-Spektakel, eine Theaterorgie. Ein einziges Mal zeigten die Kammerspiele diesen Marathon als Nachtvorstellung. (Das war das zweite Mal, dass ich bis zum Frühstück blieb.) So intensiv war Theater selten. Die einen schliefen während der Pausen im Foyer, die anderen tanzten im Club-Bereich. „Dionysos Stadt“ war eines dieser Theatererlebnisse, die bleiben. Die man noch erinnert, wenn alles andere längst verblasst ist.

Ein Projekt, das ein Theater an seine Grenzen bringt. Das nur am Wochenende gezeigt werden kann und alle vorhandene Energie aufsaugt. Lilienthal hat das System Stadttheater herausgefordert – und teilweise auch überfordert. Seine Kammerspiele waren bunt, divers und noch internationaler als zuvor. Es wurden englische Übertitel gefahren und wenn nötig auch mal deutsche. Denn auf der Bühne wurde nicht mehr nur deutsch gesprochen, sondern regelmäßig auch englisch oder arabisch. Es war die neue Normalität, dass Schauspieler*innen aus verschiedenen Ländern und Kulturen kamen, dass Inszenierungen mehrsprachig waren.

Nun verabschiedete Lilienthal sich von dieser Stadt, in der er fünf emotionale Jahre verlebt hat. Toshiki Okada inszenierte mit dem Ensemble eine Abschlusszeremonie im Olympiastadion: „Opening Ceremony“. In einer überwältigenden Kulisse mit unglaublich viel Platz, in der das Einhalten von Mindestabständen leicht fällt. Kein Weinen um das Verpasste, sondern ein Neuanfang, ein Ausblick. Keine Resignation, sondern ein Augenzwinkern. Kein Leugnen der Realität, sondern ein Das-Beste-daraus-Machen. Trotz aller Corona-Vereinzelung sind alle wieder zusammen. Und das fühlt sich hoffnungsvoll an. Lilienthal selbst hält sich im Hintergrund, lädt anschließend ein zu japanischem Streetfood. Einem herzlichen Applaus zwischen Udon Noodles und Summerrolls kann er trotzdem nicht entgehen. Er wird zurück nach Berlin gehen, die Kammerspiele seiner Nachfolgerin Barbara Mundel überlassen. Wie die mit seinem Erbe umgeht, wird sich zeigen. Lilienthal jedenfalls freut sich jetzt wieder auf Berlin. Seine dreijährige Tochter fängt schon an, bayrisch zu reden, ihr Lieblingsessen sind „Reiberdatschi“ – allein deswegen sei es Zeit, nach Berlin zurückzukehren, sagt er. Und grinst.

 

 

Photo by Manos Gkikas

‘Lolita’ wiedergelesen – Das Empathie-Bootcamp

von Susanne Romanowski

[Content Note: Kindesmissbrauch]

 

Wer über Vladimir Nabokovs Roman Lolita (1955) schreibt, kann sich eine Diskussion über den ethischen Status des Dargestellten sparen. Bei kaum einem anderen Werk ist das Thema so unumstritten abscheulich. In dieser Einschätzung wird man etwa auch von Google bestätigt: Wenn ich „nabokov lolita“ in die Suchzeile eintippe, erscheint als erstes die Anzeige: „WARNUNG! Kindesmissbrauch ist illegal.“

Dieser Roman, dessen Inhalt Anlass für solche Warnungen gibt, war einmal eines meiner Lieblingsbücher. Das war, bevor ich mich als Feministin bezeichnete und bevor Bewegungen wie #metoo den Zusammenhang von Macht, Sex und Einvernehmen zum Thema machten. Jahrelang zog meine Ausgabe mit mir um, bis ich mich letztens beim erneuten Sortieren meines Bücherregals fragte, wie es sich anfühlen würde Lolita jetzt noch einmal zu lesen. Einerseits möchte ich kein Buch glorifizieren, das den Missbrauch von Mädchen für ästhetische und dramatische Zwecke instrumentalisiert. Andererseits hoffe ich, dass ein Wiederlesen mir etwas über meine persönlichen, aber auch über gesellschaftliche Vorstellungen von sexualisierter Gewalt, Scham und Schuld beibringen kann. Dass ich darin Dinge sehe, die ich vor einigen Jahren noch nicht gesehen hätte. Würde ich verstehen, was mich damals an Lolita angezogen hat und was ich vielleicht überlesen wollte?

Ich entdeckte Lolita mit 15 oder 16 in der Stadtbücherei. Alles, was ich über den Roman wusste, war: Es ist ein berühmtes, erwachsenes Buch. Schon deshalb würde es in meinem Regal anerkennende Blicke auf sich ziehen. Ein zweites Mal begegnete ich dem Roman an der Uni, in einem Seminar über Nabokov. Ich war stolz, die zentrale Lektüre schon zu kennen. Ich lernte, dass der russisch-amerikanische Autor ein ruhiges Leben geführt und mit seiner Frau Véra jeden Sommer Schmetterlinge gesammelt hatte. Nicht, dass das nicht interessant wäre. Aber um Lolitas Perspektive, um den Umgang mit Vergewaltigungsszenen und um eine kritische Rezeption ging es eher nicht. 

Würde ich erst heute von Lolita erfahren, ich würde das Buch wahrscheinlich nicht lesen. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des europäischen Literaturwissenschaftlers Humbert Humbert. Er zieht in die USA, mietet ein Zimmer in einer Kleinstadt und „verliebt“ sich in Dolores “Lolita” Haze, die Tochter der Vermieterin. „Verlieben“ lässt sich hier nur in Anführungsstrichen schreiben, denn Humbert ist Ende dreißig, Lolita ist zwölf. Sie ist in Humberts Augen eine „Nymphe“, eine Neun- bis Vierzehnjährige, deren Charakter nicht menschlich, sondern dämonisch sei und die eine unwiderstehliche Anziehung auf Humbert ausübe. Als Lolitas Mutter bei einem Unfall stirbt, entführt Humbert das Mädchen, reist mit ihm durch die USA und missbraucht es über den gesamten Zeitraum hinweg. Nach zwei Jahren gelingt Lolita mithilfe des Drehbuchautors Clare Quilty die Flucht. Am Ende erschießt Humbert Lolitas „Retter“. Anführungszeichen auch hier, denn der erwachsene Quilty hat die damals 14-jährige Lolita ebenfalls missbraucht. Der Romantext umfasst Humberts Erinnerungen, die er nach seiner Verhaftung niederschreibt. 

Den vielleicht wichtigsten Grund, warum Lolita für mich und viele andere anziehend war, nennt Humbert selbst: „You can always count on a murderer for a fancy prose style.“ Wie er Lolitas Namen beschreibt, ist ein gutes Beispiel dafür: „Lo-lee-ta: the tip of the tongue taking a trip of three steps down the palate to tap, at three, on the teeth. Lo. Lee. Ta.“ Sprachspielereien wie „my dolorous hazy darling“ durchziehen den Roman. Manche von ihnen zu verstehen gab mir das Gefühl, zu einem exklusiven Club zu gehören und es gibt wenig, was meinem 19-jährigen Ich mehr schmeichelte. Humberts exzessiver Gebrauch französischer Sätze und von mir unverständlichen Worten wie „plumbaceous“ und „gouache“ trugen zu diesem elitären Eindruck bei. Dass ich mich durch das englischsprachige Original kämpfte, war für mich eine Frage der Ehre. 

Ich war angewidert, als ich die Beschreibung der ersten Vergewaltigung las, in deren Vorfeld Humbert sich auch noch anmaßt, sie als Lolitas Verführung darzustellen: „There would have been a fire opal dissolving within a ripple-ringed pool, a last throb, a last dab of color, stinging red, smarting pink, a sigh, a wincing child.” Gleichzeitig dachte ich: Wie kann es sein, dass eine so poetische, assoziative, hochliterarische Sprache (wie auch immer man sie letztlich bewertet) etwas so Furchtbares beschreibt? Wie kann es sein, dass ich manche Stellen mehrfach lese, weil ich sie kreativ, lustig, treffend finde und dass der gleiche Sprecher diesen Stil zur Beschreibung schlimmster Verbrechen benutzt?

Beim Wiederlesen fallen mir nun zwei Dinge auf: Erstens setze ich die Unzugänglichkeit eines Textes nicht mehr mit seiner Qualität gleich. Was mir zuvor als ultimativer Marker von Intellekt erschien, kommt mir heute prätentiös vor. Ich verdrehe die Augen, wenn Humbert permanent auf sein Dasein als europäischer Gelehrter pocht, auf Lolitas Comics herabsieht (zur Erinnerung: Sie ist ein Kind) und ihr stattdessen Bücher über zeitgenössischen Tanz vorlegt.

Diese vermeintlich banale Beobachtung führt zu einem noch wichtigeren Punkt: Früher stand ich in WG-Küchen, empfahl irgendjemandem Lolita und entgegnete auf das Stirnrunzeln meines Gegenübers: „Ja, der Inhalt, aber die Sprache!“ Heute denke ich: „Ja, der Inhalt, wegen der Sprache.“ Humberts Auftreten als attraktiver, gut gekleideter Intellektueller beeinflusst maßgeblich, wie ihn die anderen Charaktere im Buch und die Leser*innen sehen. Mühelos bewegt er sich zwischen Witz, Ekstase, Gelehrsamkeit und performativer Selbstkasteiung. Humbert weiß, dass es falsch ist, was er tut, und hört nicht damit auf – weil er es kann: „At the hotel, we had separate rooms, but in the middle of the night she came sobbing into mine, and we made it up very gently. You see, she had absolutely nowhere to go.“

Ist es glaubhaft, dass andere Hotelgäste nichts von dem bemerkten, was sich im Nebenzimmer abspielte? Dass ein so besitzergreifender „Vater“ vielleicht kein gesundes Verhältnis zu seiner „Tochter“ hat? Es ist schwer vorstellbar, dass Humbert ohne seinen Charme und seine Autorität, ohne seine Bildung, ohne sein Weißsein und seinen sozialen Status zwei Jahre lang mit der Entführung einer Zwölfjährigen durchgekommen wäre.

Der „fancy prose style“ in Lolita soll in mir das Mitgefühl für Humbert auslösen, das er ausschließlich für sich selbst empfindet. Die poetische Sprache, die der Logik des Romans folgend die von Humbert ist, ist kein Selbstzweck, sondern ein bewusst eingesetztes Machtinstrument. Ich lese sie auch als Gradmesser dafür, wann ich welcher Figur Glauben schenke. In einem Manuskript, das fast ausschließlich die Täterperspektive einnimmt, ist es meine Aufgabe als Leserin, nicht auf das schöne Gewand aus Bonmots hereinzufallen, immer wieder Lolitas Erfahrung mitzudenken. Das gilt gerade dann, wenn Humbert sie als kaltes Gör abtut, das die Avancen des verzweifelten Verliebten ablehnt, oder, wenn er sie als „Nymphe“ dämonisiert. Wenn dieser Roman bei meiner letzten Lektüre eines für mich war, dann ein Empathie-Bootcamp.

Tatsächlich handelt es sich um eine gute Übung, deren Sinn sich schon im Nachwort meiner Ausgabe erschließt. Darin diskutiert der Autor Craig Raine durchaus aufschlussreich literaturwissenschaftliche Motive in Lolita. Er zeigt aber auch, was passieren kann, wenn man keine kritische Distanz zu Humbert wahrt, und wenn man es sich in dessen Formulierungen allzu gemütlich macht. Raine bewundert Lolitas Figur für ihre Ehrlichkeit und Direktheit, schreibt aber dann: „Lo definitely seduces Humbert“ oder „Lolita is neither a saint nor a slut“, als handelte es sich um eine Beziehung zwischen Erwachsenen. Lolita mag in seinem großen Thema recht einhellige Verachtung erfahren. Aber es sind Aussagen wie die von Raine, der selbst in einem solchen Roman „beide Seiten“ sehen will und so dem Täternarrativ auf den Leim geht, die gefährlich sind. Es sind Vorstellungen wie diese, die dazu führen, dass eine „Lolita“ in der Popkultur kein traumatisiertes, sexuell missbrauchtes Kind ist, sondern eine verruchte „Kindfrau”, die Männer um jeden erbärmlichen Rest Selbstbeherrschung bringt. Das sind keine Vorstellungen aus den 1950ern. Anders als Lolita, die mit 17 verstirbt, sind Täter-Opfer-Umkehr und fragwürdige Vorstellungen von sexuellem Einvernehmen heute noch sehr lebendig.

Dafür hatte ich als Jugendliche noch kein Bewusstsein. Es kam gut an, sich von einem Thema wie Kindesmissbrauch nicht abschrecken zu lassen, sich in die Sprache des Täters fallen zu lassen, statt den Moralapostel zu spielen, gerade als Frau, gerade vor männlichen Kommilitonen. Ich wollte eine Intellektuelle sein, die sich ihren Literaturgenuss nicht von gesellschaftlichen Einflussfaktoren verderben lässt. Ich bin froh, dass sich mein Verhältnis zu Intellektualität und zu Lolita verändert haben.

Diese Re-Lektüre hat mir ins Gedächtnis gerufen, wie wichtig es ist, genau hinzuschauen, Partei zu ergreifen für eine Figur, deren Zerrbild ich nur durch den manipulativen Stil des Erzählers erkennen kann. Schönheit und Gewalt schließen sich nicht aus. Schönheit entschuldigt keine Gewalt, sie versucht sogar oft, sie zu legitimieren. Es ist hilfreich, ihre Strategien kennenzulernen. Dass sie dabei manchmal schön bleibt, dass einige Beobachtungen in Lolita ansprechend bleiben, dass einige Wortwitze mich weiterhin zum Lachen bringen, heißt nicht, dass ich das Täternarrativ als solches nicht ablehnen kann. Dass mein Interesse am Buch und seinen Herausforderungen von Konflikten begleitet ist, gehört dazu.

Ist Lolita immer noch mein Lieblingsbuch? Nein. Bin ich froh, es noch einmal gelesen zu haben? Ja. Ein Wiederlesen bedeutet auch immer die Möglichkeit eines Besserlesens. Der Roman verbindet für mich in einzigartiger Weise eine Bestandsaufnahme gesellschaftlichen und persönlichen Fortschritts. Wann wird Frauen und Mädchen geglaubt, wenn sie von sexualisierter Gewalt sprechen? Wo ist es einfacher, ihre Erfahrungen zu relativieren, als sich einzugestehen, dass ein Vergewaltiger kein fremder Widerling im Gebüsch sein muss, sondern ebenso als eloquenter Gentleman daherkommen kann?

Niemand muss Lolita lesen. Es gibt sehr gute Gründe, es nicht zu tun und direkt zu Titeln überzugehen, die marginalisierte Stimmen in den Mittelpunkt stellen. Noch heute ist der Roman verflochten mit der Gesellschaft, in der er gelesen wurde. Und er wird gelesen. Deshalb müssen seine Leser*innen wehrhafter werden. Statt voyeuristischem Ekel brauchen sie ein waches Auge dafür, welche Beschreibungen darin bis heute als Rechtfertigungen für elegante Humberts dienen. Das gilt nicht nur für extreme Fälle wie Lolita, sondern auch für die mediale Bearbeitung von sexualisierter Gewalt, für Filme und Serien, für Witze auf Familienfeiern und für die Auseinandersetzung mit verinnerlichten Stereotypen. Wie jedes Bootcamp tut das weh, aber es kann sich lohnen. 

 

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Begegnung in der Schrift – Briefe in digitalen Zeiten

von Marie Isabel Matthews-Schlinzig

 

Jeden Morgen lausche ich auf Post, auf das Geräusch, das sie macht, wenn sie durch den Schlitz in unserer Haustür gleitet. Ich hoffe auf persönliche Briefe. Mit der Hand auf Papier geschrieben (oder ausgedruckt, wenn die Hand nicht mitspielt). Oft verrät schon das Schriftbild meiner Adresse, wer mir schreibt. Freunde, Familie. Manchmal öffne ich den Umschlag gleich. Manchmal platziere ich ihn auf dem Küchen- oder Schreibtisch und schaue ihn eine Weile vorfreudig an. Korrespondenz braucht den rechten Moment. Ich muss mich öffnen können für jene, die mich brieflich besuchen – oder die ich so ansprechen will. Beim Lesen schwingt die Stimme der Absender:innen in meiner mit. Auch beim Schreiben sitzen sie mir gegenüber. Wir begegnen einander im Brief. Nicht nur imaginär, sondern auch körperlich, durch die Spuren, die wir füreinander hinterlassen: die individuelle Handschrift, die Auswahl des Papiers, des Schreibgeräts, der Schriftart. Die Verzierungen des Umschlags von Hand, mit Stempeln, Aufklebern. Die Beigaben: Fotos, Konfetti, vierblättrige Kleeblätter…

Wem das bekannt vorkommt, gehört wahrscheinlich zu einer Spezies, die als vom Aussterben bedroht gilt, sich aber hartnäckig dagegen wehrt: den ,klassischen’ Briefschreiber:innen. Andere stellen sich die vielleicht naheliegende Frage: Wir leben im digitalen Zeitalter – warum schreiben Menschen überhaupt noch solche Briefe? In der Tat gibt es viele gute Gründe, sich dieser alten Kommunikationsform zu bedienen.

Selbst- und Fremdfürsorge betreiben

Halten wir zunächst fest: Briefartige Texte sind heute so allgegenwärtig wie vielleicht nie zuvor. In unterschiedlicher Ausführlichkeit gebrauchen sie in diversen Variationen Millionen von Menschen jeden Tag. Zum Beispiel, wenn wir E-Mails schreiben, Leserkommentare hinterlassen, WhatsApp-Nachrichten verfassen oder uns auf Twitter äußern. Im Vergleich zur handgeschriebenen Botschaft haben deren elektronische Verwandte Vor- und Nachteile. Was ihnen mangelt, ist das Potenzial, als haptisch erfahrbares Objekt eine eigene Geschichte zu erzählen. Entscheidend ist jedoch: der Schritt von der digital-elektronischen zur traditionell-materiellen Korrespondenz ist nicht so weit, wie manche:r vielleicht denkt.

Manchmal lässt schon die Schreibsituation Snail Mail (die wörtlich übersetzte Schneckenpost) als angemessener erscheinen: etwa im Trauerfall, beim Schreiben an die britische Queen, zu festlichen Gelegenheiten. Wenn eine persönliche Geste der Anteilnahme oder Anerkennung eine gegenständliche Gestalt annehmen soll. Und es sind bei weitem nicht nur ältere Generationen, die solche und andere Briefe schreiben. Auch Kinder und Jugendliche greifen heutzutage tendenziell wieder häufiger zu Stift und Papier. Das deutet etwa eine britische Umfrage unter Acht- bis Achtzehnjährigen an. Immerhin mehr als ein Drittel gab an, in der Freizeit Briefe zu schreiben. Warum? Um mit anderen in Kontakt zu bleiben, ihnen eine Freude zu bereiten – und weil das Schreiben selbst glücklich macht.

Tatsächlich löst der Erhalt privater Korrespondenz positive körperliche Reaktionen aus: etwa einen Anstieg des Hormons und Neurotransmitters Oxytocin. Oxytocin kann Stress reduzieren sowie Empathie, Vertrauen und soziale Bindungen stärken. Diese Wirkung scheinen Menschen von alters her zu empfinden. So bezeichnete Cicero den Brief als ein ‚Gespräch mit abwesenden Freunden‘. Etwa 1900 Jahre später liest man in Carl August Wagners Handbuch für Landschullehrer beim Gebrauche der Aufgaben zu schrifftlichen Aufsätzen: „Man kann sich den Brief wie einen schriftlichen Besuch denken.“ Zum damit assoziierten Eindruck von Vertrautheit, Nähe und Präsenz treten weitere Faktoren: Zeit, Konzentration, Ruhe und Sorgfalt. Indem wir unsere Gefühle und Gedanken in verständlicher Form für ein Gegenüber zu Papier bringen, erfahren wir gleichzeitig mehr über uns selbst. Die Adressat:innen wiederum empfinden unsere Mühen als Zeichen besonderer Wertschätzung. Ökonomisch Gesinnte würden sagen: Es ist eine Win-win-Situation.

Da das Schreiben von Briefen der psychischen und körperlichen Gesundheit zugute kommt, ist es mittlerweile gängiger Bestandteil schreibtherapeutischer Hilfsangebote. Menschen verfassen Briefe an sich selbst in der Vergangenheit, im Jetzt, in der Zukunft; an andere, Verstorbene wie Lebende, oder an die Welt an sich; an Gefühle wie Angst – und so weiter. Das reduziert unter anderem Stress, verbessert die Schlafqualität und verringert krankheitsbedingten Aktivitätsausfall.

Dieser heilenden Wirkung sind Projekte entsprungen, die Selbst- mit Fremdfürsorge kombinieren: So die seit 2013 von jungen Menschen für junge Menschen geleitete Non-Profit-Organisation Letters to Strangers. Sie will dabei helfen, psychische Erkrankungen zu destigmatisieren und den Zugang zu adäquater Behandlung zu verbessern. Weltweit. In diesem Zusammenhang werden Jugendliche dazu angeregt, für andere in ihrem Alter anonyme Briefe zu verfassen. In diesen offenbaren die Autor:innen ihre eigene Verletzlichkeit und machen gleichzeitig dem Gegenüber Mut. So soll, Brief für Brief, „durch die menschliche Verbindung Empathie“ befördert werden. Die Anonymität des Schreibens verändert die Dynamik der schriftlichen Kommunikation; in diesem spezifischen Kontext dürfte dies für die Korrespondenzpartner:innen befreiend sein. Denn das Schreiben an einen anonymen Briefpartner erlaubt zumindest theoretisch absolute Ehrlichkeit, ohne die Reaktionen des Gegenübers antizipieren (oder fürchten) zu müssen. Der Empfang eines solchen Briefs wiederum entbindet von der Verpflichtung zu antworten, was auch bedeutet: von unmittelbarer Fremdfürsorge. Und obwohl die Korrespondent:innen sich nicht kennen, bleiben persönliche Elemente erhalten – in der Handschrift, dem Mitgeteilten, der Wortwahl.

Zudem ist dieses Schreiben ein Weg, der Isolation entgegenzuwirken, von der nicht nur Menschen mit psychischen Erkrankungen oft betroffen sind; dem Gefühl, mit dem eigenen Leid allein zu sein. Ein ähnliches Anliegen, mit Blick auf Krebserkrankungen, verfolgt das britische Projekt From Me to You Letters. Es regt Menschen dazu an, von der Krankheit Betroffenen Briefe zu schreiben. An eine Freundin oder einen Freund, oder an Fremde. Im letzteren Fall bleibt die Korrespondenz zwar anonym, der Gestus des Schreibens ist jedoch freundschaftlich. Wer sich nicht sicher ist, welche Worte und Themen für diese besondere Situation passen, findet auf der Projektwebseite entsprechende Tipps. Ein persönlicher Brief, heißt es da, „ist wie ein handgefertigtes Geschenk“. Theorie-Interessierte mögen hier an wissenschaftliche Überlegungen zur ‚Gabe‘ denken. Ein Thema, das mit Blick auf den Brief in unterschiedlicher Weise beleuchtet worden ist – zum Beispiel von der Soziologin Liz Stanley. Dies hier aber nur am Rande.

Zusammenhalt und Verständnis fördern

Von gesellschaftlicher Isolation sind auch andere Bevölkerungsgruppen betroffen. Wer die Korrespondenz mit ihnen fördert, stärkt letztlich den sozialen Zusammenhalt. Auf schöne Weise verdeutlicht dies das Projekt Writing Back: Es startete 2014 an der Universität Leeds und ist mittlerweile zu einer Blaupause für ähnliche Initiativen geworden. Es vermittelt Brieffreundschaften zwischen älteren Menschen und Student:innen vor Ort, die sich zweimal im Jahr in festlichem Rahmen treffen. Die persönliche Begegnung erweitert und festigt die schriftlich gesponnenen Verbindungen. Mit Briefen wird hier gezielt Alterseinsamkeit entgegengewirkt und gleichzeitig das Verständnis verschiedener Generationen füreinander verbessert.

Im Kontext der Covid-19 Pandemie und dem vielerorts angeordneten ,social distancing‘ haben sich derartige Projekte vervielfältigt. So entstanden etwa in Großbritannien, Irland, Deutschland, Frankreich und Belgien diverse Briefschreibaktionen: darunter Briefe gegen Einsamkeit, Dear Friends  und 1 lettre 1 sourire. Zumeist geht es darum, die momentan noch forcierte Einsamkeit von Menschen in Pflege- und Seniorenheimen bzw. Krankenhäusern zu lindern. Teils schreiben Ältere an Ältere; häufig werden Kinder und Jugendliche dazu ermutigt, zu (Mal-)Stift und Papier zu greifen.

Während des Lockdown berichteten diverse, englisch- wie deutschsprachige Medien über die Zunahme des Briefverkehrs: Konfrontiert mit der erzwungenen Abgetrenntheit von ihren Lieben, entdeckten viele Menschen die alte Kommunikationsform wieder für sich. Besondere Wellen schlugen Briefschreiber:innen, die an Menschen in ‚systemrelevanten Berufen‘ schrieben. Ich selbst bin noch nie so vielen Nachbar:innen zufällig beim Gang zum Postkasten begegnet, wie in den letzten Monaten. Im Englischen hat das epistolare Fieber sogar zu einem neuen Begriff gefunden: ‚lockdown letters‘. Er wird für private Korrespondenz ebenso wie für künstlerische oder journalistische Texte verwendet und hat es auf Twitter zu Hashtag-Ehren gebracht. Der ,Seuchenbrief‘ des 21. Jahrhunderts sozusagen.

Ob diese außergewöhnliche Situation eine wirkliche Renaissance des Briefs bedeutet, bleibt abzuwarten. In jedem Fall wirft sie ein breiteres Schlaglicht auf die besonderen Qualitäten des Mediums. Dessen Menschlichkeit: die Kombination aus materiell vermittelter Unmittelbarkeit, mitgeteilter Emotion und selbstbestimmter Repräsentation. Sie machen den Brief nicht nur in Krisenzeiten wirkmächtig.

Wie schon bei Letters to Strangers und Writing Back zu beobachten war, lassen sich diese Eigenschaften dazu nutzen, um mehr Verständnis für die Lebenserfahrung anderer Menschen zu erzeugen. Sehr eindrücklich wird dies in dem künstlerischen Projekt Queer Letters der Fotografin Heather Glazzard, das geschickt Privatheit mit Öffentlichkeit verknüpft: Es kombiniert Fotos von jungen LGBTQ+ Menschen mit deren kurzen Briefen. Teils antworten sie auf Fragen, speziell die, was das Wort ‚queer‘ für sie bedeutet, oder welchen Rat sie einem jüngeren Ich geben würden. Die Briefe sind ausdrucksstark, intim, selbstbewusst, vielfältig. Sie dürften andere Menschen, vor allem aus der LGBTQ+ Community, bestärken. Glazzard verbindet mit ihrem Projekt die Hoffnung, dass alle Betrachtenden den Bildern und Briefen mit Empathie begegnen. Und so erkennen, „dass wir“, so die Fotografin, „ganz grundsätzlich betrachtet, genau wie alle anderen sind.“

Eine alte Kulturtechnik pflegen

Es bedarf schließlich keines spezifischen Problems, Themas oder gar einer Krisensituation, um handschriftliche Briefe zu verfassen. Weltweit gibt es Menschen, für die das Briefschreiben selbst Zweck genug ist. Sie wollen diese Kunst als Kulturtechnik am Leben erhalten. Ein Ziel, dem sich mittlerweile zahlreiche Organisationen sowie fleißig korrespondierende Individuen verschrieben haben. Zu ersteren zählt die britische Handwritten Letter Appreciation Society. Sie ist klein, hat aber Mitglieder in dreiundzwanzig Ländern – die meisten in England. Die Begründerin, Dinah Johnson, bloggt, gibt Zeitungsinterviews, schreibt an Gott und die Welt, und ist on- wie offline aktiv, um Menschen zum Briefeschreiben anzuregen. Außerdem trägt sie auf ihrer Webseite eine Art Mini-Archiv der Briefkultur zusammen, von dem sich Freund:innen des Mediums inspirieren lassen können.

In den USA ansässig, aber weit über deren Grenzen hinaus tätig war von 2007 bis 2020 die Letter Writers Alliance. Auch sie wollte Menschen dazu ermutigen, Briefe zu schreiben. Mitglieder wurden mit Gleichgesinnten postalisch verkuppelt. Laut der Webseite der LWA hat sie mittlerweile Mitglieder weltweit, die überwältigende Mehrheit lebt in den USA. Die Organisatorinnen geben an, dass sich achtzig Prozent der Mitglieder als weiblich identifizieren. Das Medium, welches nicht nur im Europa des 18. Jahrhunderts manche als das ‚weibliche‘ ansahen, könnte heutzutage diese Bezeichnung in gewisser Weise tatsächlich verdienen. Aber das muss hier, mangels ausreichender Daten, reine Spekulation bleiben.

Fakt ist, dass viele Anhänger:innen des ‚Briefs an sich‘ neben den inhaltlichen auch die materiell-sinnlichen Qualitäten von Korrespondenz schätzen. Mit ihrer Leidenschaft für Briefpapier, Füllhalter und vor allem dem Faible für das Schreiben mit der Hand partizipieren sie an einem allgemeineren Trend: Steigt doch das Interesse an Schreibwaren, speziell an ,bullet journals‘, ‚hand lettering‘ sowie personalisierten Notizbüchern und Füllern, in jüngster Zeit an. Diese Freude am Materiell-Sinnlichen ist verbunden mit einer Wertschätzung des Einmaligen, Hand- und Selbstgemachten, die sich auch in anderen Bereichen beobachten lässt – man denke nur an diverse Handarbeiten (Stricken, Häkeln, Sticken), die auch jüngere Generationen seit vielen Jahren wieder für sich entdeckt haben.

Dies ist nur einer von mehreren kulturellen Kontexten, die den hier kurz umrissenen, mit Herzblut betriebenen Einsatz für den handgeschriebenen  Brief konturieren. Einige weitere seien zumindest erwähnt, halten sie doch das allgemeine Interesse an Briefen und Briefkulturen wach: Da sind natürlich historische Korrespondenzen, die auf unterschiedliche Weise ihre Leser:innen finden – durch Editionen berühmter Briefwechsel, schön produzierte Brief-Anthologien, wie Shaun Ushers Letters of Note, oder Veranstaltungen wie Letters Live, auf denen Stars wie Benedict Cumberbatch oder Sir Ian McKellen vor großem Publikum Brieftexte vortragen.

Aber auch dem fiktionalen Brief wird immer wieder neues Leben eingehaucht. Ein diesbezüglich schönes Projekt ist die seit 2013 an der Universität Nottingham beheimatete literarische Zeitschrift The Letters Page. Konzipiert hat sie der Autor Jon McGregor, der sie gemeinsam mit seinen Student:innen als Unterrichtsprojekt herausgibt. Einreichungen erfolgen per handgeschriebenem Brief. Viele der online oder in einer der gedruckten Anthologien publizierten Texte haben autofiktionalen Charakter. Nicht nur auf diese Weise zeigt die TLP sehr anschaulich: Die Grenze zwischen ‚echtem‘ und fiktionalem Privatbrief (so es sie überhaupt gibt) ist eine sehr durchlässige.

Die jüngste Anthologie der TLP, Vol. 4, enthält einige der literarisch stärksten Texte, die die Zeitschrift bislang veröffentlicht hat. Im Vorwort zelebriert McGregor den handgeschriebenen Brief erneut als besonderes Kommunikationsmedium. Gleichzeitig warnt er davor, eine spezifische „Form zu fetischisieren“, denn „wir leben in einem Zeitalter großer Verbundenheit, und es gibt andere Arten, zu korrespondieren“. Hintergrund ist eine persönliche Erfahrung: Nach dem Tod eines Freundes verwandelte sich eine WhatsApp-Gruppe mit Angehörigen und anderen Freunden in eine, wie McGregor es nennt, „Korrespondenzgemeinschaft“. Diese hätte es, so der Autor, ohne die Nachrichten-App nicht gegeben.

Seiner Warnung  ist emphatisch zuzustimmen. Denn die Leidenschaft für den traditionellen Brief darf nicht den Blick verstellen für die Potenziale von Korrespondenz an sich. Und diese begegnet uns heute, wie anfangs erwähnt, in vielerlei Gestalt. Daher sei an dieser Stelle noch auf ein rein ‚virtuelles‘ Briefprojekt verwiesen: die Letters for Black Lives. Initiiert von Amerikaner:innen und Kanadier:innen asiatischer Herkunft, unterstützt es die Anliegen der Black Lives Matter Bewegung – mithilfe offen-persönlicher, an die älteren Mitglieder der eigenen Familien gerichteten Briefe. Diese Botschaften werden in zahlreiche Sprachen übersetzt, um weltweit so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Anders als auf Papier verfasste können diese auf einer Webseite veröffentlichten Briefe gleichzeitig unzählige Adressat:innen erreichen. Was sie, nicht zuletzt mit Blick auf finanzielle sowie andere Ressourcen, zu einem besonders geeigneten Mittel für ein globales gesellschaftspolitisches Anliegen macht.

Als erklärter Liebhaberin des handgeschriebenen Briefes bleibt mir schließlich, nicht zuletzt mit Blick auf dieses Projekt, zu sagen: Es greift zu kurz, das Verhältnis digitaler und papierner Formen von Korrespondenz nur als eines der medialen Konkurrenz zu begreifen. Die Grenzen zwischen ihnen gestalten sich teils sehr fließend. Im besten Fall ergänzen und befruchten sich traditionellere und neuere Formen gegenseitig. Last but not least sollte hier nicht der Eindruck erweckt werden, dass eine Mehrheit von Menschen noch (oder wieder) handschriftlich korrespondiert. Nichtsdestoweniger ist das Interesse an der Kulturtechnik Brief unzweifelhaft und sehr lebendig. Und es gibt selbstverständlich viele weitere Gründe, Briefe zu schreiben, als die hier benannten. Wer weiß? Vielleicht hat ja der eine oder die andere Leser:in Lust bekommen, wieder einmal Stift und Papier hervorzukramen? Eins ist sicher: Das letzte Kapitel in der Geschichte des Briefs ist noch lange nicht geschrieben.

 

 

Braune Held*innen, große Literatur – ‘Das Paradies meines Nachbarn’ von Nava Ebrahimi und das weiße Feuilleton

von Maryam Aras

 

„In der Vagheit fühle ich mich geborgen“, lässt Nava Ebrahimi ihre Heldin Mona in ihrem ersten Roman Sechzehn Wörter sagen. Mona ist, wie die Autorin selbst, im Iran geboren und in Köln groß geworden. Anders als ihre Schöpferin ist Mona, 34, Ghostwriterin eines  Ghostwriters für Celebrity-Autobiographien. Als ihre Großmutter in Maschhad stirbt, reist sie mit ihrer Mutter in den Iran und eine roadmovieartige Geschichte, entlang erzählt an sechzehn persischen Wörtern und Redewendungen, nimmt ihren Lauf.

„[…] da ist noch eine andere Sprache, deine Muttersprache, glaube ja nicht, die Sprache, die du sprichst, wäre deine Sprache. Regelmäßig war ich ihnen ausgeliefert, diesen Wörtern, die nichts mit meinem Leben zu tun hatten, nichts mit der Art wie ich täglich das Fahrradschloss öffne, nichts damit, wie ich im Restaurant Essen bestelle oder im Frühling Winterkleidung verstaue. Nichts hatten sie mit meinem Leben zu tun, trotzdem, oder gerade deshalb brachten sie mich immer wieder in ihre Gewalt. Doch dann, einer Eingebung folgend, übersetzte ich ein Wort und es war, als hätte ich es entwaffnet.“

Mit ihrem Debütroman hatte Ebrahimi ein faszinierendes Programm ihres Schaffens vorgelegt). Sprachästhetisch und inhaltlich alle Halbtöne von Identität in between und Fremdsein im eigenen Land (in welchem auch immer) treffend, hat sie sich nicht nur einen Teil ihrer eigenen Biographie von der Brust geschrieben, sondern auch eine so spannende Story komponiert, dass man nach der letzten Seite kaum fassen kann, wie diese Geschichte gerade geendet hat. 

 Das Übersetzen aus einer fremdgewordenen Muttersprache, um damit ein Entwirren der eigenen Lebensstränge einzuleiten, ist für Sina Khoshbin, den Anti-Helden in Nava Ebrahimis zweitem Roman, keine Option. Seine Muttersprache ist Deutsch und alles, was er von seinem iranischen Vater zu haben scheint, sind Name, Aussehen und das Trauma dessen Abwesenheit. War Sechzehn Wörter“ ein Konzept-Buch, so ist Das Paradies meines Nachbarn eine Fallstudie. Hier geht es um drei Männer und die sichtbaren und unsichtbaren Pfade, mit denen ihre Lebensgeschichten zwischen Deutschland und Iran miteinander verbunden sind. Die Hauptfigur Sina umreißt die Autorin mit großer erzählerischer Genauigkeit: sein zurückhaltendes Wesen, das seiner alleinerziehenden Mutter das Leben so leicht wie möglich machen will. Seine Zögerlichkeit, als Produktdesigner eines Münchener Designbüros auch mal kühne Entwürfe abzuliefern, und seine ebenso auf Sparflamme laufende Ehe mit Katharina, einer Resilienzforscherin aus gutem Hause, die unbeeindruckt von dem gemeinsamen Leben der beiden, immer in ihrer eigenen Form zu verharren scheint.

Neben Sina lässt Ebrahimi ihre Leser*innen in die Perspektiven von Ali Najjar und Ali-Reza schlüpfen.[1] Ali Najjar tritt in Sinas Leben, „mehr Ereignis als Mensch“, und das empfindliche Gebilde seines Münchener Familienlebens gerät endgültig aus dem Gleichgewicht. Ali Najjar ist ein Star unter Produktdesignern, eine schillernde Persönlichkeit, und Sinas neuer Chef. Er versteht es, den Medien genau so viel von seiner Lebensgeschichte als Kindersoldat im Iran-Irak-Krieg zu füttern, dass alle gebannt zuhören und seine zynischen Verweise auf deutsche Bauteile der irakischen Senfgasfabriken ungehindert im Netz umherschwirren können.

Identitätskrise und Gummiinsel

Doch Sina ist in seiner Identitätskrise rezeptiv wie ein Schwamm. Er wittert den Menschen hinter der Fassade. Gleichzeitig sucht er sich selbst in Ali Najjar. Dieses Zusammenspiel der beiden Figuren, die als zwei Pole verschiedener Konstruktionen von Maskulinität entworfen sind, ist ausgesprochen stimmig. Ebrahimi ist eine eindrucksvolle Erzählerin, die ihre Charaktere mit Widersprüchlichkeiten in ihren Selbstnarrationen ausstattet, dramatisiert durch oft kaum wahrnehmbare Perspektivwechsel, innere Monologe oder Dialoge, die teilweise nur die Stimme einer Figur wiedergeben. Abgerundet werden die Charaktere durch die Außenwahrnehmung der jeweils anderen Figuren. Erfunden hat Ebrahimi diese Erzählweisen selbstverständlich nicht, aber eine so überzeugende Umsetzung, die ähnlich packende Charaktere zu Tage fördert, ist einfach selten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Als Ali Najjars Mutter im Iran stirbt, kontaktiert ihn ihr Ziehsohn Ali-Reza, ein Versehrter eben jenes irakischen Giftgases, das durch deutsche Hilfe im Iran-Irak-Krieg zum Einsatz kam. Als vierzehnjähriger Freiwilliger war er Teil des menschlichen Minenräum-Kommandos aus iranischen Jungs, die einen Plastikschlüssel Made in China um den Hals trugen, um auf schnellstem Weg ins Paradies zu gelangen. „Lebende Märtyrer“ werden Kriegsversehrte wie Ali-Reza im Iran genannt. Sie sind eigentlich ein wichtiger Teil der offiziellen Ordnung, aber ihre Veteranenrenten werden von der Rezession aufgefressen und die postrevolutionäre Gesellschaft, der Kriegsrhetorik müde, interessiert sich nicht mehr sonderlich für ihr Leid. Umhegt und gefangen in der Fürsorge der Pflegemutter hatte sich Ali-Reza so in sein Schicksal ergeben. Mit ihrem Tod wurde auch für ihn ein Strom neuer Ereignisse losgetreten.

In Dubai nun will Ali-Reza Ali Najjar den letzten Brief der Mutter übergeben. Sina gerät zwischen die Fronten. In einer zwielichtigen Hotellobby findet sich Sina dann Ali-Reza gegenübersitzend. Vor einer filmreif gezeichneten Kulisse beginnt ein regelrechter Showdown. Ali Najjars sorgfältig gescriptete Lebensgeschichte fällt in sich zusammen. Seine Geschichte und sein Charakter sind als Gegenstück zu Sina gezeichnet. Ebrahimi schreibt einen attraktiven Mann Mitte 40, der Inbegriff eines Selfmademans („Najjar“ bedeutet Zimmermann auf Persisch). Schon lange muss er nicht mehr auf Geld achten. Eine scheinbar perfekte Rags-to-Riches-Story. Sie schlägt sich in geschliffenen Beschreibungen von Ali Najjars Büroeinrichtung nieder, die genauso viel über ihn aussagen wie über Sina, durch dessen Augen wir dieses Spiel von Oberflächen und reduzierter Möblierung betrachten.

Ali Najjar und Sina nennen sich „Perser“. Da klingt nicht nur schicker als Iraner, es dient auch der Distinktion von anderen, als muslimisch eingeordneten Migrant*innen. Wie es ist, als iranisches, braunes Kind im Vorstadtdeutschland der 1980er und 1990er Jahre aufzuwachsen, hat Ebrahimi schon in ihrem ersten Roman schmerzlich beschrieben. Auch in diesem Roman spielt das Braunsein in einer weißen Mehrheitsgesellschaft eine Rolle, wenn auch unterschwelliger. Zumindest sind Sinas Erfahrungen als nicht-weißer Mann eher diffus. Doch es gibt sie, die ewige Frage nach der „wirklichen“ Herkunft, die misstrauischen oder neugierig exotisierenden Seitenblicke seiner zumeist weißen Mitmenschen. Ebrahimi benennt diese Kategorien nicht klar. Warum auch, es geht ja um einen Charakter, dem sein eigenes Sein gerade erst dämmert. Und doch schreibt sie die Unsicherheiten einer Identität, die ihr Leben lang damit zu kämpfen hatte „irgendwie anders“ zu sein, in ihre Hauptfigur ein. „Du musst immer besser sein als die anderen, um weiterzukommen“, das Mantra aller immigrierten Eltern – Sina lebt es unausgesprochen: Bloß nicht unangenehm auffallen, nicht weniger eloquent sein, besonders höflich sein und nie zu laut und bloß, bloß nicht irgendwelchen Stereotypen muslimischer Männlichkeit entsprechen! Ali Najjar, der als Teenager nach Deutschland gekommen ist, spielt dagegen bewusst mit diesen Bildern. Möglich ist ihm das, weil er es sich in seiner Blase finanziellen und medialen Erfolgs leisten kann.

Sina sucht auf seiner Suche nach sich selbst Kontakt zu seinem Vater. Einem Geschäftsmann und Lebenskünstler, den er sich seit seiner Jugend irgendwo in L.A. an einem Pool sitzend vorstellt. Er scheint die Verkörperung seines Familiennamens „der Optimist“ (Khoshbin) zu sein – ganz im Gegensatz zum Sohn. Dessen innere Zerrissenheit versinnbildlicht Ebrahimi in großartiger Alltagspoetik durch eine Gummiinsel aus Sinas letztem Italienurlaub, die die kleine Tochter unbedingt in der Wohnung behalten wollte. Die Luft ist längst raus. „So erging es vermutlich jedem aufblasbaren Gummiteil. Kaum eines fuhr ein zweites Mal in den Urlaub.“ Doch liegt die Insel im Wohnzimmer und erinnert ihn so ständig an seine Unfähigkeit, sie wegzuräumen. 

Die Deutungsmacht des Feuilletons

Seit Das Paradies meines Nachbarn im Februar erschien, ist es von der deutschen und österreichischen Literaturkritik sehr positiv aufgenommen worden. Doch wie es oft so ist (und auch schon bei Ebrahimis Debüt zu beobachten war), finden nur bestimmte Aspekte des Romans ihren Weg in die Rezensionen, andere bleiben unerwähnt. Welche Teile nicht rezipiert werden, ist dabei kein Zufall.

In einer sonst sehr ausgewogenen Besprechung schreibt Norbert Mappes-Niediek in der Frankfurter Rundschau: „Werke wie die von Nava Ebrahimi werden immer noch gern in die Schublade der „Migrantenliteratur“ gesteckt, ganz so, als könnte es im 21. Jahrhundert noch so etwas wie Nationalliteratur geben. Besser beschrieben ist es Weltliteratur in einem neuen Sinne.“

So positiv es auch gemeint sein mag, es stellt sich eben doch die Frage: Was ist denn dann diese „Migrantenliteratur“ oder wenn – wie es hier anklingt – diese Kategorie an sich kritisch beäugt wird: Was ist denn dann eine „neue deutsche Literatur“ (wenn es denn keine Nationalliteratur mehr gibt)?

Als „Migrantenliteratur“ wurden in der Germanistik lange Werke von Einwander*innen erster Generation wie die der Schriftstellerin und Dramatikerin Emine Sevgi Özdamar oder des Dichters SAID betitelt. Von Carmine (Gino) Chiellino passender als „interkulturelle Literatur“ kategorisiert, ist sie per se Teil einer Nationalliteratur, gleichzeitig ist interkulturelle Literatur aus einer Sicht geschrieben, die von mehreren Kulturen geprägt ist. Ebrahimis Schaffen ist aus einer Binnensicht geschrieben. Wäre das hier ein literaturwissenschaftlicher Aufsatz, so wäre diese Kategorisierung formal hilfreich. Es geht dabei nicht darum, ob ihre Bücher zu einer Nationalliteratur gehören „dürfen“. Sie sind auf Deutsch geschrieben und daher automatisch verortet. 

Hier geht es um viel mehr, denn Literaturkritik ist in ihrer Funktion keine Einbahnstraße, die Literatur und ihre Autorinnen nur interpretiert und kategorisiert, sondern auch Literaturvermittlung, die potenziellen Leser*innen zugewandt ein Buch in einen bestimmten Zusammenhang stellt. Es geht also um die Deutungsmacht der Literaturkritik. Mit dieser ist die Frage nach einer Leser*innenschaft bestimmter Bücher verbunden: Von wem für wen wird Literatur empfohlen? Wer kauft und findet durch sie Zugang zu bestimmter Literatur, wer findet sich in dieser wieder? Wenn ein etablierter weißer Kritiker also schreibt, diese Literatur sei explizit keine „Migrantenliteratur“, sondern „Weltliteratur“, dann steckt neben einer großen Wertschätzung darin auch die implizite Zuordnung, an wen sich seiner Meinung nach diese Literatur richte.

Nava Ebrahimis Romane sind große Literatur. Sie gehören allen ihren Leser*innen. Aber ganz besonders gehören sie jenen Leser*innen, deren Lebenswelt sie wiedergeben, und die in der Lage sind, die Poetik der Autorin in all ihren Zwischentönen zu lesen.

Genau das vermag weiße Literaturkritik kaum. Bei allem guten Willen wird postmigrantische Literatur von weißer Kritik in aller Regel nur auf explizit geschilderte Rassismus- oder Othering-Erfahrungen hin besprochen. Eine Rezeption von feinsinniger Binnensicht-Metaphorik, die gerade in Ebrahimis Romanen so auschlaggebend ist, findet selten statt. Wie auch? Es braucht hier Schwarze und Literaturkritik of Color, um diese Poetologien zu verstehen und sie einer Leser*innenschaft zugänglich zu machen, die endlich sich und ihre Lebenswelten in Literatur wiederfindet. Ebrahimis Romane sind natürlich auch Weltliteratur. Diesen Begriff zu gebrauchen, um sich der Benennung ihrer postmigrantischen Perspektive zu entziehen, ist jedoch inhaltlich unsauber und verfehlt die eigentliche Thematik.

Nava Ebrahimi, Olivia Wenzel oder Deniz Utlu sind Autori*nnen postmigrantischer Literatur. Warum dieser Begriff? Die Historikerin Fatima El-Tayeb weist zurecht darauf hin, dass wir als Gesellschaft noch weit von einem „post“migrantischen Zustand entfernt sind. Die gleichen Debatten über Rassismus oder ein inklusiveres Miteinander, die wir heute nach dem Terroranschlag in Hanau führen, wurden so oder ähnlich nach den rassistischen Brandanschlägen von Solingen, Mölln und Rostock geführt. Der Fortschritt ist denkbar klein. Das gilt gerade auch für den Kulturbetrieb, und insbesondere für die vermeintlichen „Hochkultur“-Bereiche Theater und Literatur. Wenn hier von postmigrantischer Literatur die Rede ist, dann um der Perspektive der Autor*innen, die sie schreiben, gerecht zu werden.

Analytisch betrachtet wäre diesen Autor*innen auch mit Chiellinos „interkultureller Literatur“ genüge getan. Die Selbstbezeichnung Migra, Migrakids, Schwarz oder post-xxx (z.B. iranisch) sagt aber mehr. Sie beinhaltet sowohl eine Weigerung, die Herkunftskultur (der Eltern) zu assimilieren, als auch die selbstbewusste Artikulation einer Identität, die von Rassismuserfahrungen und Othering in der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft Narben davongetragen hat. Für alle Leser*innen jener Mehrheitsgesellschaft, die den Horizont ihrer Sicht tatsächlich erweitern möchten, ist dieser Begriff eine Einladung zu lernen und in Perspektiven von BIPoC-Autor*innen einzutauchen. BIPoC-Literaturkritik kann auch weißen Leser*innen hier helfen, aufmerksamer und sensibler zu lesen. „Kontrapunktisch“ nennt Edward Said jene „Vielheit der Sicht, die ein Bewusstsein der gleichzeitigen Dimensionen ermöglicht“, wie es nur Exilanten können, die immer mindestens zwei kulturelle Dimensionen mitdenken (Said 2002: 148). Das Kontrapunktische wohnt genauso der postmigrantischen Literatur inne, vielleicht sogar in besonderem Maße: Sie hat nicht nur zwei kulturelle Ursprünge, sondern auch eine Binnensicht, die sich so oft als Teil und wieder nicht als Teil dieser beiden Ursprünge wahrnimmt, sie auch immer von außen betrachtet.

Ebrahimi mag nicht, wie Toni Morrison es einmal für sich und ihre Schwarze Leser*innenschaft formuliert hat, nur für Migra-Leser*innen schreiben. Jedoch, bewusst oder nicht, Literatur, die ohne einen „white Gaze“ postmigrantische Realitäten abbildet, ist automatisch einem Publikum zugewandt, das diese Realitäten teilt. Im weißen Mainstream ist das ist ein subversiver Akt, den postmigrantische kulturelle Produktion, sei es Film, Literatur oder Theater, leisten kann. Die Agency ihres Publikums umverteilen. Es ist an der Zeit, dass das deutschsprachige Feuilleton und der Literaturbetrieb erkennen, dass es diese Leser*innen und ihre Agency gibt.

 

[1] Ali-Reza ist ein gängiger iranischer Doppelname, Ali Najjar sind Vor- und Nachname der Figur.

Said, Edward. (2002), Reflections on Exile and Other Essays (Cambridge: Harvard University Press).

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Von Schrottwert zu Meisterwerk und zurück – Über Kunstfälschung

von Christina Dongowski

 

Die Kunstgeschichte als moderne Wissenschaft beginnt mit einer Fälschung: 1760 feiert Johann Joachim Winckelmann das Fresko Jupiter küsst Ganymed, das aus einer geheimen Grabung stammen soll, als authentisch antike Wandmalerei. Tatsächlich hatten Winckelmanns Freund Anton Raphael Mengs und dessen Schüler Giovanni Battista Casanova das Fresko 1758/59 geschaffen. Es handelte sich um ein kunsthistorisches Experiment: Würde Winckelmann einem Objekt widerstehen können, in dem in Komposition, Thema und stilistischer Ausführung alles zusammenkam, was er an antiker Kunst schätzte? Und das außerdem eines der heißesten Begehren der Kunstkenner und Antiquare des 18. Jahrhunderts erfüllte, endlich ein großes, nahezu intaktes antikes Gemälde zu finden, das dem entsprach, was man sich anhand der Beschreibungen durch antiker Kunstschriftsteller als Malerei in der Nachfolge des Künstlers Appelles vorstellte. Winckelmann biss an. Er ließ das Fresko von Casanova stechen und nahm es, mit ausführlicher Beschreibung und Belobigung, in die erste Ausgabe der Geschichte der Kunst des Alterthums von 1763 auf.

Nachdem in den Künstler- und Gelehrtenkreisen Roms Gerüchte aufkamen, das Fresko sei ein Hoax, untersuchte Winckelmann es erneut – und kam nun zu dem Schluss, es sei doch nicht antik, sondern zeitgenössisch. Er war sich auch ziemlich sicher, wer das Werk tatsächlich geschaffen hatte – ein Werk, das 20 Jahre später von Goethe immer noch außerordentlich geschätzt und dessen Echtheit bis weit ins 19. Jahrhundert hinein von vielen Kennern energisch verteidigt wurde. Winckelmanns Ruf als Experte für antike Kunst trug zwar ein paar Kratzer davon, geschadet hat ihm der Missgriff allerdings nicht wirklich, auch aufgrund des hohen künstlerischen Ranges, der  der Fälschung eingeräumt wurde. Und die beiden Fälscher kamen gänzlich ungeschoren davon: Mengs war ein Star der europäischen Kunstszene, dem so eine künstlerische Eskapade gerne verziehen wurde. Casanova wurde 1764 nach Dresden berufen und einer der Mitbegründer der Dresdner Zeichenakademie, der er ab 1776 als Direktor vorstand. Zahllose deutsche Zeichner des Klassizismus haben bei ihm gelernt, wie man einen klassisch-schönen Umriss zeichnet. Die Freundschaft und Arbeitsbeziehung zwischen Mengs und Winckelmann überlebten die Affäre dagegen nicht.

Die Gelassenheit, mit der außer Winckelmann so ziemlich jeder in Rom auf die Fälschungsvermutung reagierte, beruht auf einem Verständnis von Originalität, das sich noch stark von unserem Begriff unterscheidet. Gerade durch kreative Nachahmung der Antike oder auch eines großen Renaissance-Meisters zeigt man, was für ein Originalgenie man selbst ist. Mengs zeigt seinen Rang als Genie, indem er ein Fresko erschafft, das nicht nur mit den antiken Vorbildern mithalten kann, sondern diese sogar übertrifft: Die dargestellte Szene selbst ist aus keinem bekannten antiken Text entnommen und sie findet sich auch bei keinem anderen antiken Kunstwerk. Genau die Elemente, die für Winckelmann im zweiten Anlauf Indizien für die Nicht-Antiquität des Freskos waren, zeichneten es für die Zeitgenossen (und auch für Winckelmann selbst) gleichzeitig als bedeutendes Kunstwerk aus.

Während dieser Begriff von Originalität noch zur alten Welt der Antiquare und vor-modernen Ästhetik gehört, formiert sich mit den Akteuren, „technisch und kunsthistorisch versierte Künstler(fälscher)“ versus „Kunsthistoriker ohne technische und künstlerische Praxis“, bereits die Konfliktlinien um die Definitionshoheit über das, was echte Kunst sei. Mengs wollte Winckelmann nicht einfach auf den Arm nehmen und ein wenig den hochgespannten Idealismus verspotten, mit dem sein Freund antike Kunstwerke betrachtete. Hier markiert auch ein renommierter Künstler den Anspruch, dass die Kompetenz über Wert und Bedeutung eines Kunstwerks zu urteilen, bei Kunst-Praktikern liege, nicht bei Leuten, die nur darüber schreiben können. Um 1760 geht der Konflikt noch unentschieden aus. Mit der Etablierung von Kunstgeschichte als akademischer Disziplin und der Installation von Kunstmuseen als Bildungsanstalten bürgerlicher Subjekte erringen die Kunsthistoriker dann aber die Deutungshoheit über Kunst.

Kunstfälschungen werfen interessante Fragen auf, wenn es darum geht, was wir bereit sind, als Kunst zu akzeptieren. Die Memoiren von Kunstfälschern werden trotzdem sehr selten als Beiträge zu dieser Debatte ernst genommen. Was auch deswegen schade ist, weil sie, im Gegensatz zu vielen Beiträgen von legitimen Kunsthistoriker*innen, meist sehr unterhaltsam sind – und tatsächlich von vielen Lai*innen auch gelesen werden. Biographien und Memoiren von enttarnten Kunstfälschern, bringen es regelmäßig zu Bestsellern. In Großbritannien ist die Autobiographie des Allround-Fälschers Shaun Greenhalgh, A Forger’s Tale. Confessions of the Bolton Forger von 2017 sogar als Observer Art Book 2018 ausgezeichnet worden. Zurecht, denn bei Greenhalgh bekommt man detaillierte Einblicke in künstlerische und kunsthandwerkliche Techniken. Schließlich hat er selbst seine Fälschungspraxis als eine Art experimentelle Kunstgeschichte verstanden. Seine Confessions sind außerdem eines der wenigen Bücher, aus denen man etwas darüber erfährt, wie sich außer- und  unterhalb bürgerlicher Mittel- und Oberschichten die ästhetische Erziehung des Menschen konkret abgespielt hat; und das ohne ein schlechtes Gewissen darüber, die eigene Herkunft durch den sozialen Aufstieg verraten zu haben. Greenhalgh hat das Buch im Gefängnis geschrieben, nicht auf einem Lehrstuhl für Soziologie.

Auch bei ihm ist, wie in den meisten Fälscher-Biographien, die Bête Noire weniger die Polizei, sondern die Kunstexpert*innen, die ihm eigentlich schon längst auf die Schlichte hätten kommen müssen. Stattdessen haben sie eine Fälschung nach der anderen in den Handel durchgewunken – und erst jetzt, als klar ist, dass eines der “bedeutendsten” Meisterwerke, das Vermeer oder Campendonck oder Van Goghs jemals geschaffen haben, gar nicht von deren Hand ist, erscheint denselben Experten plötzlich augenfällig, dass das ja gar kein Vermeer oder Van Gogh oder Campendonck sein kann, so schlecht wie die Fälschung gemacht sei.

Tatsächlich hat die Transformation vom Meisterwerk zu Schrottwert, die ein Kunstwerk in dem Augenblick erfährt, wenn die eigentliche Urheberschaft erkannt ist, etwas Mystisches: Eben noch Campendoncks bestes Gemälde, nun schlecht ausgeführter Expressionismus-Kitsch. Es sind offensichtlich weniger die dem Werk immanenten ästhetischen Qualitäten, die es zum Meisterwerk machen oder seine ästhetische Beurteilung bestimmen, sondern es muss die Hand des Meisters auf sich gespürt haben. Wird sie abgezogen, verschwinden plötzlich die sichere Linienführung, die subtile Komposition und die exquisite Farbigkeit oder was auch immer die Superiorität des Bildes begründet haben soll. An ihrer Stelle erscheint ein aus Geldgier, Geltungssucht und Selbstüberschätzung zusammengeschmiertes Machwerk. Das Kunstwerk als Berührungsreliquie.

Die Wandlung funktioniert natürlich auch in die andere Richtung. Das spektakulärste Beispiel für die Transformation von Schrottwert zu Meisterwerk ist das 2018 für offiziell 450 Millionen Dollar an einen damals anonymen Käufer versteigerte Gemälde Salvator Mundi von Leonardo da Vinci, das 2005 von einem Kunsthändler in einem kleinen Auktionshaus in Louisiana für 1.175 Dollar gekauft worden war. Der vom Auktionshaus angesetzte untere Preis betrug 1.200 Dollar, – und selbst der wurde noch unterschritten, weil das Bild angeblich nur noch Materialwert hatte. Auch wenn Robert Simon, der Käufer des Bildes, bereits beim Anblick einer niedrig aufgelösten Schwarz-Weiß-Version des Fotos im Auktionskatalog auf seinem Computer gespürt haben will, dass ihn hier ein echter Leonardo anschaue, passierte die Wandlung von Schrott zu Hot nicht ganz so schnell und einfach. Um ein Bild als Leonardo in den Markt zu bringen, braucht es mehr als einen, der daran glaubt. Es braucht mindestens einen als unabhängig angesehenen, renommierten Experten, der öffentlich bezeugt, die Hand Leonardos habe auf dem Bild gelegen. Was uns wieder zu echten Kunstfälschungen bringt. Denn genau so jemanden braucht man z. B. auch, wenn man eine Fälschung als echten Max Ernst für einen Millionenbetrag verkaufen will.

Mit Martin Kemp hat in der Geschichte um Salvator Mundi von Leonardo da Vinci ein Kunsthistoriker die wertsteigernde Expertenrolle inne, der möglicherweise bereits einen Shaun Greenhalgh, Sally from the Coop, als La Bella Principessa Leonardo da Vinci zugeschrieben hat. Die Zeichnung einer jungen Frau in Renaissance-Kostüm tauchte erstmals 1998 auf dem Markt auf: Sie wurde da noch als Nazarener-Zeichnung (German School, Early 19th Century) von Christies versteigert. Kemps Ehrgeiz, sich seinen Platz in der Kunstgeschichte als der Mann zu sichern, der dem schmalen malerischen Werk Leonardos entscheidendes Neues hinzugefügt hat, machte ihn zum idealen Kandidaten für jeden, der genau das auch vorhatte – aber nicht über das entsprechende kulturelle und akademische Kapital verfügte. Und vielleicht auch nicht über einen echten Leonardo.

In Fälschergeschichten wird mit der Fälschung immer auch der Experte enttarnt: Aus dem die höheren Weihen der Kunst quasi priesterlich verwaltenden Kunstexperten wird dann schnell ein Schaumschläger, den der Fälscher mit seinen eigenen Mitteln geschlagen hat. Der akademisch gescheiterte Fälscher führt die von sich selbst überzeugte, akademisch hochdekorierte Expertenschar an der Nase herum. Er wird vom Publikum gleichzeitig für die hohe Virtuosität seiner Fälschung bewundert und dafür, dass er mit so einer offensichtlichen Fälschung die Gatekeeper genarrt hat. Kunstwissenschaftliche Expertise wird also gleichzeitig anerkannt und als scharlatanische Praxis denunziert. Für die Kunstexperten bleibt nur die Rolle des Schwätzers, der auf sein eigenes Geschwätz von ästhetischer Qualität und künstlerischer Meisterschaft hereingefallen ist. Die Fälscher werden dafür bewundert, dass und wie sie ein System mit dessen eigenen Mittel schlagen, das aus ein bisschen Farbe und Leinwand oder Holz Luxusobjekte macht, die mit Summen bezahlt werden müssen, die es mit dem Kulturetat vieler Städte aufnehmen können – oder sogar mit deren ganzem Haushalt.

Kunsthistorische Expertise ist daher die Superkraft, die man als Fälscher neben erheblichen technischen künstlerischen Fähigkeiten benötigt, um gerade im oberen Preis- und Kanon-Segment erfolgreich zu sein. Erfolgreiche Fälschungen, deren Entdeckung Furore macht, sind fast nie Kopien im strengen Sinn, sondern „Nachschöpfungen“. Der Fälscher schafft ein Werk, dass Maler X gemalt haben könnte, vielleicht sogar gemalt haben müsste – wenn er seinen eigene, von Kunsthistoriker*innen rekonstruierten Werkverlauf und künstlerische Entwicklung ernst nimmt. Wolfgang Beltracchi verwendet, ähnlich wie Shaun Greenhalgh, in seinen Memoiren viele Seiten darauf, sich gegen die akademisch ausgebildeten Kunsthistoriker als der mindestens genauso kompetente Hermeneut und Rekonstrukteur des Werks der von ihm gefälschten Künstler*innen zu profilieren. In Selbstporträt beschreibt er nicht nur technisch sehr detailliert, wie zum Beispiel die von ihm geschätzten rheinischen Expressionisten gearbeitet haben, sondern entwickelt auch aus seiner sehr genauen Kenntnis ihrer Mal- und Kompositionstechniken heraus interessante Theorien zur Genese einzelner originaler Werke oder ganzer Werkphasen. Erst sein genaues Verständnis dessen, was zum Beispiel Campendonck malerisch interessiert hat, habe ihn selbst in die Lage versetzt, in Rotes Bild mit Pferden ein von Experten als ein Meisterwerk Campendoncks gefeiertes Werk zu schaffen.

Viele der Kunsthistoriker*innen, die sich systematisch mit dem Thema Kunstfälschung befassen, sehen bei solchen Behauptungen tatsächlich Rot: Sie können darin nichts als den Versuch der Fälscher erkennen, den eigenen, in Wirklichkeit rein materialistischen Motiven die höheren Weihen genuin künstlerischen oder kunsthistorischen Interesses zu verleihen. Doch die Geschichte der Kunst ist reich an bewunderten und gefeierten Protagonisten, bei denen sich künstlerische oder wissenschaftliche und ökonomische Motive kaum voneinander trennen lassen. Der ökonomisch uninteressierte, nur von seinem Willen zur Kunst und zum Selbstausdruck getriebene Künstler war bereits ein Mythos, bevor er von den großen Kunsthändlern der Moderne als ideales Marketing-Konzept für Kunstwerke aufgebaut wurde; als Nonkonformist, der sich den Repräsentationslogiken der bis dahin hegemonialen Ästhetiken verweigerte, dafür aber umso besser als Distinktionsmarker für neue Eliten geeignet war. Auch der Posterboy der Legende von der Armut der Kunst, Vincent van Gogh, wollte seine Werke verkaufen. Seine Briefe an seinen Bruder Theo, der als Kunsthändler arbeitete, sind voller Ideen und Vorschlägen, wie man sein Werk an den Mann bringen könnte, und voller Vorwürfe, Theo arbeite nicht hart genug daran, ihn zu vermarkten. Und das erscheint noch harmlos im Gegensaz zu Künstlern wie Degas, Matisse oder Picasso, deren kaufmännische Kompetenz beim Wahren der eigenen ökonomisch-künstlerischen Interessen bei Händlern und Sammlern gefürchtet war.

Ökonomische Motive nicht nur als irrelevant, sondern auch als illegitime Kategorien für die künstlerische Praxis und den kunsthistorischen Diskurs abzuwerten, führt nicht nur zu der von Wolfgang Ullrich in seinem Buch Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust (Berlin: Klaus Wagenbach Verlag, 2016) diagnostizierten analytischen Blindheit von Kunstkritik und Kunstwissenschaft gegenüber den hyper-kapitalistischen Phänomenen und Praktiken, die gegenwärtig die Wahrnehmung von Kunst bestimmen. Wer sich die kunsthistorischen Ambitionen von Beltracchi, Greenhalgh, van Meegeren oder Lothar Malskat mit dem Hinweis Interesse am schnöden Geldmachen vom Hals halten will, kann auch zu den erstaunlich weit verbreiteten Praktiken des Fälschens innerhalb der als legitim anerkannten Kunst wenig sagen.

Gemeint sind damit nicht künstlerische Praktiken wie Appropriation Art und Institutional Critique. Hier achten Künstler*innen, Kurator*innen und Kunstwissenschaftler*innen peinlichst darauf, dass die persiflierten, plagiierten, pastichisierten oder exakt kopierten Künstler*innen oder die Besitzer der entsprechenden Bildrechte informiert und um Zustimmung gebeten werden. Alle bewegen sich auf kunsthistorisch sicherem Gelände, niemand ist darüber im Unklaren, ob wir es hier mit Kunst- oder derivativem Machwerk zu tun haben.

Eine echte Herausforderung für das, was wir uns angewöhnt haben, als Kunst und ihre Fälschung voneinander zu trennen, scheinen mir dagegen die zahlreich belegten echten Fälscherpraktiken im Werk von Künstlern zu sein, die bereits als Genies kanonisiert wurden. Fälschungskünstler auf der Suche nach dem eigenen Platz in der Kunstgeschichte sind dann auch von den Biographien Légers, De Chiricos und anderer kanonisierter Künstler fasziniert, deren Werk teilweise aus Fälschungen besteht. Sind sie doch der Beleg, dass man mit künstlerischen Praktiken, die vom Fälschen kaum oder gar nicht zu unterscheiden sind, ein als legitim anerkannter Künstler sein kann. Vielleicht sogar ein Genie, selbst Michelangelo hat gefälscht.

Der mystisch-magische Akt der Verwandlung ungeklärter künstlerischer Praktiken in legitime Kunst vollzieht sich aber auch hier nicht dadurch, dass man ein paar Meisterwerke abliefert. Vollziehen muss ihn jemand, der als Kunstkenner und anerkannter kunsthistorischer Experte dazu autorisiert ist. Für kunsthistorisch autorisierte Texte über Kunstfälschungen stellen die Künstler, die als kanonisierte Heroen der Kunst und als dokumentierte Fälscher auf beiden Seiten der Grenzen stehen, deswegen ein Autoritätsproblem dar.

So tauchen Fernand Légers freimütige Bekenntnisse, bei akuter Mittellosigkeit Bilder im Stile anderer Künstler gemalt und verkauft zu haben, in Büchern über Kunstfälschungen meistens nur deswegen auf, weil sie für die Selbstdefinition berühmt gewordener Fälschungskünstler als eben Künstler eine wichtige Rolle spielen. Dass Léger seinen charakteristischen Stil der 20er und 30er Jahre gerade in der Auseinandersetzung mit Malern entwickelt hat, die er auch fälschte, fasziniert die Fälscher, die von Kunsthistorikern geschriebene Geschichte der Kunstfälschungen ignoriert den Zusammenhang mit Légers „echter“ Kunst.

Ein deutlich schwierigerer Fall für das kunsthistorische Grenzen-Management zwischen echter Kunst- und Machwerk stellt Giorgio de Chirico dar, der nicht andere Maler, sondern sich selbst fälschte. Ungefähr seit Anfang der 30er Jahren begann er systematisch, neben seinem aktuellen Stil, der sich immer stärker zu einer altmeisterlichen, anti-modernen und offensiv konservativen Malerei entwickelte, Bilder im Stil seiner frühen Pittura metafisica zu malen und in die entsprechenden Jahre zu datieren. Dieses Selbstplagiat war ursprünglich ökonomisch motiviert: Pittura metafiscia war zu De Chiricos Signature Style geworden. Die meisten Sammler sowie Museen wollten einen De Chirico, auf dem auf menschenleeren Plätzen oder in leeren Räumen Schneiderpuppen bedeutungsvoll herumstehen, nicht die pastos gemalten Ölschinken mit weiblichem Akt oder heroischem Reiter, die er als sein eigentliches Hauptwerk ansah. Also lieferte er – voller Verachtung für die Unfähigkeit von Kunstexperten und Sammler*innen, die Qualität seiner „wahren“ Kunst zu begreifen.

Wann De Chirico klar war, dass er mit seinen Selbstplagiaten und -fälschungen grundlegende kunsthistorische und kunstkritische Konzepte wie „künstlerisches Gesamtwerk“, „Originalität“, „Authentizität“ und „künstlerische Handschrift“ untergrub, ist schwer zu sagen. Gebremst hat ihn das nicht, im Gegenteil: Als seine Händler und einige wichtige Sammler versuchten, die Pittura metafisica-Werke aus der Zeitmaschine zu kontrollieren, wenigstens aber einigermaßen zu dokumentieren, nutzte De Chirico andere Distributionskanäle, um damit weiter Geld zu verdienen. Völlig ruinös für jedes nach etablierten kunsthistorischen Maßstäben seriöse Werkverzeichnis war es dann, dass De Chirico in den 1950er begann, Museen und Sammler darüber zu informieren, welche ihrer De Chiricos gar nicht echt seien: entweder falsch datiert, unautorisierte Version, falscher Name oder gar nicht von ihm. Ob das jeweils stimmte, weiß man bei erstaunlich vielen bis heute noch nicht. Für De Chirico-Fälscher hat der Maler damit eine ideale Situation geschaffen: der Urheber, der sich selbst als Referenz für Zu- und Abschreibungen abschafft, eröffnet anderen die Möglichkeit, sich selbst als De Chirico zu versuchen.

Kunsthistoriker*innen, die zu De Chirico arbeiten, können kaum ignorieren, dass er mit seiner künstlerischen Praxis eines der grundlegenden methodische Projekte der Kunstgeschichte seit 1800 ad absurdum führt: die Idee des individuellen künstlerischen Werkes, das sich über die Jahre entwickelt, und dann in der Rekonstruktion durch die Kunstgeschichte erst als Werk in seinen genauen Konturen sichtbar wird – mit unterschiedlichen, aufeinander aufbauenden Werkphasen, Meisterwerken, schwächeren Werken und daraus folgend dann die Einordnung in die allgemeine Kunstentwicklung. Viele Ressourcen werden trotzdem darauf verwendet, De Chirico mit einem echten, weil chronologisch richtig geordneten Œuvre zu versehen. Es scheint, als könnten vor allem Museen nicht anders. Dem  Dispositiv, in einer Abfolge von Räumen die Geschichte der Kunst als organische Entwicklung bis in die Gegenwart begehbar zu machen, entkommt man nicht so leicht. Interpret*innen, die De Chiricos fälschungskünstlerische Praxis ernst nehmen, lesen sie als strategische Interventionen gegen genau diesen Kunstbegriff, für den eine teleologisch auf die Moderne zulaufende Kunstgeschichte und ein analog konstruierte Künstlerbiographie konstitutiv sind. So wird De Chirico zu einem der Väter der Postmoderne – und die Grenze zum Fälschertum wieder ordentlich befestigt.

Trotz ihres Anspruches, Kunstfälschung systematisch zu betrachten, belassen es auch die aktuellen großen deutschsprachigen Übersichtsdarstellungen zur Geschichte und Praxis der Kunstfälschung von Henry Keazor (Täuschend echt. Eine Geschichte der Kunstfälschung, Darmstadt: Konrad Theiss Verlag, 2015) und Hubertus Butin (Kunstfälschung. Das betrügliche Objekt der Begierde, Berlin: Suhrkamp, 2020) weitgehend beim Anekdotischen: Fälschern werfen sie die Unlauterkeit ihrer Motive mit großer Emphase vor, Künstler mit großer kunstfälscherlicher Praxis wie De Chirico oder Dali werden dagegen an den Rand der Geschichte der Kunstfälschungen delegiert. Während es Wolfgang Beltracchi und Co. auf nichts weniger als die Korruption der Kunstgeschichte abgesehen haben, erscheinen die seltsamen Gepflogenheiten mancher Künstler oder ihrer Nachlass-Verwalter*innen nur als bedauerliche Verirrungen.

Gegen die Popularität von Wolfgang Beltracchi anzuschreiben, der sich mit geschickter Medienarbeit die Deutungshoheit über seine Karriere als Künstler und Kunstfälscher erarbeitet hat, scheint für beide Autoren ein zentrales Motiv zu sein: Dass es sich bei Kunstfälschungen nicht um ein Kavaliersdelikt oder eine gut bezahlte Eulenspiegelei handele, sondern um ein Verbrechen vor allem gegen den Geist der Kunst selbst (Kunstfälschung an sich stellt keinen Straftatbestand dar), soll der Leserin mit detaillierten Schilderungen der selbst schon kanonisch gewordenen großen Fälscherstories des 19. und 20. Jahrhunderts verdeutlicht werden. Was tatsächlich deutlich wird, ist die Stabilität der Strukturen im Kunstbetrieb, die es Kunstfälschern seit gut 200 Jahren ermöglichen, auch im Spitzensegment erfolgreich zu arbeiten. Kunsthändler, für die selbst eine zweifelhafte Zuschreibung an einen großen Namen geschäftlich attraktiver ist als die Rückgabe an den Verkäufer; Sammler, die vom Ehrgeiz getrieben sind, ihre Sammlung zu komplettieren und auch etwas von diesem großen Namen zu besitzen; Kunstexperten, die sich mit einem wiederentdeckten Meisterwerk selbst in die Kunstgeschichte einschreiben wollen und deswegen Warnsignale nicht erkennen. Keazor und Butin machen jeweils Vorschläge, was der Kunsthandel, die Rechteinhaber und Nachlassverwalter von Künstlernachlässen sowie Werkverzeichnis-betreuende Institutionen tun müssten, um Kunstfälschern das Geschäft schwerer zu machen. Die meisten, wie beispielsweise eine Online-Datenbank aller Objekte, deren zweifelhafte Authentizität bereits belegt ist, erscheinen so selbstverständlich, dass man sich fragt, warum sie bisher nur ansatzweise oder gar nicht umgesetzt wurden.

Eine Antwort geben Stefan Koldehoff und Tobias Timm in Kunst und Verbechen (Berlin: Galiani 2020). Die beiden True Art Crime-Experten stellen anhand konkreter Fälle die als legal, zumindest aber als legitim anerkannten Praktiken des Kunsthandels vor, die ihn für wirtschaftskriminelle Ambitionen aller Art so attraktiv machen: von der Steuerhinterziehung über die Geldwäsche bis hin zur Hehlerei von Raubgut aus Krisen- und Konfliktgebieten. Wer die Statements von Kunst- und Antiquitätenhändlern gelesen hat, die ihre Kooperation mit extrem dubiosen Geschäftspartnern aus Krisen- und Kriegsgebieten damit rechtfertigen, sie retteten so immerhin das kulturelle Erbe der Menschheit vor dem Verschwinden, dem erscheinen im Vergleich die Rechtfertigungen von Fälschungskünstlern wie Beltracchi oder Greenhalgh als naiv. Koldehoff und Timm machen auch klar, wie eng die gesellschaftliche Privilegierung von Kunst mit dem Selbstverständnis von Kunsthändlern und Sammlern zusammenhängt, für ihre Geschäfte hätten andere Gesetze und Regeln zu gelten als die sonst üblichen. Wer Kunstwerke vor allem als den herausragenden Ausdruck menschlicher Kreativität begreift, für den erscheinen sonst übliche Regeln und Normen schnell als Beschneidung genau dieser Kreativität. Über diese strukturelle Verstrickung der Kunstgeschichte und ihrer Grundbegriffe in den Prozess, der aus Ergebnissen künstlerischer Praxis die Ware “Meisterwerk” und das Branding zum “Genie” macht, hätte man bei Butin und Keazor gerne etwas gelesen. So bleiben Fälscher wie Wolfgang Beltracchi und Shaun Greenhalgh die eigentlichen Theoretiker des autonomen Kunstwerks als Grundform der Ware.

Aufmerksamen Leser*innen wird aufgefallen sein, dass ich im Text kaum inklusive Formen verwende. Das hat Gründe: Der Price Gap zwischen Künstlern und Künstlerinnen im Kunsthandel ist enorm, ganz gleich ob seit Jahrhundert tot oder zeitgenössisch. Die Zuschreibung neu aufgefundener Werke an Künstlerinnen ist daher eher selten. Zum einen weil für Werke von Malern deutlich höhere Preise erzielt werden können, zum anderen weil als qualitätvoll erkannte Objekte immer noch eher Männern zugeschrieben werden. Denn trotz Meisterinnen wie Artemisia Gentileschi, Judith Leyster oder Sofonisba Anguissola und über 40 Jahren feministischer Kunstwissenschaft ist gerade der Bereich der Disziplin Kunstgeschichte traditionell geprägt, der sich vor allem mit den richtigen Zuordnungen von Werken zu Namen beschäftigt. Das heißt: Hier gilt das Vorurteil, Frauen produzierten im besten Fall solides Handwerk, noch als Wissen. Die Meisterwerke der genannten drei Künstlerinnen beispielsweise wurden nach ihrem Tod, vor allem im 19. Jahrhundert, oft Männern zugeschrieben: ihren Vätern, Brüdern, Lehrern oder wie bei Gentileschi und Leyster an Caravaggio respektive Frans Hals. Kaum war die richtige Zuschreibung an eine Malerin etabliert, verloren die Werke nicht nur an ökonomischen Wert, sondern wurden auch von Museumskuratoren und Kunsthistorikern oft auf hintere Plätze im Kanon und ins Depot durchgereicht. Dass Gemälde von Artemisia Gentileschi in Museen heute wieder da hängen, wo sie hingehören, in den Hauptsälen neben Carravagio und Carracci, verdankt sich kunsthistorischen und kunstwissenschaftlichen Denkweisen und Ansätzen, die sich kritisch zu den traditionellen Kategorien und Methoden verhalten, die bei der wissenschaftlichen Expertise für den Kunstmarkt immer noch dominieren. Erst der Abschied von der Genie-Mystik als Paradigma künstlerischer Praxis hat es Kunstliebhaber*innen und Wissenschaftler*innen ermöglicht, die tatsächliche historische Vielfalt künstlerischer und kreativer Praktiken jenseits der “Alten Meister” wieder zu sehen.

 

 

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Macht und Maske – Die Serie ‘Watchmen’ in Zeiten des Protests

von Marcel Inhoff

 

Als Präsident Donald J. Trump ankündigte, am 19. Juni eine Wahlkampfveranstaltung in Tulsa, Oklahoma abhalten zu wollen, gab es Aufregung aus einer Vielzahl an Gründen. Der 19. Juni ist Juneteenth, ein Feiertag, an dem das Ende der Sklaverei gefeiert wird (das Wort ist zusammengesetzt aus June und Nineteenth). Ärger gab es aber auch aus einem anderen Grund: Tulsa, Oklahoma ist der Ort eines Massakers, das 1921 an der Schwarzen Bevölkerung begangen wurde. Ziel war besonders der Greenwood Bezirk von Tulsa, der auch unter den Begriff Black Wall Street bekannt war – ein Mob von weißen Bürgern, mit Waffen und Privatflugzeugen legte den wohlhabenden und aufstrebenden Stadtteil in Schutt und Asche. Über 800 Schwarze Amerikaner mussten ins Krankenhaus, und der rassistische Mob hatte am Ende mindestens 36 Menschen, wobei manche Schätzungen von bis zu 300 ausgehen, ermordet.

Das Massaker von Tulsa hatte am 31. Mai 1921 begonnen und endete am Tag darauf mit dem Einmarsch der National Guard. Genau 99 Jahre später, am 31. Mai diesen Jahres, erreichten auch die Proteste in den USA, die mit der Empörung über den Tod von George Floyd begonnen hatten, einen vorläufigen Höhepunkt. Alle Lichter im Weißen Haus wurden abgeschaltet und der Präsident flüchtete in (s)einen Bunker. Das oft fälschlicherweise Mark Twain zugeschriebene Wort von der Geschichte, die sich nicht wiederholt, aber reimt, trifft auch auf dieses Echo zu. Waren am 1. Juni 1921 Berichten zufolge auch Polizisten unter den Brandstiftern, so kann man heute sagen, wie es Jamelle Bouie in einer NYTimes Kolumne tat: „the police are rioting“. Und schon damals wurde die Polizei nicht zur Rechenschaft gezogen.

Überhaupt, schreibt Isabel Wilkerson in ihrem Buch über die Great Migration, seien riots in der Amerikanischen Geschichte meist von wütenden Weißen ausgegangen. Besonders im Norden seien die Ausschreitungen gegen Schwarze Mitbürger das Äquivalent zu  den Lynchmorden im Süden: „each a display of uncontained rage by put-upon people directed toward the scapegoats of their condition.“ Es gibt kaum eine große Stadt, die im 20. Jahrhundert nicht mindestens einen Fall einer solchen Ausschreitung von Weißen gegen ihre Schwarzen Mitbürger erlebt hat.

Die Verschränkung der aktuellen Vorwürfe gegen ein strukturell rassistisches Polizeisystem in den USA und des geschichtlichen Hintergrunds des Massakers in Tulsa finden sich in der Fernsehserie Watchmen wieder, die bereits im letzten Jahr erschien, aber in diesen Tagen von HBO aus aktuellem Anlass kostenlos zum Streamen bereit gestellt wird. Watchmen ist eine Verfilmung des gleichnamigen Comics – oder besser, eine Fortsetzung des Stoffs. Bereits 2009 brachte Zach Snyder eine Filmversion in die Kinos, in der der politische Hintergrund ausgedünnt, und die Gewalt des Buchs ästhetisch überhöht wurde. Die Fernsehserie schließt an den Comic – nicht an den Film an, erkennbar an den unterschiedlichen Enden. Damon Lindelof, der bereits verantwortlich für die Erfolgsserien Lost und The Leftovers war, hielt sich in vielen Elementen an die Vorlage, darunter auch den etwas skurrilen Humor und die surrealen Details, mit denen Alan Moore und sein Zeichner David Gibbons ihre Leser überwältigten. Der Comic endet damit, dass die Figur Adrian Veidt, einer der Watchmen, einen gigantischen Tintenfisch auf New York fallen lässt, um eine transdimensionale Bedrohung vorzutäuschen. Den dabei entstehenden Tod von Millionen nimmt Veidt, der auch den Superheldennamen Ozymandias verwendet, in Kauf, um das größere Übel, einen Atomkrieg zwischen der Sowjetunion und den USA, abzuwenden.

Der Comic spielte im Jahr 1985. Die Serie verlegt ihre Handlung ins Jahr 2019, in einer Welt, in der regelmäßig immer noch kleinere transdimensionale Tintenfische auf die Erde regnen, Ozymandias als tot gilt, und Dr. Manhattan, eine Art Superman, sich auf den Mars zurückgezogen hat. Handlungsort ist Tulsa, Oklahoma, und Hauptfigur ist eine Schwarze Polizistin, die mit Maske und Kostüm auf Verbrecherjagd geht. Maske und Kostüm? Ja – denn in Tulsa, Oklahoma muss die Polizei generell Masken tragen. Wenige Jahre, bevor die Handlung einsetzt, in der sogenannten White Night, versuchte eine Gruppe organisierter Rassisten, die sich 7th Cavalry nennen, alle Polizisten der Stadt und ihre Familien zu ermorden. 

Diese Mordtat ist das Resultat von Jahren rassistischer Frustration. Denn im Paralleluniversum von Watchmen ist nicht nur das Massaker von Tulsa öffentlich anerkannt und aufgearbeitet, sondern man hat auch  Konsequenzen daraus gezogen. Alle noch lebenden Schwarzen Angehörigen der Opfer des Massakers haben ein Anrecht auf Reparationen – wobei es sich hier nicht um systematische, wie z.B. von Ta-nehisi Coates in „The Case for Reparations“ geforderte, Reparationen handelt. Ob man ein Anrecht hat, wird mittels eines Gentests ermittelt. Diese scheinbare Bevorzugung weckt rassistische Ressentiments – wobei im Laufe der Serie deutlich wird, dass es sich hier nicht (nur) um Ressentiments wirtschaftlich benachteiligter Weißer handelt. In Wirklichkeit ziehen hinter der 7th Cavalry alteingesessene Politiker- und Polizeifamilien die Fäden, und hinter der Organisation verbirgt sich eine viel ältere rassistische Verschwörung, die auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zurückgeht. Eine Konsequenz aus der White Night ist, dass die meisten Polizisten ihre Identität verbergen, indem sie bei der täglichen Arbeit Masken tragen.

Es gibt in der Serie im Grunde drei Handlungsstränge: ein skurriler, in dem es um Ozymandias geht, der zu Beginn der Handlung auf einem Jupitermond lebt, einer, in dem es um Dr. Manhattan und seine Superkräfte geht, und die am nächsten an den Themen des Comics bleibt, nämlich die Frage nach absoluter Macht und denjenigen, die nach ihr streben. Und schließlich geht es um die Protagonistin, Angela Abar, die als Sister Night maskiert Polizeiarbeit betreibt. 

Wir sehen gleich in der ersten Folge, wie ein Rassist der 7th Cavalry einen Schwarzen Polizisten bei einem Routinestop erschießt. Daraufhin wendet die Polizei und besonders Abar, diejenigen Taktiken gegen Verdächtige an, die Sandra Beck in ihrem Essay über Police Procedurals beschrieben hat: In diesen Serien und Büchern kann „ein erfolgreicher Abschluss von Ermittlungen und ein juristischer Schuldspruch durch den Bruch verfassungsmäßig garantierter Rechte erreicht werden.“ Auch die Maskierung der Polizisten in Watchmen scheint auf den ersten Blick einen Widerhall im Bemühen der Polizei in unserer Gegenwart zu finden, ihre Identität zu verbergen. Ob es, wie zum Beispiel im Mord an Elijah McClain, die Bodycams sind, die alle gleichzeitig „abgefallen“ seien, oder ob die Dienstnummern auf der Dienstmarke abdeckt werden, oder ein Fehlen von jeglichen Markierungen und Abzeichen die Zuordnung völlig verunmöglicht – die absichtliche Intransparenz hat selten gute Vorzeichen. Es gibt zwar im in der Serie vorliegenden Fall sogenannte gute Gründe, aber der Selbstschutz der Polizei wird auch z.B. in Klagen gegen die Kennzeichnungspflicht in Deutschland angeführt, ganz ohne, dass es dafür ähnlich handfeste Gründe gäbe.

Bei genauerer Betrachtung der Serie fällt allerdings auf, dass es überhaupt nicht um Polizeiarbeit im eigentlichen Sinne geht. Im Lauf der Handlung erfahren wir, dass die 7th Cavalry nicht, wie gedacht, eine lose organisierte Gruppe armer Weißer ist, sondern vielmehr die moderne Inkarnation einer viel älteren rassistischen Verschwörung namens Cyclops, die sich weitgehend aus den Reihen der Polizei rekrutiert, und auch im Tulsa der Gegenwart stellt sich der police chief als eine führende Figur in der 7th Cavalry/Cyclops heraus. Bis auf den Routinestop in der ersten Folge der Serie sehen wir keine*n Polizist*in bei normaler Polizeiarbeit. Der Fokus liegt ausschließlich auf der Konfrontation mit der 7th Cavalry. Da es sich bei denen allerdings auch, im weitesten Sinne, um Polizist*innen handelt (wobei auch Politiker und Geschäftsleute zu den Unterstützern gehören), kann man diese Konfrontation als eine zwischen zwei Lagern in der Polizei lesen.

Die Serie unterstützt diese Lesart, indem sie parallel die Geschichte von Abars Großvater erzählt: Will Reeves ist ein Überlebender des Tulsa Massakers und mit seiner Verkleidung als Hooded Justice der erste maskierte Vigilante, der überhaupt erst die Watchmen inspirierte. Gleichzeitig ist er ein Polizist. Gleich bei seiner Vereidigung warnt ihn ein älterer Schwarzer Polizist vor der Verschwörung: „beware of the Cyclops!“ raunt er ihm zu. Schnell merkt Reeves, dass nicht alle Verbrechen gleich verfolgt werden, und dass er als Schwarzer Polizist besonders vorsichtig sein muss.

Das ist nichts, was sich die Serie ausgedacht hat – es wurde oft erforscht, wie tief verwurzelt der Rassismus in der Polizei zu Beginn des 20. Jahrhunderts war – und bis heute ist. In The Condemnation of Blackness weist der Historiker Khalil Muhammad nach, dass es, nach dem Scheitern aller Versuche, klassische Rassentheorien auf eine solide wissenschaftliche Grundlage zu stellen, Soziologen und Kriminologen waren, die in einflussreichen Studien eine neue Grundlage für den Rassismus gegen Schwarze Amerikaner schufen: der Mythos des besonders kriminellen Schwarzen. Das führte zu einer Polizei, die speziell auf die Verbrechen Schwarzer Mitmenschen achtete, dabei aber besonders Schwarze Viertel missachtete; in The Color of Law stellt Richard Rothstein zudem fest, wie die Polizei aktiv dabei mithalf, Segregation einzuführen und durchzusetzen, zum Beispiel durch willkürliche Verhaftungen all jener Schwarzer, die nicht nachweisen konnten, einem Beruf nachzugehen (18).

Das weiß Reeves alles nicht, als er sich dazu entschließt, ausgerechnet unter dem Eindruck des Tulsa Massakers, Polizist zu werden. Maßgeblich für diese Entscheidung ist ein (fiktionaler) Film namens Trust In The Law, in dem ein US Marshall namens Bass Reeves (den es wirklich gab) Verbrecher zur Strecke bringt. Der junge Will Reeves sitzt in einer Vorstellung des Films, als am Nachmittag des 31. Mais der Aufruhr auf den Strassen von Tulsa beginnt. Kaum bei der Polizei, lernt er schnell, dass er als Hooded Justice effektiver sein kann und vereitelt schließlich einen Versuch von Cyclops, einen Aufstand anzuzetteln. Obwohl er immer geglaubt habe, es sei Wut gewesen, die ihn unter der Maske angetrieben habe, war es in Wirklichkeit Angst, erklärt Will Reeves in der letzten Folge der Serie. Das ist ein Element, das neu in den Stoff eingeführt wird – ebenso wie die Tatsache, dass Hooded Justice (der auch im Comic vorkommt) Schwarz ist. Diese beiden Elemente sind miteinander verbunden. Die Angst vor rassistischen Übergriffen, die für den jungen Will Reeves in einem undefinierbaren Mob zum Ausdruck kommt, und für den erwachsenen Will in Form der Polizei selbst, wird zum bestimmenden Element der Serie.

Damit schließt sich die Serie an einen Diskurs an, der besonders in Texten der 1980er Jahre dominant war: Filme wie Running Man, Blade Runner, Escape from New York sind laut Mike Davis inspiriert von der Repression durch die LAPD und die architektonischen Reflektionen dieser Repression (City of Quartz 223). Dystopien also als Antwort auf Angst vor der Polizei der Gegenwart, die wahrgenommen wurde als „redneck army of occupation“ (Davis 271). Im Watchmen Comic wird diese Stimmung aufgenommen, aber Moore verweigert sich einer Diskussion über Rassismus; im Gegenteil nahm Moore einen Mangel an Angst wahr, den er bekämpfen wollte. Die Fernsehserie verschiebt die dargestellte Realität näher an die tatsächlich gelebten Realitäten und Ängste der 1980er Jahre. 

Auch Angela Abar maskiert sich schließlich aus Angst vor rassistischen Übergriffen, und begreift, wie ihr Großvater, nur langsam, dass der Konflikt nicht zwischen Polizei und rassistischen Terroristen verläuft, sondern mitten durch die Polizei selbst hindurch geht. Die zentrale Frage, die im Comic gestellt wird („who watches the Watchmen“), ist da Teil eines Diskurses über die Kontrollierbarkeit von Superhelden, ein Thema, das auch eine andere im letzten Jahr erschienene Comicverfilmung zum Thema hat, das von Amazon produzierte The Boys, nach dem Comic von Garth Ennis. Bei Ennis – und bei Moore – ist die geforderte Kontrolle eine Kritik an “korrupten” Eliten, in der die Polizei gar nicht mitgemeint ist. Im Gegenteil, wie in faschistischen Texten wie Frank Millers The Dark Knight Returns deutlich wird, ist der Impetus sogar einer, der der in den aktuellen Protesten geäußerten Kritik entgegenlaufen würde.

In der Watchman Serie schwingt die von Juvenal abgeleitete Frage aber eher im Hintergrund mit. Nur sind die Watchmen, die beobachtet werden müssen, am Ende vielleicht die Polizei. Diese gefühlte Inversion der Konstellation wird dadurch unterstützt, dass der Protagonist und Detektiv des Comics, ein Antiheld namens Rorschach, der beim Versuch des Aufdeckens der Machenschaften der Eliten umkommt, zum Vorbild und Helden der rassistischen 7th Cavalry Bewegung wird. Aber die Serie verweigert sich einer einfachen Antwort auf die Fragen, die sie aufwirft, und die Fragen, die im Moment auf den Strassen gestellt werden. Dazu gehört auch das Ende: der Konflikt innerhalb der Polizei wird am Ende der Serie nicht aufgelöst. Es werden zwar die Köpfe von Cyclops theatralisch hingerichtet, aber die rank-and-file Mitglieder werden nicht belangt. Bis zum Ende weiß weder der Zuschauer, noch Abar selbst, wer unter ihren Kollegen zu Cyclops gehört hat und wer nicht.

Mit diesem offenenen Ende und der offenen Frage ist die Serie anschlussfähig an die Debatte unserer Zeit, die in den USA im hashtag #defundthepolice kulminiert, und in polizeikritischen Texten wie Alex Vitale’s The End of Policing, oder in Aufsätzen wie Bennett Capers‘ „Afrofuturism, Critical Race Theory and Policing in the Year 2044“, eine theoretische Grundlage findet. Am Ende schließt die Serie den Bogen zu den Themen des Comics und stellt die Frage: Wenn es absolute Macht gibt, sollte, bzw. wer sollte sie besitzen? Und auch die Antwort darauf bleibt -wortwörtlich – in der Schwebe.

 

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Kein Aushängeschild von Leitkultur – Was Lyrik nicht kann und nicht soll

von Irina Bondas

 

Liebe Leserinnen und Leser: die Lyrik wird uns nicht retten.

Und ich meine das jetzt nicht persönlich. „Wann wenn nicht jetzt müssen wir unsere demokratischen Werte und die Kunstfreiheit verteidigen“, höre ich die letzten zehn Jahre und gefühlt schon immer auf Festivaleröffnungen und Diskussionsveranstaltungen, als bräuchte der Kulturbetrieb eine Daseinsberechtigung. Natürlich glaube ich auch, dass wir für  Demokratie und Freiheit unbedingt kämpfen müssen, aber bestimmt nicht, weil ich Lyrik lese, sondern weil ich es als zivilgesellschaftliche Verantwortung sehe und der Meinung bin, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, wie furchtbar das auch ist.

Die Kultur ist kein Pfandbrief der Zivilisation. Studien weisen keine Korrelation zwischen Analphabetismus und Wahlverhalten auf. Die Fähigkeit, Literatur zu lesen, reduziert nicht nachweislich das Risiko, rechts zu werden. Woher die Grundannahme, dass wir mit einem Bildungskanon auch Werte teilen? Dass Kunstfreiheit und Menschenwürde Hand in Hand gehen? Der Bildungsauftrag ist kein Glaubenssatz und Lyrik kein Aushängeschild von Leitkultur. Eine Person mit rechter Gesinnung kann vegan leben oder gerne Klassik hören, höflich und liebevoll sein, tierlieb, schwul und/oder gläubig, warum also keine ausgewiesene Lyrikkenner*in? Es gibt vielleicht “gute” Lyrik, aber keine “richtige”. Denn gerade die Erwartung, dass Menschen mit bestimmten Vorstellungen über die Gesellschaftsorganisation auch im individuellen ästhetischen Ausdruck bestimmte und bestimmbare Merkmale zu eigen sind, ist totalitaristisch.

Lyrik kann zum Leitmotiv gesellschaftlicher Prozesse werden, aber sie ist kein Instrument politischer Teilhabe. Der Vers hat uns noch nie befreit, die Rote Armee schon. Das macht Trotzki nicht zu einem besseren Literaten, einen, der tötet, nicht weniger zum Mörder, den Kommunismus nicht gerecht. Ganz zu schweigen davon, wie viele Diktatoren Künstler waren. Und wenn schon gescheiterte. Wer weiß, wie viele Künstler gescheiterte Diktatoren sind.

Deutschlands erfolgreichste HipHop-Künstler, wie Kollegah und dutzende andere, glauben an Kreationismus und verbreiten Verschwörungstheorien, was sich auch in der Corona-Pandemie wieder einmal gezeigt, wenn nicht gar verstärkt hat. Dabei können sie nicht unbedingt gut rappen. Aber das liegt nicht an ihren Überzeugungen. Und ihre Überzeugungen nicht an ihrem Bildungsgrad. Natürlich dient Provokation auch der Selbstinszenierung für bessere Vermarktung, aber das Publikum will es für bare Münze nehmen. Den Hunderttausenden, die sie feiern, fehlt es nicht an Zugang zu Alternativen. Und es fehlt ihnen auch nicht an Mündigkeit. Das ist eine bewusste Entscheidung. Wie jede bewusste Entscheidung für eine Form des Ausdrucks, der Kunst, der Aussage. Und wer sagt, dass es bei Lyrik ganz anders sei, muss mir erst einmal erklären, warum. Zumindest kommen wir bei Hip-Hop auf soziologisch repräsentative Zahlen.

Für die Verfasstheit der Gesellschaft gibt es das Grundgesetz, und nicht George oder Grass. „Das menschliche Gefühl ist kein Geburtsort der Gerechtigkeit”, schreibt Juli Zeh. Die Literatur ist es auch nicht. Lyrik muss nicht sagen, was gesagt werden muss. Und wenn sie es tut, muss keiner zuhören. Vielleicht brauchen Nationen eigene Dichter, aber Dichter brauchen keine Nationen. Nationaldichter sind keine Leistungsindikatoren, sie führen keine Stellvertreterkriege. Selbst wenn es ein Joseph Brodsky ist, der in seinem Gedicht Auf die Unabhängigkeit der Ukraine Alexander Puschkin gegen Taras Schewtschenko ausspielt, ist es weder politisch noch poetologisch ernst zu nehmen. Es braucht auch keine posthume Konfrontation zwischen Walter Benjamin und Ezra Pound, wie sie der Architekt Hans Kollhoff auf dem Walter-Benjamin-Platz mit einem Zitat aus Cantos über das „zinstreibende Wuchertum” beabsichtigte. Und Ezra Pound wird auch nicht weniger zum Antisemit, wenn er kurz vor seinem Tod in einem Gespräch den Judenhass als „schwersten Fehler” seines Lebens bezeichnete. Vielleicht ist der Anteil an Künstlern mit NS-Affiliation relativ gering, zumindest soweit wir es bis heute wissen. Aber Überzeugungen lassen sich nicht anhand von NSDAP-Parteikarten bestimmen. Es muss nicht als Missverständnis gerechtfertigt werden, wenn Dichter Krieg, Gewalt oder totalitäre Systeme befürworten. Gottfried Benn wird an seine Kulturpolitik im „neuen Staat“ genauso geglaubt haben wie an den Hippokratischen Eid. Und der Antifaschist Bertolt Brecht wird von den stalinistischen Säuberungen genauso gewusst haben wie von den KZs.

Die Wechselwirkung von Hochzivilisation und Unmenschlichkeit war ein zentraler Topos in George Steiners Werk, unter anderem auch der Gedanke, ob der Konsum von Kultur die Manifestation von Grausamkeit nicht auch begünstigen könne, anstatt ihr vorzubeugen. In der Nazizeit finden sich zahlreiche Beispiele für die Vereinbarkeit, die Frage nach dem Verhältnis bleibt bis heute offen. In seinem Essay Der Dichter und das Schweigen steckt Steiner das Schweigen, das Ungeschriebene ab und weist auf das gefährliche, hybride Potential des dichterischen Sprechens hin, zu dem unter barbarischen Bedingungen nur das Verstummen eine Alternative ist. Wer schweigt, wird schuldig. Wer spricht, auch.

Die Absichten zum Preis anderer Gedanken und Leben lassen sich nie ganz eindeutig bestimmen und bewerten. Bei Fragen nach Bewusstheit, Motiven und Reue steht immer der Beschuldigte im Zentrum, aber sie ändern nichts an dem verursachten Schaden, am Verbrechen selbst. Bis heute lässt sich aus der Geschichte keine Hierarchie der Handlungslegitimierung ableiten. Selbst, wenn es eine Banalität des Bösen gibt, ist das Böse nicht banal, sondern genauso vielfältig wie jede Gesellschaft, und vielleicht hatte Hannah Arendt persönliche Gründe, sich dahingehend irren zu wollen. Die Suche nach Gründen geschieht unweigerlich immer auch aus der Täterperspektive. Doch das alles hat nichts mit Lyrik zu tun. Lyrik kann eine Perspektive einnehmen, aber eine Perspektive nicht die Lyrik. Keine Bedeutung spricht für eine andere, Lyrik ist nicht statisch, Worte löschen sich nicht gegenseitig aus, ein Gedicht kann die Kraft eines anderen nicht aufheben.

Repressive Regime deformieren das Individuum, sie unterdrücken und vernichten Autoren und Publikum, deswegen der kulturelle Niedergang. Nicht, weil regimetreue Künstler minderwertig sind. Im Umkehrschluss machen Verfolgte nicht unbedingt gute Kunst und sind auch nicht zwangsläufig Menschenrechts-Apologeten oder Widerstandskämpfer. Urheber bedeutender Lyrik sind vielleicht Orakel, aber keine philanthropischen Visionäre, sie werden den Vakuumzerfall nicht vorhersehen geschweige denn aufhalten können – und ihre Leser*innen auch nicht. Von Lyrik sind keine konkreten Handlungsvorschläge zur Radikalisierungsprävention zu erwarten, genauso wenig wie von meinem Wasserkocher Währungsprognosen, obwohl er Ziffern anzeigt. Es gibt Zufälle, aber keine Zusammenhänge.

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden diskursiven Radikalisierung stellt sich die Frage nach grundsätzlichen Positionierungen zu Texten mit Positionen. Dass das Feld offen rechtsgesinnter Lyriker*innen heute relativ überschaubar ist, kann als glücklicher Umstand gesehen werden, aber bei weitem nicht als Selbstverständlichkeit. Müssen wir dann rechte Lyrik lesen? Nein, müssen wir nicht. Erst recht, wenn sie zentrale Fragen, die unsere unmittelbare Existenz betreffen, ein-deutig vorschreibt. Wenn sie in Sein und Nichtsein unterteilt. Wenn der Text keinen Widerstand aufweist, keine Reibungsfläche bietet zwischen Subjekt und Außenwelt, ist es Propaganda. Das lässt sich über jede Form radikalisierter ästhetischer Sprache sagen. Oder mit Monika Rincks MERKSATZ: „Wenn es runtergeht wie Butter, ist es vermutlich Propaganda.”

In seiner Erforschung totalitärer Sprache grenzt Michał Głowiński zwar das ästhetische Schreiben vom agitatorischen ab, doch zeigen sich auch immer wieder Überschneidungen, wie in den unheilvollen Protokollen der Weisen von Zion, einer Fälschung, die literarischen Vorbildern nachgeschrieben wurde und bis heute im kollektiven Bewusstsein Wirkung zeigt. Bemerkenswert sind bei seiner Analyse unter anderem die Merkmale der Spektrum übergreifenden Generalisierung und des Universalitätsanspruchs, der dichotomischen Spaltung und konspirativen Wahrnehmung der Welt. Aber das dichterische Wort wird nicht bedeutsamer dadurch, dass es auf der richtigen Seite steht, höchstens lauter.

Lyrik kann ein Grundbedürfnis sein, aber sie macht uns nicht zu besseren Menschen. Das müssen wir schon irgendwie anders hinkriegen. Menschlichkeit bedeutet auch Ambivalenz und Komplexität aushalten. Lyrik macht es nicht einfacher, aber erträglich. Sie bietet Raum für Fehler und Funktionsstörungen. Lyrik ist nicht binär. Gedichte sind keine Globuli. Wer heilt, hat noch lange nicht Recht.

Ich spreche von den zwischenformen der mitteilung
den zwischenstadien des gedankens
spreche von den zwischenkulturen des gefühls
Warum sollte das nicht die einzige Welt sein

heißt es in Inger Christensens in det/das in Übersetzung von Hanns Grössel. Selbst wenn es weh tut: Wenn wir von Vorannahmen ausgehen, anstatt Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, nach Ver-Antwortung zu suchen, ist der Kampf schon verloren. Wir müssen in unserer Sprache Platz machen für das persönliche Irren. Wann, wenn nicht jetzt.

 

Eine frühere Fassung des Textes war ursprünglich Bestandteil eines Pecha Kuchas im Rahmen der Lyrikkritikakademie von lyrikkritik.de und dem Haus für Poesie. Das Pecha Kucha findet man auf der Seite lyrikkritik.de.

Für die schriftliche Publikation auf 54books wurde der Text erweitert und redaktionell bearbeitet.

 

Photo by Evelyn Clement on Unsplash

Kanon-Wrestling bei den 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur #tddlKanon

von Daniel Stähr

 

Vieles war anders, vieles war neu bei den 44. (digitalen) Tagen der deutschsprachigen Literatur, aber eine Sache hat sich auch 2020 nicht verändert: Auch dieses Jahr griff die Jury in der Diskussion auf einen impliziten „Bachmannpreis-Kanon“ zurück, der die vorgetragenen Texte in einen Bezugsrahmen setzt. Nachdem Berit Glanz im letzten Jahr angeregt  hatte, diesen Kanon festzuhalten und somit abzubilden, welche Werke, Künstler*innen, Schriftsteller*innen und generell kulturellen Erzeugnisse als Referenzen verwendet werden, haben wir auch beim diesjährigen Bachmannpreis auf Twitter unter #tddlkanon die Bezüge der Juror*innen gesammelt.

Dabei bleibt eine Sache deutlich: Der #tddlkanon ist vor allem weiß und cis männlich. Ein Drittel der explizit genannten Personen waren Frauen, zwei Drittel Männer. Werden davon noch die über ein Dutzend Autor*innen und Herausgeber*innen abgezogen, die Sharon Dodua Otoo in ihrer Rede Dürfen Schwarze Blumen Malen? nannte, sieht es noch dürftiger aus.

Auffällig war auch, wie Marcel Inhoff (@sibaerisch) auf Twitter festgestellt hat, dass 2019 die Rede von Clemens Setz noch allgegenwärtig war in der Diskussion über die Texte, jene von Sharon Dodua Otoo aber von der Jury vollständig ignoriert wurde.

 

 

Bei allen Streitigkeiten innerhalb der Jury, wer denn jetzt ein konservatives Bild von Literatur(-kritik) und dem Feuilleton habe und wer nicht, kann festgehalten werden: Alle sieben Juror*innen bewegen sich in denselben, eng gesteckten Vorstellungen von relevanter Literatur und Kultur und die sind eben selbst Weiß. Das ist unter anderem der Hintergrund, vor dem die Preise verhandelt werden, ob das ausreichend oder angemessen ist, darf zumindest hinterfragt werden. Eine Abbildung der gesellschaftlich existierenden Diversität findet im Sprechen über die Texte jedenfalls nicht statt. Wie das behoben werden kann, dafür gibt Otoos Rede die Antwort. Bei der nächsten Neubesetzung der Jury könnte die gesellschaftliche Vielfalt auch in die Jury gebracht werden. Denn eins zeigt Dürfen Schwarze Blumen Malen? ganz eindeutig: Representation matters und macht einen realen Unterschied.

(Hinweise auf Korrekturen und Ergänzungen können gerne kommentiert werden, auch unter dem Hashtag #tddlkanon.)

 

Tag 1: Mittwoch, 17. Juni 2020

Autor*innen literarischer Werke:

Charles Dickens, Homer, Geoffrey Chaucer, Heinrich Böll, Bertolt Brecht, Michael Götting, Chinua Achebe, Walter Jens

Jackie Thomae, May Ayim, Olivia Wenzel, Zoe Hagen, Melanie Raabe, SchwarzRund, Noah Sow, Toni Morrison

Autor*innen nicht literarische Werke:

Achille Mbembe, Ludwig Wittgenstein

Nivedita Prasad, Chris Lange, Ika Hügel-Marshall

Politische Organisationen:

Bla*Sh, ADEFRA, ISD, Pamoja

Sonstiges:

Michel Friedman, Marcel Reich-Ranicki, Waldorf und Statler, Albert Einstein, Arnold Schönberg, Philippa Ebéné

Tag 2: Donnerstag, 18. Juni 2020

Filme & Serien:

Magische Tierwesen und wo sie zu finden sind (Hubert Winkels bezieht sich explizit auf die Filme), Der Blaue Engel, Blade Runner, Systemsprenger

Literarische Quellen und ihre Autor*innen:

Don Juan (Gedicht von Lord Byron), Manhattan Transfer (John Don Passos), Metamorphosen (Ovid), Unruhig Bleiben, Cyborg Manifesto (beide Donna Haraway), Ultraromantik (Leonhard Hieronymi), Die Letzte Welt (Christoph Ransmayr), Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus (Christine Lavant), Die Gänsemagd (Märchen)

Autor*innen literarischer Werke:

Ingeborg Bachmann, J.K. Rowling,

Franz Kafka, Arthur Schnitzler, Thomas Mann,Thomas Bernhard, Peter Handke, Hermann Hesse, Hubert Fichte oder Gottlieb Fichte (Insa Wilke und Hubert Winkels sprachen wahrscheinlich über verschiedene Fichtes als sie den Bezug aus Leonhard Hieronymis Text diskutierten, was die Verwirrung um den Ort seines Grabes erklären könnte), Hans Henny Jahnn, Mircea Dinescu

Fiktive Figuren:

Linus und Charlie Brown (Peanuts), Leila und Madschnun, Robin Hood, Medusa, Pegasus

Sonstiges:

Marlene Dietrich

Peter Sellers, Donald Tusk, Diogenes, Theodor W. Adorno, das Ü-Ei, The Last of Us (Spiel), The Who – Quadrophenia, Nora Gomringer nennt einen US-Präsidenten, der mit Hilfe von Bots eine Wahl gewonnen hat, Hubert Winkels verweist auf die Historie des Psychatrietexts beim Bachmannpreis

 

Tag 3: Freitag, 19. Juni 2020

Figuren Literarischer Werke:

Yoda (Star Wars), Scheherazade, Eulenspiegel

Literarische Quellen:

Drehtür (Katja Lange-Müller), Die Wand (Marlen Haushofer)

Karl und das 20. Jahrhundert (Rudolf Brunngraber), avenidas (Eugen Gomringer, Nora Gomringer erwähnt bei der Lesung von Levin Westermann den Admirador des Gedichts in ihrer Kritik) Peri hypsous („Über das Erhabene“, Pseudo-Longinos), Statistischer Roman (Gert Zeising)

Autor*innen literarischer Werke:

Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Arno Geiger, David Wagner, Werner Liersch, Jorge Semprún, Johann Wolfgang von Goethe, Leonhard Hieronymi und Jörg Piringer (immer wieder nutzt die Jury Verweise zu vorherigen Texten)

Katja Petrowskaja, Emily Dickinson, Natascha Wodin

Autor*innen nicht literarischer Werke:

Paul Gerhardt, Albrecht Schöne, Matthias Claudius, Erich Fromm, Meister Eckhart, Otto Neurath, Ernst Schubert, Oswald Spengler (Wiederstein nutzt das Zitat “Müde legt der Europäer das Buch aus der Hand”), Walter Benjamin

Sonstiges:

Pop-Literatur, Landschaft mit Eremit (Bild von Carl Blechen), Jesus, Maria Sibylla Merian

 

Tag 4: Samstag, 20. Juni 2020

Filme & Serien:

Lindenstraße (mit Bezug auf Else Kling), Hunde wollt ihr ewig leben

Regisseur*innen:

David Lynch, Éric Rohmer

Literarische Quellen:

Die Wand (Marlen Haushofer), Malina (Ingeborg Bachmann)

Insa Wilke bezieht sich wieder auf das Kafka-Zitat “Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns”, Die Blendung (Elias Canetti), Die Strudlhofstiege (Heimito von Doderer), Mann im Zoo (David Garnett), Meßmers Reisen (Martin Walser)

Autor*innen literarischer Werke:

Dorothee Elmiger, Lydia Haider, Teresa Präauer

Bov Bjerg, Ephraim Kishon

Autor*innen nicht literarischer Werke:

Theodor W. Adorno,

Sonstiges:

Joseph Goebbels, Paul Klee, Nicolas Sarkozy, Urs Fischer

Marina Abramović

Wiener Aktionismus, Schwarze Romantik, Nouvelle Vague, Monty Python,

Mehr als ‚nur symbolisch‘ – Statuensturz, Hashtag-Proteste und konnektives Erinnern

Von Tobias Gralke

 

Zwei Wochen ist es her, dass #Bristol in den Twitter-Trends stand. Am 7. Juni 2020 stürzten Aktivist*innen in der britischen Großstadt eine Statue des Kolonialverbrechers Edward Colston, rollten sie durch die Straßen und wuchteten sie jubelnd ins Becken des Hafens, der im 18. Jahrhundert ein wichtiger Ort des transatlantischen Handels mit versklavten Menschen und Kolonialwaren gewesen war. Bilder des Statuensturzes verbreiteten sich schnell in den Sozialen Netzwerken und machten die Aktion zu einem transnationalen Medienereignis, noch bevor sie in der journalistischen Berichterstattung auftauchte. Der Statuensturz von Bristol konkretisierte einen vor Ort bereits seit Längerem bestehenden Konflikt und fügte sich im Kontext der aktuellen #BlackLivesMatter-Proteste in eine Reihe vergleichbarer Akte in den USA, Neuseeland und Belgien ein. Auch in Deutschland ist aus einem Anliegen, das von der weißen Mehrheitsgesellschaft bislang ignoriert oder freundlich abmoderiert werden konnte, zumindest ansatzweise eine breitere Diskussion über den kritischen Umgang mit Kolonialdenkmälern geworden.

Eine wiederkehrende Frage in dieser Diskussion ist, welchen Sinn und Zweck solche symbolischen Akte überhaupt haben. ‚Symbolisch‘ wird dabei häufig abwertend gemeint, als Gegensatz zu ‚echten‘ politischen Maßnahmen, die bestehende Machtverhältnisse verändern anstatt ‚nur an der Oberfläche‘ zu kratzen. So schrieb beispielsweise Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung, die verschiedenen Denkmalstürze hätten das „Potenzial, mehr zu sein als ein reines Symbol – allerdings nur, wenn dem öffentlichen Akt auch wirkliche strukturelle Reformen folgen, die Rassismus als Problem ernst nehmen.“ Patrick Bahners unterschied auf Twitter, anders als „Denkmalstürze im Zuge einer Revolution“ seien „nachgeholte Denkmalstürze […]  bloß symbolisch revolutionäre Akte“. Und Jürgen Kaube meinte in der FAZ, es wirke “akademisch, wenn ernsthaft geglaubt wird, mit der Enthauptung von Kolumbus sei nun endlich mal ein Zeichen gesetzt. […] Man müsste […] Kulturwissenschaftler sein, um solche Taten für politisch zu halten.” Nun ja, so kompliziert ist es auch nicht.

Einerseits sind solche Bewertungen natürlich richtig: Ein verschwundenes Denkmal macht (noch) keine Revolution, beseitigt kein racial profiling, zahlt keine Reparationen. Andererseits blendet die Rede vom symbolischen Akt leicht den Kontext der Sozialen Bewegung samt umfassender Forderungen aus und verkennt die unmittelbare Wirkung, die Aktionen wie der Statuensturz von Bristol haben. Sie sind mehr als ‚nur symbolisch‘, weil sie die politische Vorstellungskraft erweitern und Diskussionen in Gang bringen, die andernfalls nur schleppend verlaufen oder gar nicht erst entstanden wären. Diese Wirkung wird verstärkt durch die Infrastruktur der Sozialen Netzwerke und die mit ihnen verbundene Möglichkeit Einzelner, an entfernten Protesten teilzuhaben, sie zu verbreiten und miteinander zu verknüpfen.

Wie wahrscheinlich viele nehme ich den Statuensturz von Bristol zuerst an einem Sonntagabend auf Twitter wahr. Ich sehe ein kurzes Video aus drei aneinander geschnittenen Sequenzen, die die Colston-Statue im Fallen, im Gerolltwerden und schließlich beim Aufschlagen auf das Wasser zeigen. Der User @joshbegley hat den Clip lakonisch überschrieben mit: „bristol in three acts“. Die Drei-Akt-Struktur verweist nicht zufällig auf das Theater: Es handelt sich um die zurechtgeschnittene Aufnahme einer kulturellen Aufführung, die sich über ihr Publikum vor Ort hinaus an eine transnationale Öffentlichkeit in den Sozialen Netzwerken richtet. Das Geschehen wird re-inszeniert und zu einer plattformgerechten Dramaturgie verdichtet, um Reaktionen wie Kommentare, Retweets und Favs hervorzurufen. Das funktioniert: Ich gucke mir das Video mehrfach an, retweete es und schaue es noch in den Folgetagen immer wieder. Ich will dabei sein, mitrollen, mitjubeln.

Gleichzeitig verstehe ich erst nach und nach, worum es in dem Video eigentlich geht. Die Bilder allein geben mir wenig Informationen darüber, was sie zeigen. Ihre Bedeutung erschließt sich erst im Kontext weiterer Videos und ergänzender Paratexte. Unter dem Hashtag #Bristol finden sich Smartphone-Aufnahmen von Aktivist*innen und Schaulustigen, journalistisches Bildmaterial und diverse euphorische bis wütende Bezugnahmen. Ich sehe den Statuensturz aus verschiedenen Perspektiven, sehe Demonstrierende auf dem gefallenen Edward Colston tanzen, sehe andere Hashtags, mit denen das Ereignis eingeordnet und verknüpft wird: #ColstonHasFallen, #Slavery, #GeorgeFloyd, #BlackLivesMatter.

Die Fülle der Bilder und die Art ihrer Verbreitung hat viel mit der veränderten Struktur von Protestbewegungen im digitalen Zeitalter zu tun. Die Politikwissenschaftler*innen W. Lance Bennett und Alexandra Segerberg haben bereits 2013 beschrieben, wie sich die Organisation und das Auftreten Sozialer Bewegungen durch die digitale Vernetzung wandeln. Der klassischen kollektiven Aktionslogik – d.h. hierarchisch und straff organisiert, mit verbindlichen gemeinsamen Zielen und Symbolen – stellen Bennett/Segerberg den Begriff des konnektiven Handelns („Connective Action“) zur Seite. Dieser umfasst verschiedene Formen der personalisierten Teilnahme an Protesten, die sich dadurch herausbilden, dass Einzelakteur*innen zwar in einem gemeinsamen Rahmen (z.B. #BlackLivesMatter, #OccupyWallStreet oder #metoo) lose miteinander vernetzt sind, sie sich diesen aber aneignen können und so mit individuellen Deutungen, Inszenierungen, Auftritten das Erscheinungsbild und Handlungsrepertoire einer Bewegung pluralisieren.[1] Paradigmatisch für diese Organisationsform, zwischen virtueller Gemeinschaft und Entgrenzung (bis hin zum Kontrollverlust), steht der Hashtag – als digitales Tool wie als Symbol der Vernetzung, das auch darum ein elementarer Bestandteil vieler Bewegungsnamen geworden ist.

Hashtag-Proteste bringen temporäre Teil- und Gegenöffentlichkeiten hervor und schaffen so ein kreatives, partizipatorisches Umfeld, in dem zirkulierende Bilder ständig bearbeitet und mit neuen Bedeutungen und Kontexten versehen werden können. Für den Statuensturz von Bristol und vergleichbare Ereignisse heißt das, dass es sich nicht nur um ikonoklastische Zerstörungsakte handelt, sondern um schöpferische Prozesse, die neue, wirkmächtige Bilder hervorbringen: Die Bilder des fallenden Edward Colston dürften für viele die ersten dieser Statue gewesen sein. Sie stehen neben Bildern einer geköpften und einer vom Sockel gerissenen Kolumbus-Statue, neben einem mit Staatsgewalt und Kran entthronten König Leopold II., neben Schwarzen Tänzer*innen auf dem besprühten Reiterstandbild des Konföderierten-Generals Robert E. Lee. Sie verwandeln sich in ein Twitter-Meme, in einen popkulturellen Joke auf TikTok, in von Enya besungene Zeitgeschichte, eine Grafik auf Banksys Instagram-Profil. Sie ziehen andere, absurde Bilder nach sich, wie den verpackten Winston Churchill und eine Gruppe von Sympathisanten beim Versuch, die Colston-Statue aus dem Hafenwasser zu bergen.

Die Medienwissenschaftlerin Kathrin Fahlenbrach bezeichnet Bilder wie den Statuensturz von Bristol darum als Netz-Ikonen: Bilder mit hoher Symbolkraft und emotionaler Wirkmächtigkeit, die in vielfältigen Praktiken des Teilens und Bearbeitens immer wieder re-inszeniert und mit neuen Bedeutungen versehen werden, die in konnektiven Aushandlungsprozessen kanonisiert werden und das Potential besitzen, in ein kollektives Bildgedächtnis auch jenseits der Sozialen Netzwerke überzugehen.[2] Netz-Ikonen (als Phänomene konnektiven Protesthandelns) sind damit eng verknüpft mit einer Praxis, die der Erinnerungsforscher Andrew Hoskins als konnektive Erinnerung bezeichnet. Diese zeichnet sich, im Gegensatz zur offiziellen, auf Einheitlichkeit bedachten, monumentalisierenden Erinnerung an ein Ereignis, durch Multi-Perspektivität, potentielle Widersprüchlichkeit und Veränderbarkeit aus. Konnektives Erinnern bedeutet also, dass die Frage, was auf welche Weise von einem Ereignis in Erinnerung bleibt, nicht endgültig und einheitlich – zum Beispiel in Form eines offiziellen Berichts oder eines Denkmals – beantwortet werden kann, sondern in Interaktionen zwischen Erinnernden immer wieder neu verhandelt wird.[3]

Konnektives Erinnern hat wiederum viel mit der Frage zu tun, was die aktuell kursierenden Bilder der Statuenstürze und #BlackLivesMatter-Proteste für den Umgang mit dem deutschen Kolonialerbe bedeuten. Denn die Bilder aus Bristol, Minneapolis, Boston und Antwerpen haben einen kommunikativen Raum aufgesprengt, in dem deutsche Kolonialdenkmäler und „Erinnerungsorte“[4] nicht nur in Frage gestellt, sondern teilweise überhaupt erst ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Es werden Twitter-Threads mit abrisswürdigen Denkmälern erstellt, Listen von Bismarck-Statuen geteilt, und die Aufmerksamkeit auf antisemitische Kirchenreliefe und das Berliner Humboldt-Forum erweitert. Teilweise gibt es Bewegungen gegen kolonialrassistische Erinnerungsorte und Straßennamen – wie die Berliner M*-Straße – schon seit vielen Jahren. Aber derzeit werden sie in einem postkolonialen Gesamtzusammenhang mit erhöhter Aufmerksamkeit bedacht.

Die deutschen Kolonialdenkmäler – das kann in diesem Zusammenhang nochmal betont werden – waren nie nur Aufbewahrungsorte für Erinnerungen, sondern von ihren Anfängen in der revisionistischen Bewegung über die Instrumentalisierung im NS-Staat bis hin zu ersten Statuenstürzen im Zuge der 68er-Bewegung, Orte der aktiven Auseinandersetzung und Geschichtsdeutung.[5] Der Umgang mit diesen Denkmälern war und ist immer eine Form des praktischen, zeitgebundenen Erinnerns gewesen. Jetzt, wo die Puzzleteile des deutschen Kolonialerbes ihrer Verstreutheit in Kleinstädten, Wäldern und Museumsarchiven entrissen und digital zusammengeführt werden, fällt auf, wie omnipräsent und gleichzeitig unbewusst, wie unzeitgemäß und gewaltvoll eine offizielle Geschichtsschreibung ist, die den deutschen Kolonialismus seit Jahrzehnten aus Sicht heroisierter Täter*innen erzählt.

Vielleicht erklärt sich aus dieser historischen Perspektive auch der teilweise überdrehte (wenn auch erwartbare) Ton der aktuellen Diskussion. So twitterte die WELT-Autorin Birgit Kelle: „Wenn es in dem Tempo weiter geht, sind bis Montag auch Mutter Teresa, Bono und Jesus dran. Ich bin sicher, es finden sich Gründe. Da draußen ist ein Mob unterwegs, es wird Zeit, endlich Ordnung herzustellen, statt in die Knie zu gehen.“ Das ist natürlich selbst für WELT-Verhältnisse – der ein im Deutschlandfunk gefallener Verweis auf den Rassismus Immanuel Kants zu einem anhaltenden Wutausbruch reichte – blanker Unsinn (wenn es in diesem Tempo weitergeht, steht bald ein Zaun ums Axel-Springer-Haus). Es erzählt aber viel über die sehr realen Ängste, die die ikonischen Bilder der Statuenstürze im reaktionären Bürger*innentum wecken. Während sich die PoschardtKelleHeisterhagens der Nation nicht entscheiden können, ob sie es nun mit hypersensiblen ‚Schneeflöckchen‘ oder gemeingefährlichen Kulturrevolutionär*innen zu tun haben, hat sich über die Sozialen Netzwerke hinaus ein zaghaftes Bewusstsein dafür entwickelt, dass auch in Stein und Metall gegossene Erinnerung nicht absolut sein muss. Und während die eingeübten Reaktions- und Empörungsmuster („Cancel Culture!!!1!1!!“) in dieser Situation noch weniger greifen als sonst, könnte tatsächlich erstmals eine breitere Diskussion darüber entstehen, welchen Umgang dieses Land mit seinem kolonialen Erbe zu entwickeln bereit ist.

Gleichzeitig sollten die Erwartungen an diese Diskussion nicht allzu hoch sein. Denn sie werden bereits jetzt eingesetzt, um spürbare Konsequenzen ins Ungefähre zu verschieben. So ließ sich etwa Kulturstaatsministerin Monika Grütters mit der Aussage zitieren, einem „Bildersturm“ müsse eine gesellschaftliche Debatte vorangehen. Mit „rabiaten Spontanaktionen“ würde der Eindruck erweckt, eine inhaltliche Auseinandersetzung verhindern zu wollen. Von der irreführenden Reminiszenz an die Entfernung von Heiligenstatuen und Kirchenschmuck, von der dadurch evozierten Vorstellung fanatischer Mobs und puritanischer Schreckensherrschaft einmal abgesehen: Wie ohne entsprechende Denkanstöße eine breite, produktive und differenzierte Debatte zustande kommen soll in einem Land, das erstmal klären muss, ob es strukturellen Rassismus überhaupt gibt, das konnte bislang niemand überzeugend darlegen. Der jüngste Wiederaufbau der eigenen Vergangenheit als preußisches Disneyland mit einem vergoldeten Kreuz macht dahingehend ebenso wenig Hoffnung wie die geplante Untertunnelung des Mahnmals zur Erinnerung an die im Nationalsozialismus ermordeten Rom*nja und Sinti*zze. Tatsächlich wird eine Diskussion über das deutsche Kolonialerbe ja von Organisationen Schwarzer Deutscher seit Jahren gefordert. Erst durch die #BlackLivesMatter-Proteste in den USA und den Statuensturz von Bristol scheint sie aber in Gang gekommen zu sein.

Proteste wirken also. Die entscheidende Frage ist aber – im Kontext der aktuellen Proteste genau wie überhaupt im Umgang mit Protestbildern in der digitalen Öffentlichkeit: Welchen Anliegen schenken wir Aufmerksamkeit? Welche nehmen wir ernst, welchen gestehen wir das Recht zu, als politisch verstanden zu werden, welche beziehen wir auf uns? Wie und woran oder mit wem wollen wir uns erinnern?

Die Sozialen Netzwerke bieten ein mediales Umfeld für die aktive Auseinandersetzung mit marginalisierten Perspektiven und Deutungsweisen, für das Lernen über die postkoloniale Gegenwart. Sie bieten auch ein mediales Umfeld, in dem neue, netzikonische Bilder entstehen und neue Erinnerungspraktiken eingeübt werden können. Und sie schaffen so Denk- und Kommunikationsräume, plötzliche Dynamiken, die das radikal und dabei lang überfällige Neue möglich erscheinen lassen. Aber die Frage, die bei Hashtag-Protesten immer mitschwingt, ist, ob und wann sich diese kommunikativen Dynamiken auch in konkreteren Aktionen niederschlagen. Dabei sind die Ideen, die zur Umgestaltung deutscher Kolonialdenkmäler derzeit im Umlauf sind, den Bildpraktiken der Sozialen Netzwerke gar nicht unähnlich.

Der Historiker Jürgen Zimmerer schlägt zum Beispiel vor, Kolonialdenkmäler nicht einfach abzureißen, sondern so umzugestalten, dass sie radikal mit Sehgewohnheiten brechen: „Man könnte den Colston, man könnte einen Wissmann, man könnte sie alle ja zum Beispiel liegend hinstellen, man könnte sie auf den Kopf stellen, man könnte sie einfach in ein Ensemble einbetten, das eigentlich die kolonialen Verbrechen und den kolonialen Rassismus thematisiert und damit im Grunde auf diese Geschichte verweist, auf die unser Wohlstand in Europa ja zu nicht geringem Teil eigentlich beruht.“ Auch die Initiative Berlin Postkolonial fordert eine Umgestaltung kolonialer Denkmäler, die über einen Komplettabriss oder eine bloße Tafel hinausgeht. Auf Twitter kursieren Beispiele dafür, wie ein solcher Umgang aussehen kann.

Wann also überträgt sich die in den Sozialen Netzwerken entfachte Fantasie auf die Straße? Wann entstehen auch hierzulande Bilder, die zu Netz-Ikonen zu werden? Wann stehen #MStraße, #Bismarck, #BadLauterberg in den Trends? In Deutschland wird der Vorschlaghammer bislang ‚nur‘ rhetorisch geschwungen. Kürzlich flogen aufs Hamburger Bismarck-Denkmal immerhin ein paar Farbbeutel. In Berlin-Zehlendorf wurde eine rassistische Statue enthauptet. Bekennen wollte sich zu den Taten bisher niemand. Aber mal sehen, was noch passiert. Der Staatsschutz ermittelt.

[1] Bennett, W. Lance, Segerberg, A. (2013): The Logic of Connective Action. Digital Media and the Personalization of Contentious Politics. New York: Cambridge University Press.

[2] Vgl. Fahlenbrach, K. (2019): Fotografie als Protestmedium. Expressive Foto-Praktiken im Online-Aktivismus. Fotogeschichte 154, 35-40.

[3] Vgl. Hoskins, A. (2011): 7/7 and connective memory: Interactional trajectories of remembering in

post-scarcity culture. Memory Studies, 4(3), 269-280.

[4] Zimmerer, J. (Hrsg.) (2013): Kein Platz an der Sonne: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

[5] Speitkamp, W. (2013): Kolonialdenkmäler. In: Zimmerer (Hrsg.), Kein Platz an der Sonne, 409-423.