Autor: Team

Das Team von 54books: wenn sie nicht die Literaturkritik retten - wer dann?

Chronik: November 2020

Die Chronik ist in den ersten zwei Wochen exklusiv für unsere Abonnent*innen und wird dann freigeschaltet. Alle anderen Texte sind frei verfügbar. Hier kann man ab 2,50 ein Abo abschließen.

 

Der Monat beginnt mit einer Klage. Leere Ränge, leerer Stream bei der Verleihung des Büchnerpreises an Elke Erb, vermeldete die FAZ. Mit einer gewissen Strenge wurden dort die geringen Zuschauerzahlen des Livestreams durchgegeben. War wohl doch nichts mit der Digitalisierung von Events? Ähnliche Klagen hörte man dann zum Open Mike, wo wohl auch nicht die Massen strömten. Allerdings kann man sich da fragen, ob die Erwartungshaltung gerechtfertigt ist, eine Veranstaltung, die man einfach nur digitalisiert, müsste dann sofort ein großes Publikum ziehen. Für jede analoge Veranstaltung muss man ja auch erst einmal Aufmerksamkeit erzeugen. Und eine altehrwürdige Veranstaltung wie der Büchnerpreis kann sich bei der Gelegenheit vielleicht einmal eingestehen, dass die vollen Ränge mehr mit der habitusfördernden Anwesenheit zu tun hat, als mit tatsächlichem inhaltlichen Interesse. Jedenfalls droht hier eine self fullfilling prohecy: Erst behandelt man digitale Formate stiefmütterlich, was die Öffentlichkeitsarbeit und das Veranstaltungsdesign angeht und dann nimmt man den Mangel an Zuschauer*innen als Beweis dafür, dass sie nicht funktionieren.

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Die kreative Kraft, die hinter der Idee steckt, Personen des öffentlichen Lebens in teils absurde fiktionale Geschichten zu verstricken, hat schon zu zahlreichen beeindruckenden Fan Fictions geführt. Kein Wunder also, dass auch Noch-US-Präsident Donald Trump und Bald-US-Präsident Joe Biden in der fiktiven Welt durch eine lange Bekanntschaft verbunden sind, die sich von einer Rivalität in Kindheitstagen an entwickelte, durch gemeinsame Liebesnächte geprägt war und schließlich im Kampf um die Präsidentschaft endet. “The ‘enemies to friends to lovers’ trope is a trope that I enjoy, ” sagt der 17-jährige Autor, in dessen Story sich auch ein amouröser Subplot zwischen Mike Pence und Barack Obama findet. Interessant ist vor allem, dass sich diese Art der fiktionalen Gegenwartsverarbeitung dafür eignen kann, mit den eigenen Ängsten angesichts der politischen Zukunft umzugehen: “It’s just a fun way to make it so that I can stay involved in what’s happening, without worrying myself too much.”

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Ein neues Genre plagt den Diskurs: Die Klage darüber, dass auch kulturelle Institutionen von den Coronamaßnahmen betroffen sind. Ist Kunst denn nicht auch Lebensmittel? Ist sie nicht auch systemrelevant? Warum dürfen ____ (Hier etwas einsetzen, was dem Bildungsbürger egal ist) aufbleiben, aber nicht die Theater? Diese eigentümliche Selbstheroisierung erreichte ihren hyperbolischen Höhepunkt in der letzten Woche, als eine Aufruf für mehr staatliche Hilfe für Künstler*innen in Bayern allen ernstes mit “AutorInnen sterben einen leisen Tod” überschrieben wurde. Da kann man sich nur wünschen, dass es noch ein wenig leiser geht. Was hinter dieser Klage, die angesichts täglich erschreckender Infektions- und Todeszahlen ziemlich tone deaf und eitel wirkt, steht, plaudert Carsten Brosda, Hamburger Senator für Kultur und Medien, in diesem ellenlangen Artikel in der Zeit mehr oder weniger aus Versehen aus. Er kann nämlich nicht verstehen, warum das hochkulturelle Leben eingeschränkt werden soll, während Gottesdienste weiter erlaubt seien. Kunst ist dem Bürgertum Religion. So kann man auch den Präsenzfetisch erklären, der aus Theater und Kinos ein säkulares Gotteshaus machen möchte, in dem man auch erscheinen muss, um an der Heiligkeit des Ritus zu partizipieren.

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Was wir gerade lesen? Zum Beispiel das neue Buch von Adrian Daub: What Tech calls Thinking (Seit Mitte November auch auf Deutsch). Warum? Unter anderem wegen Sätze wie diesem: “Disruption is newness for people who are scared of genuine newness.” So elegant und kurzweilig wurde schon lange nicht mehr die heiße Luft aus einer aufgeblasenen Ideologie wie dem Techmessianismus gelassen.

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Ein weiteres feuilletonistisches Format, von dem wir in Zukunft noch viel weniger sehen wollen, ist das arbiträre Befragen von Autor*innen zu irgendeinem Thema. Ein gutes Beispiel dafür ist diese Sammlung von tiefsinnigen Einschätzungen zu den neuen Coronamaßnahmen (“Shutdown”). Dazu dürfen sich berühmte Epidemiolog*innen und Politikwissenschaftler*innen wie Thea Dorn, Juli Zeh und Eugen Ruge äußern, die dazu vor allem das sehr deutsche Selbstvertrauen von Autor*innen legitimiert, Experten für alles zu sein. Ruge etwa kommt mit gar nicht mal so unterschwelligem DDR-Vergleich daher, und vielleicht ist das gemeint, wenn er schreibt, “ dass der gesellschaftliche Konsens immer neu und unter Schmerzen ausgehandelt werden muss”. Die Schmerzen, das können wir bestätigen, sind da – es fehlt allerdings noch der Konsens. Und warum müssen wir dann auch noch die grämliche Kulturkritik von Daniel Barenboim lesen, der uns mit solchen Aperçus beglückt: “Der Geist leidet natürlich schon längere Zeit, es gibt ein großes Diminuendo in der Bildung.” Immerhin hat uns der Folgende krachende Selbstwiderspruch aus derselben Wortmeldung ziemlich amüsiert: “Weil so viele Politiker so wenig davon verstehen, keine Bildung haben, sagen sie, Musik sei elitär, aber das stimmt nicht.” Und vielleicht ist das die eigentliche Funktion dieses feuilletonistischen Formats, dass möglichst viele Künstler*innen mit möglichst seltsamen Wortmeldung für allgemeine Erheiterung sorgen.

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Essays, die man diesen Monat (auf Englisch) lesen kann:

1. Was treibt eigentlich die “Free Britney” Kampagne?

2. Was haben Jeopardy! und Wikipedia miteinander zu tun?

3. Welche Rolle spielt Venture Capital für den Geniemythos der Tech Bubble?

4. Warum sind Archive wichtig und was passiert, wenn man sie nicht respektiert?

5. Wie passiert, wenn die Sex Toy Industry und Tech-Ideologie aufeinandertreffen? 

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Der Cornelsen-Verlag besetzt einen Platz in der Liste der fünfzig umsatzstärksten Verlage der Welt und hatte im Jahr 2018 einen Umsatz von 254 Millionen Euro. Das scheint aber kein Hindernis dafür zu sein, bei Honorarverhandlungen einen, sagen wir, interessanten Verhandlungsstil zu pflegen. Das Greifswalder Magazin Katapult hat sich dagegen öffentlich gewehrt und der Cornelsen-Verlag hat sich mittlerweile entschuldigt. Was spricht eigentlich dagegen auch bei Schulbüchern die Vergabe von öffentlichen Mitteln an faire Honorare für die Urheber*innen zu binden, wird auf Twitter gefragt. Der dortige Verweis, dass die Universitätsbibliotheken bereits gezeigt haben, wie sich staatliche Institutionen erfolgreich gegen Verlage wehren können, gibt zumindest Anregung auch im Schulbuchbereich darüber nachzudenken, welche Unternehmenspraktiken mit öffentlichen Geldern finanziert werden sollten. 

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Die Debatte über die Verteilung von Geldern im Literatur- und Kulturbetrieb ist auch an anderer Stelle im vergangenen Monat immer wieder hochgekocht. Besonders über die Vergabe von Mitteln aus dem Pandemie-Sofortprogramm “Neustart Kultur” wird diskutiert. Die Stiftung Kulturfonds hat beispielsweise von ihren Mitteln für Künstler*innen mit Sorgeverpflichtung überproportional viele Männer begünstigt (“Sie waren zufrieden, bis sie die dezidiert misogyne Jury-Entscheidung zur Kenntnis nehmen mussten – hatten die Bewerbungen von Frauen für das Stipendium doch 60 Prozent betragen, die dann disproportional mit nur 45 Prozent positiven Bescheiden beantwortet wurden.” schreibt die taz). Die Vergabe von Mitteln im Bereich der Literatur wurde bereits im Juli kritisiert, damals wurde das Programm im Bereich der bildenden Kunst noch als beispielhaft genannt – die problematische Vergabepraxis der Jury dürfte diese initiale Freude ad absurdum geführt haben. Im Bereich der Literatur hat der Literaturfonds beschlossen Gelder an ehemalige Stipendiat*innen verteilt. Das Netzwerk freie Literaturszene Berlin kritisierte schon im Sommer: “Statt der Auszahlung kleiner Honorare, die in Summe gerade ein Prozent der gesamten Fördersumme ausmachen, an eine Vorauswahl ehemaliger Stipendiat*innen des Deutschen Literaturfonds für die Erstellung von Lesungsvideos (was den Eindruck erweckt, nur die eigene  Klientel zu bedienen), fordern wir eine deutliche Mittelaufstockung für flexible, unbürokratische Überbrückungsstipendien an Autor*innen, aber auch an andere literarische Akteur*innen.Mittlerweile sind diese mit Mitteln des Literaturfonds finanzierten Videos (pro Video gab es 500€ für 100 Autor*innen) auf Youtube mit dem Titel “Hundert Autoren präsentieren ihre Arbeit im Internet” veröffentlicht worden. Man kann sich über die Qualität der hundert Aufnahmen also selbst einen Eindruck verschaffen (und so vielleicht auch zur Resonanz beitragen, die bei vielen der Videos noch nicht mal im höheren zweistelligen Bereich liegt).

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Geld, nämlich bis zu 220 Millionen Euro, möchte die Bundesregierung für den Erhalt der Medienvielfalt und -verbreitung in Deutschland ausgeben und damit den Journalismus und darin tätige Medienschaffende stärken. Das funktioniert in Zeiten wie diesen laut Internet am besten, wenn man Geld ins Internet steckt. Da unsere Leser*innen diesen Text bereits im WWW lesen können, benötigen wir offensichtlich keine Unterstützung. Das Geld soll daher voraussichtlich erstmal an diejenigen fließen, die das Internet verschlafen haben; anders ausgedrückt in die „Förderung der digitalen Transformation des Verlagswesens“. Dass es die Digitalisierung schon lange gibt bzw. schon lange davon geredet wird, weiß auch der medienpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Martin Rabanus. “Wir haben das irgendwie alle gemerkt, dass unsere Gesellschaft zwar seit 25 Jahren von Digitalisierung redet, aber erst seit drei Monaten auch einen Schub bekommt.“ Wie das aber so ist mit den Schüben, sie kommen und gehen, daher war irgendwie nicht so richtig klar, wann der Schub mit dem Geld kommt und an wen er geht. Das aktuelle Konzept des Wirtschaftsministerium sieht erstmal vor, dass das entscheidende Kriterium die Auflage der gedruckten Zeitungen oder Zeitschriften ist. Margit Stumpp, die medienpolitische Sprecherin der Grünen, kritisiert das deutlich, denn damit “wird nichts für den Journalismus und die Medienschaffenden getan. Sie spielen darin keine Rolle. Hauptsächliches Kriterium der Förderhöhe ist die Auflagenhöhe. Die größten Verlage erhalten das meiste Geld. Das stärkt die Medienvielfalt nicht, das schwächt sie und damit relevantes Element unserer Demokratie.”

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Gegen die Umsetzung des Konzepts wendet sich auch ein Appell des “Arbeitskreises Digitale Publisher”, den wir ebenfalls unterzeichnet haben. Und an dieser Stelle natürlich auch: wenn ihr 220 Mio Euro über habt, könnt ihr diese gerne per Paypal an uns schicken oder ihr schließt eine sehr lange Steady Mitgliedschaft ab.

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Anfang November rief Herbert Grönemeyer die wohlhabendsten Deutschen dazu auf, die in der Corona-Krise darbende Kulturszene finanziell zu unterstützen. Eine “zweimalige Sonderzahlung von zum Beispiel 50.000 bis 150.000€” von den ungefähr 1,8 Mio. deutschen Millionär*innen visierte Grönemeyer an und rechnete sich damit ca. 200 Milliarden Euro für Künstler*innen und andere kulturell arbeitende Menschen aus. Manch einer könnte da nicht zu unrecht auf den Gedanken kommen, dass das im Prinzip die lang geforderte Vermögenssteuer ist und dass es dafür eigentlich keine wohltätige Geste von reichen Menschen brauchen sollte. Prinzipiell gut ist die Idee im Ansatz aber dennoch. Problematisch erscheint jedoch die These, “ein Land ohne die so unmittelbare Livekultur” würde “den Raum für Verblödung, krude und verrohende Theorien” öffnen. Nichts gegen ein paar Zehntausend, die 2002 “Telefon, Gas, Elektrik, unbezahlt und das geht auch” gegröhlt haben, aber wir wollen nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass einige von denen heute nicht auch für Verschwörungsideologien demonstrieren. 

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Diese Woche tobte der erste Teil der Veranstaltung “Vom Unbehagen in der Fiktion”, das von einer einer Gruppe von Literaturhäusern veranstaltet wurde. Die drei Veranstaltungen mit Gästen wie Hanna Engelmeier, Deniz Utlu, Christian Baron, Isabelle Lehn, Lena Gorelik und vielen mehr (auch die 54books-Redaktion war beteiligt) kann man sich hier anschauen.

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Unsere Erwähnung der “Causa Maron” im letzten Monat war eigentlich schon zu viel. Zu laut und zum Teil quatschig erhitzt wurde diese Debatte geführt. Nicht unerwähnt soll trotzdem das Bonmot von Hoffmann und Campe-Verleger Tim Jung bleiben, der ebenfalls, ob der “sehr umfangreichen Berichterstattung in den Feuilletons zum Verlagswechsel und über die Personalie Monika Maron in den letzten Tagen bzw. Wochen” spürte, dass “der Ruf nach einem Gespräch über Literatur immer stärker wird.” Auf ein Interview (engl. Gespräch) wollte er deshalb, aber verzichten. Weniger kryptisch, sondern schlicht falsch sprach dann noch die zu HoCa gecancelte Autorin selbst davon, dass Hoffmann und Campe einer der wenigen Verlage in Deutschland sei, “die konzernunabhängig geführt werden.” Das ist natürlich nicht nur, angesichts einer riesigen Indieverlagsszene, Blödsinn, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass HoCa zur Ganske Gruppe mit 1.500 Mitarbeitern (2007) und einem Umsatz von 270 Mio Euro (2007) gehört. Ebenfalls unabhängig nach dieser Logik u. a. Random House und Holtzbrinck.

 

Chronik: Oktober 2020

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Erst jetzt haben wir erfahren, dass Chuck Tingle, der Doyen der Porno Parodie, schon im Juni ein neues Werk vorgelegt hat, das den vielversprechenden Titel Trans Wizard Harriet Porber And The Bad Boy Parasaurolophus trägt. Und das scheint uns eine Nachricht zu sein, von der wir in diesen Zeiten eigentlich viel mehr gebrauchen könnten. Wie überhaupt das Genre der Erotica mal wieder viel früher als alle anderen der wichtigen Pflicht von Literatur, uns Trost zu spenden, nachkommt – und sei es auch nur durch das Kichern über Geschichten, in denen Menschen Sex mit dem Virus haben. Und apropos Sex und Harry Potter: Hier ein vorbildliches Stück Kulturjournalismus über das Phänomen der “Snape Wives”, die eine eigene Untergruppe des Harry-Potter-Fandoms bilden und Energie vor allem in die Vorstellung steckt, wie es wäre mit dem offenbar falsch verstandenen Severus Snape verheiratet zu sein.

 

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Über einen neuen Fall des Geschichtenklaus berichtet die Süddeutsche Zeitung. Die Journalistin Hélène Devynck wirft ihrem Ex-Mann, dem französische Schriftsteller Emmanuel Carrères, vor, er habe in seinem neuen Buch “Yoga” gegen ihren Willen über sie geschrieben. Das ist nun nicht sonderlich schockiernd, denn solche Konflikte (Gern im Paket “Mann packt gegen Frau aus, aber es ist ja Literatur”) gehören zur Folklore des Literaturbetriebs. In diesem Fall scheint es aber eine regelrechte juristische Vorabsprache gegeben zu haben. “Devynck wirft ihrem Ex-Mann in der Vanity Fair vor, eine vertragliche Vereinbarung mit ihr gebrochen zu haben.” Man habe bei der Trennung vereinbart, dass er nie wieder über sie schreiben dürfe. Wir fragen uns: Kündigt sich hier eine neue Begleiterscheinung moderner Liebesgeschichten und ihres Scheiterns an? Muss im Zeitalter der Autofiktion in jeden Ehevertrag vielleicht eine Nicht-Narrativierungsklausel eingefügt werden, um zu verhindern, dass der ehemalige Ehepartner zum literarischen Paparazzo des eigenen Lebens wird?

 

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Wir haben den Trailer des Films “Enfant Terrible” über das Leben von Rainer Werner Fassbinder gesehen, und wie sollen wir das vornehm ausdrücken: It looks like shit. Es reicht wohl nicht zu zeigen, dass Fassbinder offenbar vor allem ein tyrannischer Regisseur mit Geniekomplex war, nein, man muss auch alles aus der Klischeekiste ziehen, was der Mythos deutscher Autorenfilm hergibt. Da darf Oliver Masucci als Fassbinder Sätze sagen wie “Alles ist Film, alles” und auf Vorbild Godard verweisen. Der scheiße nämlich auf Regeln und mache, was er will. Rebell, yeah. So geht es weiter mit dem Heraufbeschwören der Authentizität, was immer das heißen mag, außer, dass gesoffen, geraucht und Frauen vor der Kamera geschlagen werden, weil das halt Film sei. Wir sagen das nicht gerne, aber vermutlich würde es sich mehr lohnen, noch mal einen Fassbinder-Film zu schauen.  

 

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Eine kleine Gruppe von Menschen und ein König vergeben, wie jedes Jahr, einen Literaturpreis, und nachdem sich dieser Preis in den letzten Jahren endgültig als ziemlich üble Scherzveranstaltung entlarvt hat, bleibt uns eigentlich nur der Hinweis darauf, dass die Lyrikerin Louise Glück wohl nicht unverdient das schöne Geld einstreichen kann. Nicht verdient allerdings hat sie die Glosse, die in der Süddeutschen Zeitung zu diesem Anlass erschien, und in der die beiden Autoren eine Menge Spaß auf Kosten der Tatsache hatten, dass sie die Autorin vorher nicht kannten. Nicht Stockholm hatte in diesem Fall “den Feuilletons eine Nase” gedreht, sondern das Feuilleton sich selbst. Denn wenn man sich nicht grundsätzlich von Jubiläen, Preisen, Todestagen etc. vor sich hertreiben lassen würde, dann hätte man auch kein Problem damit, einmal etwas kurz zu recherchieren. Die Menschen können auch mal ein paar Tage auf ihre kulturellen Einordnungen warten.  

 

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Wem gehört eine Geschichte – das ist eine Frage, bei der es meistens auch um Geld geht. In dieser sehr interessanten Geschichte in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wird erzählt, wie die Drehbuchautorin Anika Decker die Produktionsfirma von Til Schweiger verklagt, weil sie angemessen am Gewinn des Films Keinohrhasen beteiligt werden möchte. Mittlerweile hat Anika Decker übrigens einen ersten wichtigen Sieg errungen: Sie darf “die Unterlagen und Abrechnungen einsehen, aus denen hervorgeht, wie viel die beiden Filme in ihren verschiedenen Auswertungen eingenommen haben.

 

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Die Frankfurter Buchmesse musste dieses Jahr weitgehend ohne die Präsenz von wahlweise alkoholisiert marodierender oder verkatert schleichernder Literaturbetriebler:innen auskommen. Die allgemeine Trauer und Sehnsucht nach diesem Zustand bestimmte für ein paar Tage die Feuilletons. Hier wurde sie allerdings durch einen Lästerabend auf Zoom kompensiert. 54books kann an dieser Stelle nur sagen: Auch wir haben es vermisst.

 

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Es gab schon lustigere Jahre als 2020. Till Raether erzählt uns daher schon jetzt, was ihm in diesem Jahr so Freude gemacht hat.

 

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In der SZ reden (unabhängig voneinander) die Illustratorin und Zeichnerin Rotraut Susanne Berner und der Comiczeichner Felix Görman alias Flix über Geld. Beide berichten über die schlechten Konditionen im Betrieb. Zwar hat Berner inzwischen keine Probleme mehr mit den Konditionen. “Aber ich höre oft von jungen Illustratoren, die praktisch umsonst arbeiten, um gedruckt zu werden. Ich verstehe das, aber es ist eine Katastrophe.” Von dem Geld das als Rinnsal beim Illustrator ankommt, berichtet auch Flix: “Wenn man nur den Vorschuss sieht, dürfte man ein Comicprojekt gar nicht anfassen. Der liegt in der Regel zwischen 4000 und 6000 Euro. Davon kann ich zwei bis drei Monate leben, ich brauche für ein Buch aber ein Jahr, wenn es gut läuft. Wie sich das dann verkauft, weiß aber niemand. Damit kann ich also auch nicht wirklich rechnen.”

 

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Landauf landab war man sich einig, dass der Vorgang um Monika Maron und den S. Fischer Verlag nicht nur das Prädikat berichtenswert, sondern sogar besonders berichtenswert verdient. Keine Spur von der, noch während der Messe von Felix Stephan in der SZ beschriebenen, “ohrenbetäubenden Stille” im Betrieb: Von taz bis Welt, über MDR und ARD wird ausgerechnet, ob “Sarrazin + Tellkamp = Maron?” ergibt (Augsburger Allgemeine). Dabei hat sich doch nur ein Verlag von einer “Corona-Rebellin” (Nordkurier) losgesagt. Oder getrennt? Oder wurde sie gefeuert? 

In der Zeit zumindest geht Iris Radisch von einem “herzenskalten Akt” gegenüber Maron aus. Auch sie bemüht eingangs Rechenspiele (Stand jetzt: 39 Jahre, 19 Bücher, nächstes Jahr: 80. Geburtstag der Autorin, aber kein 40. Verlagsjahr und kein 20. Buch), um sich dann – wie viele andere – erstaunlich zu verzetteln. Zwar berichtet sie, dass Fischer lediglich keine weiteren Bücher von M.M. verlegen, die alten aber gerne halten möchte, verweist aber im folgenden Satz direkt auf den staatlichen Zensor der DDR, der (höchst mittelbar) Maron erst zu Fischer brachte. Der Vergleich, der zumindest räumlich im Text sehr auffällig ist, von staatlicher Zensur mit Vertragsfreiheit ist recht weit hergeholt. 

Dabei ist es für Radisch kein Argument, dass der neue Rechtsdrall von Maron durchaus für einige Unternehmen Anlass genug sein kann, keine weiteren Bücher mit dieser zu verlegen. Dass Fischer wiederum nicht heiß darauf ist, mit Kubitschek und Konsorten in einen Topf geworfen zu werden, lässt sie gelten und nimmt auch der Maron die Beteuerungen, sie hätte nicht gewusst, mit wem sie sich da eingelassen habe, nicht ab. Trotzdem sei “es nie eine gute Idee, Bücher nicht zu verlegen.” Was mindestens zweifelhaft ist. Bei dem Großteil der laut Statista im letzten Jahr über 70.000 veröffentlichten Bücher wäre es sicher eine gute Idee gewesen, diese nicht zu verlegen. Hier raunt es aber wieder im Subtext: Zensur, Zensur, DDR in Frankfurt (Main). Die “unverhältnismäßige Hartherzigkeit” bestand nun also einzig darin, das nächste Buch nicht zu verlegen. Der bereits angekündigte Essay Band wird laut Fischer auf Wunsch der Autorin nicht erscheinen. Unverhältnismäßiger Hartherzigkeit zieh mich heute morgen auch der Bäcker, da ich nur eines statt zweier Brote erwarb, gefolgt vom Kioskbesitzer, der mir übelnahm als Nichtraucher nicht doch eine Stange Zigaretten bei ihm gekauft zu haben. Auf dem Nachhause weg traf ich Thea Dorn. Die murmelte etwas von einem “fatalen Einschüchterungssignal” gegenüber Bäcker und Kioskbesitzer und zischte mir “moralisches Reinheitsgebot” hinterher. 

Radischs Konklusio jedenfalls lautet, dass die Verjüngung des leitenden Personals in Verlagen dazu führe, dass eine “Geschäftsmäßigkeit ohne Traditionsgefühl” in die Häuser einzöge. Maron hätte man nicht vor die Tür setzen, sondern mit ihr streiten sollen. 

Möglicherweise war Fischer aber einfach des Streitens müde, denn mit rechten Phrasen (“Der Islam gehört nicht zu Deutschland”, “Politiker müssen Muslimen ihre Grenzen aufzeigen”) macht Maron schon länger auf sich aufmerksam. Das ist zuletzt aber eine Zeitspanne, die in Radischs Rechnung gar nicht auftauchte: Seit Marons erstem “Der Islam gehört nicht zu Deutschland” im Tagesspiegel, sind ziemlich genau 10 Jahre vergangen. Diese Äußerungen gehören somit bei Maron schon zur Tradition, aber die will man ja bei Fischer nicht mehr.

 

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Ein weiterer großer Krach entzündete sich an einem Artikel des Musikkritikers Helmut Mauró in der Süddeutsche Zeitung. Dort fiel er mit der Hitze eines offenbar langglimmenden Ressentiments über den Pianisten Igor Levit her, dem er unter dem Vorwand, sein Legato tadeln zu wollen, unterstellte, sein politisches Engagement gegen rechte Gewalt sei selbst gewaltvoll. Das richtete sich vor allem gegen Levits Aktivitäten auf Twitter, eine Plattform, vor der Mauró mächtig Angst zu haben scheint, denn da etabliere sich ein “diffuses Weltgericht”. Wie gut, dass es mutig kleine Organe wie die SZ gibt, die als medialer David gegen diesen Goliath antreten kann… Der Artikel löste einen Sturm der Empörung aus, was wohl auch die Intention gewesen sein dürfte. Allerdings kann man sich aufmerksamkeitsökonomisch verzocken, und dann wird aus der Erhofften “Debatte” ein handfester Skandal, und man muss sich am Ende entschuldigen. Dem Text wurde plausibel vorgeworfen, er bediene antisemitische Tendenzen und betreibe, in Begriffen wie “Opferanspruchsideologie” eine ziemlich üble Täter/Opfer-Umkehr. Allerdings fanden sich natürlich auch Stimmen, denen es gar nicht gefiel, dass die SZ sich entschuldigt hatte. In einem Zeit-Artikel hieß es unter anderem: “Wer sich nicht dauernd im Netz tummelt, könnte es mit der Angst zu tun kriegen. Vor der Gnadenlosigkeit der Reflexe und vor Argumenten, die partout kein Gras mehr wachsen sehen wollen.” Es gehört zu den seltsamen Zeichen der Zeit, dass für einen Text, der maximal polemisch und hämisch auftritt, plötzlich Gnade eingefordert wird, wenn er in der Netzöffentlichkeit zur Verantwortung gezogen wird. Gnadenlosigkeit scheint offenbar immer noch ein Privileg zu sein.

 

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Twitter ist der Ort, wo die Gegenwart in ihrer ganzen Gegenwärtigkeit erzählt wird. Seit Mitte Oktober tobt auf Twitter auf dem Account von @gschnubbel die fiktionale, aber erschütternd lebensechte Saga um die Freundschaft von Carmen und Eva, zwei Mütter aus dem Prenzlauer Berg. Der Konflikt entzündete sich daran, dass Carmen den Kindern Weizenmehl gegeben hat. Wer wissen möchte, wie es weiterging, kann das hier nachhören.

 

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Ein ziemlich herrlicher Aufreger entfachte sich kurz und mit der Energie eines digitalen Vulkans an einem Artikel in der Zeit, wo die Erbin eines großen Vermögens, die sich nun in vagen Aktionismus für allerlei gute Zwecke einsetzen möchte, im Stil journalistischer Fanfiction porträtiert wurde. Als dann auf Twitter ein paar Menschen ihrem Missmut über diese Konstellation Ausdruck verliehen, erschien die Erbin prompt selbst, um ihren Kritiker*innen in einem, sagen wir mal, nicht gerade altruistischen Tonfall zu widersprechen. Wir können nur empfehlen, dieses Drama in einem Akt selbst nachzurecherchieren. Überhaupt hatten reiche Menschen keinen allzu würdevollen Monat. Kim Kardashian etwa erregte durch Bilder von einer kleinen aber feinen Feier auf einer privaten Insel (alle waren getestet) den Spott der Netzöffentlichkeit und inspirierte ein ganzes Meme. Dann wurde auch noch bekannt, dass eines der Geburtstagsgeschenke ein absolut gruseliges Hologram ihres 2003 verstorbenen Vaters war. Vielleicht bewegt sich die Postmoderne doch langsam auf den Strudel des absoluten Nichts zu. Wir sind gespannt.

 

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Sean Connery ist gestorben und wir haben noch mehr schlechte Nachrichten, nämlich, dass er diese monströsen Dinge in einem Interview von 1965 gesagt hat. Das ist betrüblich, aber nur halb überraschend. Immerhin ist die Figur, mit der Connery berühmt geworden ist, ein misogyner Predator. Aber vielleicht könnte das mal ein Anlass dafür sein, darüber nachzudenken, ob es bei der berühmten Trennung von Künstler und Werk, die ja dieser Tage überall eingefordert wird, nicht helfen würde, wenn man wenigstens den Menschen, die unsere Figuren verkörpern, nicht ständig ein Mikro unter die Nase halten würde. Wenn uns die Person hinter dem Werk nicht zu interessieren hat, dann sollte sie vielleicht einfach den Mund halten und sich wie ein Mensch benehmen. (Oder halt so).

Kulturkonsum 4/20

In der Rubrik “Kulturkonsum” stellen wir einmal im Monat gemeinsam mit ausgewählten Beiträger*innen in Kurzrezensionen vor, was wir in den letzten Wochen gelesen, gehört, gespielt oder geschaut haben. Ein Versuch in den dichten Wald aus Literatur, Musik, Filmen, Serien und Spielen eine kleine Schneise aus Empfehlungen und Warnungen zu schlagen.

(Die Empfehlungen von Sebastian Restorff und Leonardo Chiaramonte gehen auf die Initiative des Literaturwissenschaftlers und Mediävisten Stefan Seeber von der Universität Freiburg zurück, der seine Studierenden bat, in Kurzrezensionen von Lektüre zu berichten, die nicht in erster Linie mit dem Studium zusammenhängt.)

 

Marie Isabel Matthews-Schlinzig (@whatisaletter)

Es ist ein Buch, das dich nicht loslässt. Das nachhallt in Kopf und Gefühl. Das du gleich noch einmal lesen möchtest, sobald du die Lektüre beendet hast: Bernardine Evaristos Girl, Woman, Other (Booker Prize, 2019).

Anhand der miteinander verwobenen Einzelgeschichten vornehmlich von Frauen of Colour entfaltet die Autorin ein eindrückliches Panorama weiblicher Existenz im Großbritannien des 20. und 21. Jahrhunderts. Alter, Herkunft, soziale Stellung und Lebensort der Figuren sind breit gestreut, reichen von der lesbischen Theaterautorin, die nach Jahren des kompromisslosen Arbeitens im Londoner Establishment ankommt, bis zur greisen Farmerin an der Grenze zu Schottland, deren Kinder sich der dunklen Hautfarbe vor allem des Vaters schämen.

Während die grundsätzliche Architektur des Buchs nicht neu ist, sind es Girl, Woman, Other: WINNER OF THE BOOKER PRIZE 2019 (English ...die Sprache und Dichte der Inhalte, mit denen Evaristo erstere füllt, schon. Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung prägen den Alltag und das Verhalten ihrer Hauptfiguren. Die innerhalb dieses Rahmens behandelten Themen sind zu zahlreich, um sie alle aufzuführen. Neben sexueller und psychologischer Gewalt gehören die Suche nach der eigenen, eigentlichen Geschlechtsidentität, postnatale Depression, das Ringen um sozialen Aufstieg, das Dasein als Einwander:in sowie multiple, gesellschaftlich vermittelte Einhegungen weiblicher Identität dazu.

Manchmal quietscht die Prosa etwas unter der Last dieser Fülle, erscheinen Figuren eher als Sprachrohre von Information, denn als lebendige Charaktere. Das bleibt jedoch die Ausnahme. Unter anderem, weil Evaristos Darstellung nie schematisiert oder beschönigt. Keine:r ist frei von Eitelkeiten, Vorurteilen, Fehleinschätzungen. Nicht alle Unterschiede oder Brüche individueller Lebensgeschichten und -wirklichkeiten lassen sich überwinden.

Aber sie lassen sich erzählen, und das tut Evaristo meisterhaft in einer formal innovativen, lyrisch rhythmisierten Sprache: Ihre Sätze sind nicht durch Großschreibung und Punkt gekennzeichnet, sondern durch Zeileneinzug und -umbruch; mancher Satz zieht sich in Gedichtform über mehrere Zeilen. Bemerkungen am Absatzende dienen der Pointierung. In kurzen, aufeinanderfolgenden Absätzen wird so Zeit gerafft – oder gedehnt. Sprachliche Eigenheiten der Figuren (Akzent, historischer Sprachgebrauch etc.) webt die Autorin mit leichter Hand in den alles vereinenden Erzählton ein.

Diese Form orchestriert die Dringlichkeit und Emotionalität der verhandelten Inhalte. Das Private wird bei Evaristo immer wieder greifbar als das Politische – und umgekehrt. Girl, Woman, Other sind viele, viele Leser:innen zu wünschen. Bleibt zu hoffen, dass sich ein deutscher Verlag und ein:e Übersetzer:in (bzw. ein Übersetzer:innenteam) finden, die sich dieses großartigen Texts annehmen.

 

Simon Sahner (@samsonshirne)

In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass es im Moment eine ganze Reihe von Autorinnen aus Großbritannien und Irland gibt, die in etwas, das man als moderne Konversationsromane bezeichnen könnte, über das Alltagsleben von insbesondere jungen Frauen in ihren Zwanzigern und frühen Dreißigern schreiben. Vor wenigen Jahren war Sally Rooney damit eine große Sensation, inzwischen würde ich in die gleiche Reihe auch Olivia Sudjic (auf deren neuen Roman im Februar 2020 ich sehr gespannt bin), Naoise Dolan und Candice Carty-Williams einordnen. Insbesondere Dolans Exciting Times und Carty-Williams Queenie möchte ich heute vorstellen.

Dolan erzählt von der jungen Irin Ava, die in Hongkong an einer Schule Exciting Times: A Novel (English Edition) eBook: Dolan, Naoise ...den Kindern reicher Eltern Englisch beibringt. Sie lernt den englischen Banker Julian kennen und beginnt eine Affäre, die geprägt ist von gegenseitiger Abhängigkeit, Anziehung, Verachtung, aber auch von gegenseitigem Verständnis zweier Expats. Spannend wird der Roman jedoch erst als Edith, eine junge Hongkongerin, auftaucht und Ava auch mit ihr eine Affäre beginnt.

Carty-Williams Queenie lese ich gerade erst, würde ich aber auch schon hier aufnehmen. Weil ich glaube, dass hier gerade eine Art literarische Strömung entsteht, zu der auch dieser Roman gehört. Carty-Williams’ titelgebende Protagonistin Queenie ist eine junge Schwarze Britin, die in London lebt, sich gerade in einer Beziehungspause mit ihrem Freund Tom befindet und sich durch Job, Freundschaften, Affären und Wohnungen schlägt.

Das Interessante an diesen beiden Romanen – wie auch an Sally Rooneys Queenie: Longlisted for the Women's Prize for Fiction 2020 ...und Olivia Sudjics – ist die Darstellung junger Menschen, vor allem Frauen, in ihren sozialen Gefügen, ihrem Beruf und ihrem Liebesleben insbesondere durch Dialoge. In allen diesen Roman wird permanent kommuniziert, sei es im direkten Gespräch oder im Messengerchat oder per Mail. Nicht nur dadurch sind diese Romane in ihrer Darstellung des Lebens von Millenials im mehr oder weniger akademischen Umfeld sehr nahe an der Realität. Gleichzeitig ist eines der großen Themen dieser Geschichten die Aushandlung von Macht und Sexualität. Geschrieben während einer Zeit, in der das Bewusstsein für dieses Thema in der Vordergrund getreten ist, sind die Texte damit auch die literarische Ausformung einer alltäglichen Auseinandersetzung mit Sex, Macht und Beziehung unter dem Einfluss gesellschaftlicher Debatten, ohne diese direkt zu benennen.

Wer also Sally Rooneys Romane Normal People und Conversations with Friends mochte, der*die ist mit Naoise Dolan Exciting Times und Candice Carty-Williams Queenie gut bedient.

 

Sebastian Restorff

Zur Abwechslung habe ich mich jetzt, da mehr Zeit als genug ist, um der Routine des Germanistik-Studiums zu entgehen, an ein brandneues Buch gewagt: Auf Erden sind wir kurz grandios, ein Roman von Ocean Vuong. Der Autor hat bisher Lyrik verfasst, es handelt sich hier folglich um sein erstes Prosawerk. Allerdings – und an dieser Stelle möchte ich die These einer Dozentin aufgreifen, dass „Lyrik die komprimierteste Form von Sprache ist“ – liest sich auch sein Debütroman wie ein fast dreihundertseitiges Gedicht. Jeder Satz hat Bedeutung – jeder Satz regt zum Nachdenken an. Eben wie ein gutes Gedicht sein sollte.

Auf Erden sind wir kurz grandios - Bücher - Hanser LiteraturverlageDer Inhalt besteht aus Briefen, die der Erzähler seiner Mutter schreibt. Dabei vereint er fragmentarisch in Gedankenfetzen und Erinnerungssequenzen seine eigene mit der tragischen Lebensgeschichte seiner vietnamesischen Familie, die den Vietnamkrieg überlebte und dann nach Amerika floh. So steht auf der einen Seite seine alles andere als leichte Beziehung zur kriegstraumatisierten Mutter, die tagtäglich im Nagelstudio bis zum Umfallen arbeiten muss, im Vordergrund. Dadurch erhält man Einblicke in ein Schicksal, welches die meisten vietnamesischen Immigranten teilen: Ein neuer Einwanderer wird innerhalb von zwei Jahren begreifen, dass das Nagelstudio letztlich ein Ort ist, wo Träume zu dem Wissen verkalken, was es bedeutet, in amerikanischen Leibern – mit oder ohne Staatsbürgerschaft – wach zu sein: schmerzhaft, toxisch, unterbezahlt (S. 92). Ebenso geht es um eine innige, schonungslos und daher besonders nachfühlbar beschriebene Liebesbeziehung des Erzählers zu einem amerikanischen Jungen, der seine Homosexualität zuerst nicht mit seiner amerikanischen Identität vereinbaren kann; um jugendlichen Drogenmissbrauch in dem Armenviertel Connecticuts, wo der Erzähler mit Mutter und Großmutter aufwuchs; um die alltägliche Präsenz von Gewalt. Und um den Versuch des Erzählers, sich selbst zwischen alldem zu finden.

Der Roman hat mich durch Vuongs ganz eigene Sprache und seine ganz eigene Traurigkeit in den Bann gezogen.

 

Leonardo Chiaramonte

Robert Gwisdek hat mit dem Unsichtbaren Apfel keinen gewöhnlichen Coming-of-Age Roman geschrieben. Zwar lässt er sich diesem Genre auf der oberflächlichen Ebene zu ordnen, doch liegt der Unterschied darin, dass der Protagonist – Igor – sich hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt, sich mit sich selbst beschäftigen muss, damit sein Kopf nicht explodiert. Der unsichtbare Apfel: Roman von [Robert Gwisdek]Der Roman beschreibt nur ausschnitthaft das reale Leben. Diese Ausschnitte zeigen Schicksalsschläge, aber auch Igors Veranlagung, nicht mit der Welt klar zu kommen. Er stellt fragen an das Universum, doch dieses antwortet ihm leider nicht. Er merkt, dass alle „Erwachsenen“ nicht ruhig ihr Leben leben, weil ihnen die Antworten mit dem Alter in den Schoß gefallen sind, sondern weil sie sich mit den stummen Fragen abgefunden haben und nicht mehr neugierig sind. Als Igor das erkennt, rastet er aus und begibt sich auf eine Reise in sein Innerstes, um mit sich und dem Universum Frieden zu schließen.

Gwisdeks Schreibstil ist ungewöhnlich, abgehackt und die Sätze scheinen manchmal keinen Sinn zu ergeben, nur wer weiterliest und es schafft die in den Raum gestellten Aussagen in Zusammenhang zu stellen, der wird aus dem Roman etwas gewinnen. Gwisdek ist unter seinem Musiker-Alias „Käptn Peng“ für seine psychedelisch angehauchten Texte bekannt, die sich in dem Roman ebenfalls widerspiegeln. Diese erfrischend ungewöhnliche Art zu schreiben zieht einen in den Bann und ist wichtig, um in diese Welt aus Realitätsverzerrung und Illusion einzutauchen.

 

Kulturkonsum 3/20

In der Rubrik “Kulturkonsum” stellen wir einmal im Monat gemeinsam mit ausgewählten Beiträger*innen in Kurzrezensionen vor, was wir in den letzten Wochen gelesen, gehört, gespielt oder geschaut haben. Ein Versuch in den dichten Wald aus Literatur, Musik, Filmen, Serien und Spielen eine kleine Schneise aus Empfehlungen und Warnungen zu schlagen.

(Die Empfehlungen von Anna Jurgan und Eyüp Ertan gehen auf die Initiative des Literaturwissenschaftlers und Mediävisten Stefan Seeber von der Universität Freiburg zurück, der seine Studierenden bat, in Kurzrezensionen von Lektüre zu berichten, die nicht in erster Linie mit dem Studium zusammenhängt.)

Simon Sahner (@samsonshirne)

Gerade weil viele Menschen dieser Tage aus guten Gründen immer noch nicht viel unternehmen und vor allem zuhause sind, sollte man sich ja im besten Fall dennoch manchmal draußen bewegen. Ich habe mir deshalb in den letzten Wochen auferlegt, möglichst einmal am Tag für ein oder zwei Stunden spazieren zu gehen. Neben der Bewegung und der frischen Luft hat das den Vorteil, dass ich dabei sehr viele Podcasts höre, zwei (beide englischsprachig) davon möchte ich empfehlen. 

Der neunteilige Podcast Dolly Parton’s America (WNYC Studios) widmet sich in Form von Interviews, Reportagesequenzen und essayistischen Analysen dem Leben und Werk der amerikanischen Country-Ikone Dolly Dolly Parton's America : NPRParton. Ausgehend von der Beobachtung des Podcast-Autors Jad Abumrad, dass sich in der Fangemeinde von Dolly Parton über viele ethnische, politische und soziale Grenzen hinweg ein Großteil der amerikanischen Gesellschaft wiederfindet, folgen die einzelnen Episoden Karrierephasen der Sängerin oder beleuchten einzelne Aspekte des Phänomens Dolly Parton. Es handelt sich hierbei um ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man anhand eines sehr spezifischen Themas viel über größere gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge erzählen kann, wenn man es versteht, die Anknüpfungspunkte zu finden und zu nutzen. Wer sich für amerikanische Kultur, Musik und Gesellschaft interessiert, wird hier auf seine*ihre Kosten kommen. 

Um amerikanische Geschichte geht es auch in dem New-York-Times-Podcast 1619. Die Zahl steht für das Jahr, in dem zum ersten Mal ein Schiff Nordamerika erreichte, mit dem Menschen vom afrikanischen Kontinent1619 (Podcast) - The New York Times | Listen Notes als Sklaven transportiert wurden. Die Autorin Nikole Hannah-Jones erzählt in sechs Folgen auch mit Blick auf die eigene Familie von der Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten und verfolgt ihre Nachwirkungen bis in die Gegenwartsgesellschaft der USA. Deutlich wird dabei vor allem, wie stark die amerikanische Kultur und das gesellschaftliche Zusammenleben in den USA bis heute von den Erfahrungen und Folgen der Sklaverei geprägt sind. Besonders hervorzuheben ist meines Erachtens die Episode über die Musik der schwarzen Bevölkerung und ihre Wirkung auf die gesamte musikalische Kultur. 

Beide Podcasts sind unter anderem auf Spotify und iTunes verfügbar. 

Anna Jurgan

Ich habe den Roman Der Sprung von Simone Lappert gerne gelesen. An keiner Stelle war mir langweilig, die Grundidee sprach mich an, und die Hauptfiguren mit ihren teils überraschenden Eigenheiten fand ich überwiegend interessant. Aber trotzdem habe ich mich nicht in dieses Buch verliebt. Nun ist das natürlich ein fieser Maßstab, mit dem man vermutlich an keinen Roman herangehen sollte. Warum diese überhöhte Erwartung?

Der Sprung eBook: Lappert, Simone: Amazon.de: Kindle-ShopVielleicht wegen des Konzepts des Buches: Es stellt dar, wie sich ein Ereignis (der Sprung einer jungen Frau von einem Hausdach) auf zehn mehr oder weniger miteinander in Verbindung stehende Figuren auswirkt. Dieser Aufbau erinnerte mich an Unterleuten von Juli Zeh, The Casual Vacancy von J.K. Rowling und ein wenig auch an Tolstois Anna Karenina. Alle drei Bücher haben mich nachhaltig beeindruckt und meine Erwartungen vermutlich deutlich geprägt. Ich finde es spannend, einen Konflikt aus verschiedenen Innenperspektiven präsentiert zu bekommen, und miterleben zu dürfen, wie sich die Figuren im Verlauf des Konflikts entwickeln. Aber um eine solche Entwicklung erzählen zu können, ist wohl einiges an Zeit (und ganz konkret an Seiten) nötig. The Casual Vacancy ist mit 576 Seiten noch das dünnste der drei genannten Bücher; Anna Karenina bringt es auch noch in der knappsten deutschen Übersetzung auf über tausend Seiten.

Dagegen ist Der Sprung rein physisch ein echtes Leichtgewicht. Das hat klare Vorzüge: die Handlung ist hier auf Schlüsselmomente in dem Leben der Figuren beschränkt und kommt ohne eine langwierige Herleitung dieser aus, was zum Lesen zunächst sehr dankbar ist. Diese Schlüsselmomente erlauben dem*r Leser*in einen tiefen Einblick in das Erleben der jeweiligen Charaktere. Eine kleine Weile dürfen wir zu Gast in den Figurenköpfen sein. Nur bleibt es eben auch – und das ist vielleicht die Kehrseite dieses kondensierten Verfahrens – bei einer kleinen Weile. Für ein allmähliches Entdecken zusätzlicher Facetten, die nochmal ein anderes Licht auf die Figuren werfen könnten, bleibt dabei eher wenig Raum. Vielleicht ist das ein Grund, weshalb ich Den Sprung mit Spaß gelesen habe, aber doch nicht restlos begeistert bin.  

Magda Birkmann (@magdarine)

Ich widme mich seit einigen Jahren sehr intensiv dem Projekt #frauenlesen, insbesondere dem Nachspüren von in der Mainstream-Literaturgeschichtsschreibung unterschätzten oder ganz übersehenen Autorinnen. Wann und wo ich zum ersten Mal von Tillie Olsens Silences Silences: Amazon.co.uk: Tillie Olsen: 9781558614413: Booksgehört habe, kann ich gar nicht mehr genau rekonstruieren, auf jeden Fall stand es schon eine ganze Weile ungelesen bei mir im Regal. Inspiriert von den zahlreichen Tweets und Artikeln schreibender Mütter, die seit Wochen an der enormen Mehrfachbelastung aus Kinderbetreuung, Homeschooling und Lohnarbeit verzweifeln, habe ich mir diesen leider inzwischen vergriffenen feministischen Klassiker nun endlich einmal näher angeschaut.

Olsen untersucht darin anhand von zahlreichen Briefen, Tagebüchern und sonstigen Selbstzeugnissen von Autor*innen die individuellen Lebensumstände und gesellschaftlichen Verhältnisse, die dazu führen, dass Menschen ihr kreatives Potenzial und Talent nicht nutzen (können), so dass vor allem die literarischen Stimmen von Frauen, von Menschen aus der Arbeiter*innenklasse und von People of Color zum Verstummen gebracht wurden und werden. Obwohl das Buch auf zwei Vorträgen beruht, die Tillie Olsen 1962 und 1971 hielt, ist es leider immer noch erschreckend aktuell. Olsen schreibt dabei nicht als beobachtende Außenstehende, sondern als talentierte Schriftstellerin, die all die von ihr beschriebenen Einschränkungen und Hindernisse am eigenen Leib erfahren hat. Als berufstätige Mutter von vier Kindern und politische Aktivistin ohne Universitätsausbildung konnte auch sie ihr Leben lang nur wenig Zeit, Energie und gedanklichen Raum für ihr eigenes literarisches Schaffen freischaufeln, so dass wir Leser*innen uns neben Silences mit einem kurzen Erzählungsband und einem Roman von ihr begnügen müssen. Letzteren lese ich gerade, aber ganz langsam, weil ich noch nicht bereit dafür bin, bald nichts Neues von dieser großartigen Autorin mehr entdecken zu können. 

Tillie Olsens berühmte und vielfach anthologisierte Kurzgeschichte I Stand Here Ironing kann man übrigens hier im englischen Original lesen.

Eyüp Ertan

Eigentlich hatte ich meinen Marokko-Urlaub anders geplant; ich hatte einen Freund besuchen und mit ihm entspannte Tage in der Hauptstadt Rabat verbringen wollen. Durch Corona wurde die Zeit, die als Entspannung vorgesehen war, zum täglichen Krisenmanagement – ans Lesen war nicht zu denken. Überstürzt musste ich den letztmöglichen Flug aus Marokko nach Deutschland nehmen; am Flughafen in Marrakech boten Der Garten Eden: Amazon.de: Hemingway, Ernest, Schmitz, Werner: Büchersich mir zwei Optionen: Entweder durch die verzweifelten Menschen um mich herum, deren Flüge gestrichen wurde, verrückt werden – oder mich abschotten und Hemingways Garten Eden lesen. Ich habe mich für letzteres entschieden und auch deshalb das gut 300 Seiten dicke Buch in einem Rutsch durch gehabt. Hemingway nimmt die Leser*innen in Der Garten Eden mit in den Urlaub, nach Spanien und in den Süden Frankreichs. Die eigentlich idyllischen Flitterwochen zwischen David und seiner Frau sind schnell nicht mehr so glückselig und ruhig wie zu Beginn. Psychospielchen, die Frage nach dem eigenen Dasein und jene nach der sexuellen Orientierung sorgen für zunehmende Irritationen und Reibungen zwischen den Protagonist*innen. All das wird beschrieben im ruhigen, sachlichen und nüchternen Ton Hemingways – die Kombination aus Inhalt und Stil trägt ihr Übriges zum Leseerlebnis bei.

Tilman Winterling (@fiftyfourbooks)

Vor (ziemlich genau) zwei Jahren war ich in Peru und Bolivien. Im Zuge der Vorbereitung stieß ich im Reiseführer auf die Geschichte des Sendero Luminoso, des Leuchtenden Pfades. Die Organisation entstand Ende der 1960er Jahre aus einer Studentenbewegung an der Universität in Ayacucho angeführt von dem Philosophie Professor Abimael Guzmán, der heute noch in (lebenslanger) Haft sitzt. Die Guerillaaktivitäten der Gruppe lösten in den 80er und 90er Jahren bürgerkriegsähnliche Konflikte in Peru aus, die fast 70.000 Menschen das Leben kosteten. Besonders betroffen war die quechuasprachige Landbevölkerung. Die Recherche zu diesem Thema (auf Deutsch) war recht unergiebig. Es gibt einen Band Der Leuchtende Pfad in Peru (1970–1993): Erfolgsbedingungen eines revolutionären Projekts von Sebastian Chávez Wurm bei Böhlau und den Roman Tod in den Anden von Mario Vargas Llosa. Ersteres erschien mir zu umfangreich, bei Llosa habe ich den Faden verloren. Durch Zufall stieß ich nun aber auf die Graphic Novel Der Leuchtende Pfad: Chroniken der politischen Gewalt in Peru 1980-1990 von Jesús Cossío, Luis Rossell, Alfredo Villar aus dem Spanischen übersetzt von Katharina Maly, erschienen bei bahoe books. Der Band schildert den Bürgerkrieg anhand der Ergebnisse der 2001 eingesetzten Kommission für Wahrheit und Versöhnung. Da ich zu jung bin, um die Ereignisse bzw. die Berichterstattung über diese zu erinnern, ist diese Graphic Novel (anders wahrscheinlich die vorbenannten Titel) der perfekte Einstieg ins Thema. Die Geschichte wird nicht allein als Comic dargestellt, sondern jedes Kapitel durch die Einordnungen der dargestellten Ereignisse in Textformen komplettiert. Ein lohnenswerter Einstieg in ein Thema, das in Deutschland sonst wenig bis gar nicht beachtet wird.

(Während ich dies schreibe, entdecke ich, dass es bei Netflix wohl einen Spielfilm zur Verhaftung Guzmáns gibt. Ob der was taugt, finde ich dann heute Abend raus.)

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (14)

Dies ist der vierzehnte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10, Teil 11, Teil 12, Teil 13)

Das mittlerweile über 150 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Janine, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Robert Heinze: @rob_heinze, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

 

12.5.2020

 

Emily, Rostock

Weil wir alle etwas unsicher sind, was passiert, wenn die Landesgrenzen nach Pfingsten wieder öffnen, fahren wir nach Markgrafenheide und baden in der Ostsee an. Jetzt wo man dort noch allein liegt, allein im Meer steht mit brennender Haut (8 Grad Wassertemperatur). In Mecklenburg-Vorpommern wurden die Lockerungen bereits am Samstag umgesetzt. Restaurants, Cafés, Biergärten. Die Stadt ist ihr eigenes (beklemmendes) Festival. Bevor wir selbst uns auf Bierbänken verteilen (6 Leute, zwei Haushalte pro Tisch) okkupieren wir den Platz vor dem Rathaus. Sechs Demonstrationen á 50 Menschen wurden angemeldet, nachdem die AfD ihre Route bekanntmachte. Jetzt stehen den 300 Menschen knappe zwanzig gegenüber, die versuchen aus der lächerlichen Situation ihre Überlegenheit abzuleiten. M und ich trinken Cappuccino, halten Abstand und die Köpfe in die Sonne. Sie sind das Volk, der Staat, die Stimme. Dabei rauschen ihre Mikrofone so stark, dass man sie kaum versteht. Die meisten von ihnen sind damit beschäftigt, ihre Handykameras auf uns zu richten. Ein Zielen mit lächerlich kleinen Waffen. Wir gehen kurz nachdem ich den Namen Bill Gates und das Wort Impfpflicht höre. Später am Tag gebe ich zum ersten Mal seit Monaten jemandem zur Begrüßung die Hand. Ich habe einen Moment nicht daran gedacht und schäme mich bis zum Abend ohne genau zu wissen, wem gegenüber.

 

Sandra, Berlin

Mein letzter Eintrag ist vom 3. Mai, Sonntag Abend. Es ist neun Tage später, eine Zeitspanne, die mir unfassbar lang und unfassbar kurz zugleich vorkommt. Wir, also wir drei, diese meine Familie, haben uns eine Woche aus allem rausgenommen. Von der Arbeit, den Nachrichtenmeldungen, den Zoom-Meetings, den Telefonaten, den To-do’s, dem Kreischen der Gegenwart. Wir haben gedacht, wir setzen einfach eine Runde aus. 

Am ersten Tag unserer Auszeit-Woche, habe ich mir wie geplant nichts vorgenommen und werde von Müdigkeit überrollt. Ich träume nicht, ich falle nur, lautlos, kein Aufprall, in Schlaf.

Ich schlafe sehr lange. Als ich aufwache, kommt alles zurück. 

Es kommt genauso, wie es immer kommt, wenn Mensch von einem ins andere fällt, von der hyperventilierenden Betriebsamkeit in die Stille, von der Arbeit-Kind-Resteigenleben-Alltagsschere in die Ruhe, die im nächsten Augenblick schon wieder brüchig wird, hinter der alle Sorgen, Unsicherheiten und Ängste, über die nachzudenken davor schlichtweg nicht mal Zeit war, sichtbar werden und überlebensgroß vor einem stehen: The horror, the horror. Das Hirn hört ja nicht auf zu denken, das Herz hört nicht auf zu schlagen, die Nachrichtenmeldungen hören nicht auf, die Rechnungen hören nicht auf reinzukommen, die Honorare hören nicht auf auszufallen, es fehlt an Zeit, an Kraft, an Klarheit für neue Pläne, Projekte und Texte, und überhaupt, worauf soll Mensch neue Ideen setzen, wenn die Gegenwart – noch viel mehr als sonst – so unscharf unkontrollierbar unwägbar ist. Und erst die Zukunft. Und entspannen, echt jetzt? Die Pandemie ist selbstverständlich immer noch da, keine Sorge, das haben wir nicht vergessen – auch wenn die Mehrzahl der Menschen mit jeder Lockerung der Maßnahmen mit jedem Tag etwas mehr irre zu werden scheint. Dazu das Hintergrundrauschen dieser Tage, das Draußen: Der Chor der Skeptiker*innen, der Verschwörungsklöppelnden der„Hygienedemonstrant*innen“ in Formation, ganz vorne die C-Promis, die zugleich Anwärter*innen fürs nächste Dschungelcamp sein könnten. Nicht zu vergessen, der noch aufgebrachtere Chor derer, die es immer besser wissen, die nichts zu sagen haben und es möglichst laut sagen, der Unsere-Eltern-haben-das-auch-geschafft und Das-Kinderhaben-habt-ihr-euch-doch-selbst-ausgesucht und Meine-Mutter-hätte-blabla und Seid-doch-dankbar-dass-[beliebigen Platzhalter einsetzen]-ihr-Kapitalistenschweine.

In einer Achterbahnfahrt geht es durch die Woche, auf Erschöpfung folgt Euphorie, auf Streit friedliche gemeinsame Stunden, wir lachen und schreien viel, alles ist unglaublich anstrengend. Wirklich entspannt, so wie wir es uns vorgestellt haben, ist nur der letzte Tag. Es erinnert mich daran, als ich Kind war, und es, wenn wir bei anderen Kindern zu Besuch waren (das Wort: Playdate verwendete damals niemand), zum Beispiel bei Kindergeburtstagen, immer erst richtig lustig wurde, kurz bevor die Eltern wieder in der Tür standen, um einen wieder abzuholen. Es ist Zeit.

 

13.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Ich gehe schon seit einer Weile nicht mehr mit Kopfhörern im Ohr spazieren. Erst jetzt merke ich, wie laut es um uns herum gewesen ist, und dass ich versucht habe, diesen Lärm durch noch mehr Laut zu übertönen. Jetzt einfach nur zu lauschen, erfreut. Die Stille im Ohr bedeutet zudem eine Pause im Medien- und Neuigkeitenkonsum. Offener bleibt der Kopf damit für eigene Ideen, und das Notizbuch, das mit mir läuft, füllt sich schneller als früher. Doch nicht nur die Landschaft der Klänge und der Ideen, auch die der Düfte hat sich mir in diesen Wochen auf vielleicht noch nie so wahrgenommene Weise eröffnet. Ich hatte nie einen sonderlich großartigen Geruchssinn. Die Schleier aus süßen, wilden, frischen Gerüchen, die sich jetzt auf meinen Spaziergängen einer nach dem anderen um mich legen, und mich dann wieder freigeben, sind ein eindrucksvolles Erlebnis. Wenn ich ehrlich bin, möchte ich es – ebenso wie die Ruhe und die Vogelstimmen – nicht mehr missen. Wie darüber wohl gerade auf die Welt Gekommene denken, frage ich mich. Wie werden sie reagieren, wenn der Lärm- und Verschmutzungspegel wieder steigt, weil die so genannte Normalität wieder Einzug hält, und ist dieser Frühling vielleicht nur deshalb so farbenprächtig und voll des ungehemmten Wachstums, weil wir Menschen uns, zur Abwechslung, einmal mit weniger bescheiden?

 

Berit, Greifswald

Ich merke, dass mich sehr ähnlich Gedanken umtreiben, wie Viktor, der bereits darüber schrieb, wie Menschen im Internet in Zeiten der Pandemie miteinander interagieren. (Ich sehe Marie Isabel über mir schreiben und freue mich, hier nicht alleine im Doc. zu sein.) Seit neun Wochen zerreiße ich mich nun zwischen Homeoffice und Kinderbetreuung, manchmal flüchte ich mich online, um dort Erwachsenengespräche mitzulesen, mich irgendwie mit der Welt verknüpft zu fühlen. Doch oft, wenn dort Menschen im Angesicht der Pandemie ihre Sorgen äußern, über ihre Erschöpfung sprechen, sehe ich ein ähnliches Muster:

Menschen beschweren sich, machen Schwachstellen sichtbar, zeigen ihre Überlastung und es dauert nicht lange bis ihnen irgendjemand antwortet, dass sie aufhören sollen zu jammern, es früher alles härter war, sie selber viel schwierigere Situationen durchgestanden haben. Ich wünschte man könnte die Botschaften des Gegenübers einfach ersteinmal stehenlassen, vielleicht sogar zuhören, versuchen die eigene Bewertung der Situation zurückzuhalten.

Ich denke darüber nach, warum es so schwer zu sein scheint Empathie für die Erschöpfung anderer zu zeigen. Warum reagieren Menschen defensiv oder sogar mit Aggression, wenn Beispielsweise Eltern über die Anstrengung der vergangenen Wochen reden oder Singles darüber sprechen, dass sie die Einsamkeit im Home-Office belastet? Ich wünsche mir mehr Mitgefühl und weniger Maßregelung, mehr Vorsicht im Umgang mit dem Gegenüber. 

 

14.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Wird es hier stiller werden, wenn dieses Tagebuch nicht mehr, wie ein Dickenscher Roman in Fortsetzung, wöchentlich erscheint? Welche Rolle spielt diese Form der Veröffentlichung, das regelmäßige Teilen mit einer größeren Zahl von Menschen, auf die das hier in die virtuellen Seiten Getippte aktiv hinübergeschwappt wird? Welche das gemeinsame Schreiben? Letzteres ist ein Geschenk, das wir uns gegenseitig machen. Ganz egal, wer mitliest oder nicht, wir wissen stets – oder hoffen es zumindestens, dass sich die anderen Zeit nehmen für uns. Wir sprechen indirekt miteinander auf diese Weise, hören einander zu. Wir üben ein wenig das Mitgefühl und die Behutsamkeit anderen gegenüber, von denen Berit schreibt. Es ist hier so ganz anders, als in einem ‘privaten’ Tagebuch. Das kann zwar zu einem absoluten Freiraum des Denkens und Sagens werden, aber es bleibt ohne Resonanz. Es sei denn, frau trägt es ins Außen oder schreibt mit Blick darauf, aber selbst dann entfaltet sich wieder eine andere Dynamik. Nun, wir werden sehen.

 

15.5.2020

 

Sarah, München

Der Alltag. Es wird normal. Masken. Zuhausesein. Essen nur zum Mitnehmen. Zurückgeworfen auf die Familie. Frauen am Herd. Kinder, die ihre Freunde und Großeltern nur noch per FaceTime treffen. Alles Alltag. Es wird stiller. Auch hier im Tagebuch. Auch in mir. Die Tage sind nicht etwas schweres. Aber sie scheinen sich zu verflüssigen, ineinander zu fließen, eine Farbe zu bekommen. Der Blick aus dem Fenster in den Garten wird das, was früher der Blick aus der S-Bahn war. Es ist ein schöner Ausblick. Und ein sehr beschränkter. Und zum ersten Mal fühle ich so etwas wie Furcht. Vermutlich bin ich kein besonders ängstlicher Mensch. Aber dieser neue Alltag. Diese Gewöhnung. Auch bei mir. Das erschreckt mich. Wir sind eine Insel, hier in diesem Haus. Und die Brücken zerfallen.

 

16.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Ich freue mich, Berit zu sehen und zu lesen, und verfolge beeindruckt und berührt, was Sarah schreibt. Es ist schade, dass es hier so ruhig geworden ist, denn, wie Politiker:innen, Forscher:innen und, deren Worte wiedergebend, Journalist:innen immer wieder sagen: Wir stehen noch ganz am Anfang im Umgang mit dem Virus. Daher wäre es schön, im Gespräch zu bleiben – und aufmerksam für die Veränderungen, Stimmungen, Seltsamkeiten aber auch Potentiale der Gegenwart.

 

Nabard, Bonn

Seit nun einer Woche habe ich frei. Urlaub. Keine Klinik, keine Patienten, keine Befunde, keine Briefings, keine neuen Erkenntnisse zum Virus aus erster Hand. Stattdessen lange Nächte mit meiner Familie nach dem Iftar, Spaziergänge, Gartenarbeit und einfach Sonne und sorgenfrei. Zu viel getwittere vielleicht aber das ist wohl zu einer lästigen Sucht geworden wie bei manchen das Rauchen. Ich würde gerne wieder eine Shisha rauchen, ob die Cafés wieder geöffnet haben? Da war doch was, was mit Shisha-Cafés und einem rassistischen Anschlag. Oder? 

 

Rike, Köln

Die Welt duzt sich seit Ausbruch eines Virus. Auf Schildern schreiben die Einzelhandelnden: Wir sind wieder für euch da. Es irritiert mich irgendwie, das viele neue euch und ihr, obwohl ich es meistens sehr mag, geduzt zu werden. Bloß wenn es von großen Unternehmen kommt, muss ich kotzen. Die IKEA-sierung der Welt. Dieser best-Buddy-Tonus, um dir was zu verkaufen. Oder ich lese den Duz-Trend so: die Welt holt sich vom IKEA das Du zurück. Die Leute von Ebay-Kleinanzeigen immer noch gleich unhöflich wie immer. Ich verschenke eine Matratze. Ich erhalte eine Email: „Noch da?“ Das ist das einzige, was da steht. Vielleicht kann die Person kein Deutsch. Dann kann ich das verstehen. Aber dann könnte sie immer noch Danke schreiben, das wäre nett. Das Wort kennt jede Person. Auch die BILD mit ihrer DANKEwerbung. BILD hat es sich neuerdings auf die Fahne geschrieben, überall auf ihre Plakate DANKE zu schreiben und sich nun als große Vorreiterin der Geflüchtetenhilfe zu framen. „Unsere Leser sind die Besten, sie helfen Flüchtlingen.“ Auch ALDI sagt DANKE, auch LIDL sagt DANKE. Das öffentliche Danke von Großunternehmen, die teilweise sehr dafür bekannt sind, ihre Angestellten nicht gut zu behandeln. DANKE von der Diakonie, die schon v. C. seit mehr als 2 Jahren eine Kampagne mit dem Namen „unerhört“ führt, um auf die Arbeit von „Alltagshelden“ (neues It-Wort) aufmerksam zu machen. Die einzige Kampagne, der ich etwas glauben kann. Die Einnahme des DANKEschöns als neue Marketingstrategie, bah. Diese Werbeleute, sie probierens immer wieder irgendwie. Die 2. Email von „Ja“: „Hallo, wir würden die Matratze gerne für unsere Tochter abholen.“ Wen unterstütze ich? Eltern, die einer Tochter unter die Arme greifen wollen? Die 3. Email von „Ali“. „Ali“ würde gerne Bilder. Er siezt mich. Ich bin für „Ali“. Die Eltern melden sich auf meine Antwort nicht mehr. „Ali“ bekommt heute Abend ein Foto von mir. Ich bin ebenso verlogen und bigott wie alle anderen auch, rege mich über Unternehmen auf, im Kühlschrank der WG ist die Hälfte der pseudo-Bio-Produkte vom ALDIsüd. Ohne Sünde ist niemand, mit Steinen werfen wir trotzdem. Wir. Wer ist dieses Wir? Du? Ich meine, Sie? Ich auf jeden Fall. Wer wird angesprochen, wenn geschrieben wird: wir sind wieder für euch da? Wer ist nicht gemeint? 

 

17.5.2020

 

Sandra, Berlin

Wo stehen wir jetzt? Wie geht es weiter, von hier an? Die Lockerungen machen mich nervös, das Frühlingswetter macht mir schlechte Laune. Das geht sich nicht aus, meldet sich die skeptische Wienerin in mir. Oder ist meine Sorge umsonst, geht sich das schon aus? Seitdem die Pandemie oder die Tatsache, dass die Pandemie eine mich unmittelbar umgebende und betreffende Tatsache ist, in meiner Welt und meinem Bewusstsein angekommen ist, bin ich durch alle möglichen emotionalen und mentalen Aggregatzustände gegangen: überdrehte Aktivität und durchgearbeitete Nächte, kreative Hochs und depressive Schreibkrisen, gefolgt von Sowieso- und Worumüberhauptkrisen, zwischen Laberflashes und Sprachlosigkeit, Dankbarbeit und Wut, Ruhe und Ungeduld, komatöser Tiefschlaf und Schlaflosigkeit etc. etc. Dann ist da mein Roman, fünf Jahre Arbeit und jetzt die letzten Lektoratsrunden, nochmal Factchecking, jede Zeile prüfen, jedes Wort abwägen. Warten. Vorige Woche ist die Vorschau erschienen. Soll ich, kann ich, darf ich mich freuen? Der Schwebezustand der Ungewissheit bleibt, durchzieht alle Ebenen meines Lebens. Wie geht es weiter für mich als Autorin – was wird im Herbst sein, wenn mein Buch erscheint und darüber hinaus? Wird sich der Literaturbetrieb verändern (müssen)? Wie werden Künstler*innen diese Zeit überleben? Wie geht es weiter für mich als Mutter – wann werde ich wieder Betreuung für mein Kind in Anspruch nehmen können? Auf allen Kanälen wird über Care-Arbeit diskutiert und gestritten, ich staune über den Hass, der Eltern und vor allem Müttern entgegenschlägt, die es wagen, die Stimme zu ergreifen, wütend zu sein, Veränderung zu fordern. Aber staune ich wirklich? Ich habe diese Ablehnung kennengelernt, seit ich zum ersten Mal ausgesprochen habe, dass ich Mutter werde. Was wir aus einer Gesellschaft, der es immer mehr an Solidarität und Fürsorge mangelt ? Wird diese Pandemiezeit unsere Welt verändern? Besser oder schlechter machen? Was wird aus diesem absurden Mischmasch aus Verschwörungstheoretiker*innen, Rechten und Irren entstehen? Ich bin hier, mittendrin, blicke aus meiner höchstpersönlichen Mikrokosmos-Perspektive auf die Welt und frage mich, wie ich ändern kann, was ich sehe. Lange sitze ich und schweige. Dann schreibe ich.

 

18.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Wieder ein Montag. Es hat endlich einmal richtig geregnet. Seltsam, wie das Beobachten des Wetters an Gewicht gewinnen kann, wenn es einen nach Veränderung dürstet. Ich lese Sandras Eintrag von gestern und fühle mich gesehen: Eben über diese wechselnden seelischen Aggregatzustände habe ich am Wochenende nachgedacht. Momentan ist, zumindest was Corona angeht, bei mir Erschöpfung eingetreten. Da ist nicht einmal Kraft zur Wut. Die jetzt auch in Großbritannien stattfindenden Demonstrationen lassen mich müde lächeln. Das, was in Deutschland schon vor eine Weile einsetzte, ist also mittlerweile auf der Insel angekommen. Verschwörungstheoretiker sind wieder mit von der Partie. Daneben Menschen, die sich um die Beschneidung von Bürgerrechten Sorgen machen oder ganz einfach um ihre wirtschaftliche Existenz. Ich lese von ‘mainstream media’ und ‘fake virus’ und mag eigentlich gar nichts weiter hören. Am Wochenende habe ich, statt wie sonst hyperaktiv Aufgabenlisten im Haushalt abzuarbeiten, relativ wenig ‘geleistet’ und mich stattdessen in kontrollierbare Welten zurückgezogen – mein Schneckenhaus aus Filmen, Büchern, Spaziergängen, und jeder Menge Schreibprojekten. Allerdings sickert die Realität dann doch immer mal wieder durch, etwa, wenn ich von Todeszahlen lese, den ‘excess deaths’, die gerade in England (im Vergleich zu Schottland, Wales und anderswo) sehr hoch sind, und ich frage mich ernsthaft, wieviel System- bzw. persönliches Versagen ich aushalte, und wieviel davon eine Gesellschaft aushält. 

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (12)

Dies ist der zwölfte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10, Teil 11)

Das mittlerweile über 150 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Janine, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Robert Heinze: @rob_heinze, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

 

Woche 8: 27. April bis 3. Mai

 

27.04.2020

 

Shida

Es gibt Lockerungen und es gibt Maskenpflicht, beides ändert für uns hier in der Pampa einfach mal gar nichts (die Maske trug ich beim wöchentlichen Einkauf auch so, andere Orte gibt es hier nicht). Alles bleibt unverändert und ich stelle pessimistische Prognosen auf („Keine Pläne mehr für dieses Jahr. Urlaub findet nicht statt, Buchmesse findet nicht statt, Weihnachten findet nicht statt.“) einfach nur, um mich selbst als Herrin der Lage zu fühlen (was ist Herrin eigentlich für ein Wort?). Ich gehe nicht davon aus, bald wieder in meiner eigenen Wohnung zu wohnen und seit der Fire TV-Stick uns hinterhergezogen ist, fehlt mir mein richtiges Zuhause auch nicht mehr. Um noch eins drauf zu setzen, habe ich auch noch angefangen, zu joggen, obwohl ich Joggen noch viel mehr hasse als Spazierengehen. Aber der Effekt auf Körper, Gemüt und Müdigkeitsstatus ist so gigantisch, dass ich mich weiterhin überwinde.

Letzte Woche hatte ich zum ersten Mal eine Online-Lesung. Ich war von Anfang an skeptisch, vielleicht, weil das Internet für mich nie ein Kommunikationsraum war und das, was ich an Literaturveranstaltungen liebe, eben die Kommunikation davor, danach, währenddessen, vor allen Dingen währenddessen ist. Ich dachte, dass ich zwar skeptisch bin, weil ich so eine Internetskeptikerin bin, dass das aber am Ende eine der Erfahrungen wird, nach der man denkt: „Ahhh! Es ist ja doch ganz toll! Zum Glück bin ich um diese Erfahrung reicher geworden! Danke Schicksal, danke Welt!“. Pustekuchen. Am Ende ist mir nur noch mal bewusst geworden, dass ich den Autorinnen-Job auch deswegen über alle Maßen abfeiere, weil es die schönsten literarisch- zwischenmenschlichen Begegnungen sind, die ich auf Lesungen und Veranstaltungen erfahre. Online-Lesungen sind zum Zuschauen und Zuhören vielleicht ganz ok (das weiß ich nicht, weil ich aus der Härte der Corona-Tage abends nicht dazu in der Lage bin, Zuhörerin zu werden und mich gebührend zu konzentrieren), als Lesende gibt man irgendwas in den luftleeren Raum und verschwindet danach wieder in der stillen Isolation. Keine Gespräche, keine Diskussionen, kein Wein, kein Lächeln, keine verhalten wütende Kritik, kein Erfahrungsaustausch, kein lautes Lachen, kein zweiter Wein, und, zur Hölle, was soll der Geiz: Auch kein Applaus. Vielleicht bin ich wie die Schulen, die jetzt merken, dass sie sich schon längst der Digitalisierung hätten öffnen müssen, um mithalten zu müssen, vielleicht geht Corona so lange, dass ich wohl oder übel meine Meinung überdenken muss. Aber erst mal bin ich trotzig weiterhin skeptisch und wünsche mir zu Weihnachten die Leipziger Buchmesse.

Schimpftirade Ende.

Hier scheint immerhin die Sonne und meine Manuskriptabgabe ist in zwei Wochen. Ich sollte also wieder meine Zeit mit dem anderen Teil des Autorinnen-Daseins verbringen, das Schreiben nämlich funktioniert weiterhin selbstbewusst Corona-Frei.

 

28.4.2020

 

Slata, München

Weiße gibt es, grellweiße und leicht gelbliche, in breiter Auswahl, wie Hochzeitskleider, hellblaue auch, gemusterte handmade und stylische schwarze, kochfeste Baumwolle oder durchsichtige, um das Gesicht geschlungene Schals, hochgezogene Rollkragen, das bringt mich aus der Fassung, wenn Leute das Beste aus jeder Lage machen, es zustande kriegen, ihre Individualität zu unterstreichen, und sich gleichzeitig Maulkörbe besorgen, alles machen, was sie machen sollen, eigentlich gibt es ja kein Argument dagegen, aber das bringt mich aus der Fassung.

 

Fabian, München

Die Leute werden kreativ und liefern tolle Bilder. Offenbar, darauf lässt zumindest der Radfahrer am Heimweg heute schließen, der offenbar begeistert das, angenommen, Pärchen drüben auf der anderen Straßenseite beim erstaunlich selbstverständlichen oder erfolgreichen Versuch filmte, an der Befestigungsmauer der Kirche entlangzubouldern. Dabei stand’s grade gestern zur Disposition, dass die Aktualitäten der Ereignisse die Geschwindigkeit der letzten Wochen langsam einbüßen – und dann springt so’was in die Bresche.

 

Svenja, Köln

Ich träume seit einigen Tagen von Arbeitsblättern. Kurz vor dem Aufwachen höre ich meine Stimme, sie diktiert genaue Anweisungen, bemüht sich um klare Formulierungen, und dann mache ich die Augen auf.

30.4.2020

 

Sandra, Berlin

Wo war ich? Der letzte Eintrag ist ewig her. Ich tauche aus meinem Zeitloch.
Hallo.
Mir gehts-
Äh-
Nein-
Und ihr so?
We are all together in this. Are we?

Ich muss meinen Kalender nehmen und rekapitulieren. Was habe ich eigentlich gemacht? Da war die Sache mit dem Finger, dem Splitter, dem Unfallchirurgen.

Dabei habe ich nur ein Buch vom Boden aufgehoben und mir dabei einen langen Holzsplitter tief unter meinem Fingernagel versenkt. Ich konnte das Stückchen Holz durch den Nagel sehen, und später, wie die Entzündung sich ausbreitet, der ganze Finger anschwillt. Natürlich dachte ich, das geht schon, ich hol das selbst raus, ok, hat dann nicht geklappt, aber es wächst ja eh irgendwann raus. Dabei fiel mir der Spiegel-Artikel ein, in dem ein Prepper erzählt, dass er „für den Ernstfall“ geübt und sich selbst als Test einen Zahn gezogen hat. Trotzdem. Kam mir lächerlich vor, mit meiner Verletzung zur Hausärztin zu gehen, bis C. mich überredet hat, aber die Ärztin wollte das nicht mal anfassen, Oh-oh, nein, das kann ich nicht machen, hat gleich eine Überweisung zum Chirurgen geschrieben. Dann der schlechtgelaunte Chirurg, der an meinem betäubten Finger herumwerkelt, der prüfende Blick der Arzthelferin der hin- und her geht zwischen meiner Hand und meinem Gesicht, während der Arzt komische Geräusche macht. Wirklich komische Geräusche. Soll ich hinsehen? Lieber nicht. Das war kurz vor der Maskenpflicht. In den Praxen war die aber schon angekommen und somit war es der erste Vormittag, an dem ich die Maske lange am Stück trug. Das Atmen fällt wirklich schwerer damit, dabei ist es nur eine Stoffmaske. Das beste war eigentlich das Verbandwechseln am übernächsten Tag, das hab ich dann als Mikro-Story vertweetet.

 

We are all together in this. Are we?

Ich nehme selten Medikamente, nach der Betäubung muss ich mich zuhause hinlegen, verschlafe einen ganzen Nachmittag. Später: Die letzten Korrekturen im Manuskript tippe ich mit neun Fingern, der verbundene zehnte weit abgespreizt, die arbeite immer noch im Bett liegend, im Pyjama. Dann: Das Email abschicken. Dem swooosh lauschen, der die Arbeit von fünf Jahren ein Stück weiter hinaus in die Welt trägt.

Und apropos WE ARE ALL TO-whatever … Die letzte Woche haben sich in die anfangs so schönen freundlichen Chats mit Freund*innen andere Themen gemischt. Ängste, Spekulationen und Nachrichtenmeldungenhamstern aus strangen Quellen – all das mischt sich in den Köpfen und in den Gesprächen geht es plötzlich um Überwachung, Bedrohung, Verschwörungstheorien. Ich kann das meiste davon Null nachvollziehen. Wir diskutieren, streiten, dann Funkstille. Bin ich intolerant? Ah, was bin ich müde.

Da fällt mir ein – morgen ist der erste Mai. Ich muss an den Wiener Prater denken, und daran, wie ich mit meinen Freund*innen dort einen großartig sonnigen besoffenen ersten Mai hatte.

We are all together in this. Are we?

Und ihr so?

 

Nabard, Bonn

Ich wollte hier so vieles schreiben, was ich schönes die letzten Tage erlebt und gefühlt habe. Aber ich bin müde, erschöpft. Mir fehlt Tag für Tag die Kraft. Nicht weil wir im Krankenhaus jeden Tag einen neuen Fall bekommen, die Patienten jünger werden, Neugeborene, Jugendliche, vormals gesunde Kinder.

Nein, weil die Ignoranz von so vielen mich erschlägt. Ihre Verschwörungen. Ihre Behauptungen es sei doch alles nicht so schlimm. Ich wünschte ich könnten ihnen die Patienten zeigen. Wie sie leiden. Und wie ihre Angehörigen leiden.

Ich bin müde. Ob es mir irgendwann egal sein wird wie viele eigentlich erkranken und sterben werden?

Meine Schwester deckt den Tisch für das Iftar gerade, wie schauen über Satelliten-Tv BBC Farsi. Im Süden Tajikistan’s sind jetzt Corona Fälle bekannt geworden.  Es ist also wohl eine Frage der Zeit bis in Kunduz und Chah-Ab, unserem Heimatdorf, das Virus gelangt. Mama spricht ein Stoßgebet.

 

Marie Isabel, Dunfermline

Ich treffe mich mit 17 Fremden zum gemeinsamen Schreiben. Nach und nach poppen die Zoom-Fenster auf. Frauengesichter, Männergesichter, mit und ohne Bart. Einblicke in kleinere und größere Räume, eine Küchenzeile, Wandschmuck, eine runde Korbschaukel. Zwei von uns verbergen ihre Umgebung hinter einem Strandbild mit Sand und Palmen, in dem die Sonne sommerhell scheint. Sehnsuchtsidentität eines kleinen Studentenwohnheimzimmers: S. ist besonders gefährdet und hat es seit Wochen nicht verlassen. Beim gegenseitigen Vorstellen erzählen wir, wo und wie wir wohnen, wie es uns im Lockdown ergeht.

Unsere Zimmerkästchen sind über mehrere Kontinente verteilt: Schottland, England, Chile, die USA, Norwegen, Dänemark. Zählt man die Herkunftsländer einiger dazu, lassen sich Italien, Deutschland, Mexiko, Südafrika mindestens anfügen. Wir haben viel gemeinsam: das Gefühl des Beengtseins; die Freude, Spaziergänge in freier Natur machen zu können oder in der Nähe eines Flusses, Meers, Hafens; die Dankbarkeit für ein Haus am Stadtrand; das Leiden unter kleinen Wohnungen im Stadtzentrum. Eine von uns strickt. Es wirkt beruhigend. Ab und zu trinkt jemand etwas. Espresso, Tee, Wasser. Zwei Wissenschaftler der Universität von Edinburgh moderieren.

Eine Viertelstunde lang schreiben wir. Alle stummgestellt vor der Kamera. Darüber, wie es uns jetzt geht, was uns bewegt, in einer Form unserer Wahl. – Ich lasse mich von der Sprache treiben. Sehe aus dem Fenster auf die weichen Linien draußen, alles erwartet Regen. Der Wetterbericht hatte ihn für gegen drei oder vier Uhr nachmittags angekündigt. Wie wäre es, klappert die Metaphernkiste, wenn wir eine Lockdown-Vorhersage hätten? Wie spielt sich das Corona-Wetter ab? Ist der Sturm schon vorbei? Auf wen bricht er herein? Auf wen nicht? Ist er überhaupt real, wenn wir ihn nur als Vorhersage kennen, nur andere ihn erleben? … –

Nach fünfzehn Minuten kommen wir wieder zusammen und lesen. Nacheinander. Kommentiert wird nicht. Nicht gewertet. Nur zugehört. Wirklich zugehört. Es wird geweint. Gelächelt. Gelacht. Genickt. Gefühlt. Mitgefühlt. Nachgefühlt. Wir schreiben über Ängste; den Schmerz darüber, einen trauernden Menschen nicht in den Arm nehmen zu dürfen; die Suche nach Stärke in der Erinnerung an überstandenes Leid; das Bedürfnis, andere zu umsorgen, zu beschützen; wie man als Einwanderer während der Pandemie noch mehr zum Außenseiter wird; wie Covid-19 hilft, eine Revolution in den Kinderschuhen zu ersticken; inwiefern das ritualisierte Klatschen für die NHS-Helden jeden Donnerstagabend um 8 Uhr Fassade ist, um Missstände zu verdecken; über einen veränderten Fokus auf die eigenen Bedürfnisse, deren Befriedigung; Alpträume, in denen die soziale Distanz nicht eingehalten wird; Wut; die Suche nach einem Ort der Ganzheit des Selbst; ob das Draußen noch existiert, wenn das Leben sich nur drinnen abspielt; über den Rückzug von allen Nachrichten; dass frau jetzt anders hört, wahrnimmt; in der Falle sitzt; scheinbare Normalität in idyllischer Umgebung; über das Schreiben, um nicht den Verstand zu verlieren und das Schreiben um des Schreibens willen, das keinen Sinn schafft.

–––– Es ist eine enorm intensive Erfahrung. Alle lesen. Vor Menschen, die sie bis vor einer Stunde nie gesehen hatten, in einem geteilten virtuellen Raum, in dem alle den gleichen Platz haben, das gleiche Recht auf Zeit und Aufmerksamkeit, Unterstützung, Zeugenschaft, Begegnung. Es ist überwältigend, berührend. Wir danken einander. Für den Mut, uns einander zu öffnen. Jemand bemerkt, dass es sich jetzt so anfühle, als kenne man sich. Ich sage, dass ich mir wünschen würde, alle wiederzusehen. In zwei Wochen, vielleicht drei. Wer weiß, wie es uns dann geht?

 

1.5.2020

 

Slata, München

Coronababys wird man sie nennen, die zwischen Dezember dieses und, schätze ich mal, Sommer nächsten Jahres Geborenen, es werden ruhige, entspannte Kinder, die im Liegen, im Sitzen zuhause aufwuchsen, ausgeglichen ernährt, mit Mozart frühentwickelt, mit Büchern unterhalten, von der Sonne auf dem Balkon gebräunt. Kindergärtner werden ihre Gruppen Alpha, Beta, Gamma nennen, Lehrer werden sich darum streiten, eine Klasse mit Coronakindern zu bekommen, mit besonders gutem Ruf, vielleicht wächst dreißig Jahre später abrupt die Anzahl der Mediziner, Biologen, Virologen, ernst und charmant alle, wie Drosten. Das Einzige, wozu die Zeit vom Nutzen wäre, Babys auszutragen.

 

Sandra, Berlin

Wir verschlafen den ersten Mai. Es ist der stillste erste Mai, seit ich in Berlin lebe. Keine Openair-Party, keine Demo, kein Picknick, nicht mal eine Deadline. Ruhiger noch als letztes Jahr, als das Kind knapp sieben Monate alt war. Als ich endlich aufwache, sind C. und das Kind weg. Es ist selten, und fast schon unheimlich, dass ich allein und in einer stillen Wohnung aufwache. Auch auf der Straße ist niemand unterwegs. Kein Mensch hinter den Fenstern gegenüber. Ich denke spontan an den Anfang von „The walking dead“, wenn der Protagonist im verlassenen Krankenhaus aufwacht. Gestern Abend, kurz vor Dämmerung, als die Straße in surreal pastellfarbenes Licht getaucht war und gleichzeitig ein Regenguss runterkam, standen wir am Fenster, um das Schauspiel zu betrachten, und in den Nachbarhäusern ringsum unzählige Gesichter an den Fenstern, Menschen, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Dann lief eine Frau die Straße runter, mitten auf der Straße, durch den Regen, barfuß, laut lachend, eine Szene wie in einer Romcom.

C.s Whatsapp.-Nachricht sagt mir, dass alles in Ordnung ist, die Apokalypse noch etwas wartet, er und das Kind spielen draußen. Mein Kind ist jetzt schon sehr viel länger zuhause, als ich mir das jemals vorgestellt habe, ich wollte nach 12 Monaten Betreuung in Anspruch nehmen – davon schrieb ich ja schon im Rahmen dieses Tagebuchs. Erst schien es unmöglich einen Platz zu bekommen. Und jetzt scheint es keine Ende nehmen zu wollen, dass wir Arbeit und Kind ohne Betreuung jonglieren. Kurz vor der Kita-Eingewöhnung kam der lockdown. Nach den neuesten Regelungen erfüllen wir zwar die Anspruchsbedingungen für die Notbetreuung, auch eine Eingewöhnung, aber unsere Kita ist ganz klar überfordert und verunsichert und stellt sich quer. Die Verunsicherung finde ich einerseits total nachvollziehbar, aber leider gibt es keinen nennenswerten Dialog darüber, stattdessen werden diese Überforderung undoder diese unausgesprochenen Ängste einfach auf unserem Rücken ausgetragen. Wir sind beide erschöpft. Wir müssen raus aus der Alltagssituation, wenigstens für eine Woche. C. nimmt sich Urlaub.

Der Ausnahmezustand der Belastung ist auf Dauer für niemanden zumutbar: Es müssen Lösungen gefunden werden, für alle Eltern und Alleinerziehenden.

Am späten Abend fassoniere ich C.s undercut nach, wie ich es seit Beginn des lockdown schon öfter gemacht habe. Ich bin ehrgeizig. Diesmal will ich den Übergang besonders gut hinbekommen, und rasiere dabei ein kahles Loch mitten in seine Schädelflanke. Unser Lachen hallt im Badezimmer. This too shall pass.

 

Rike, Köln

was habe ich gesehen. ich habe gesehen: verschiedene menschen in 3,5m entfernung halten plakate hoch, sie stehen in abgeklebten gaffa-dreiecken einzeln. ich vermute, dass die sprechchöre nicht aufkommen (können), weil der menschliche abstand zu groß ist. es wirkt so: den leuten ist die demo oder das demonstrieren eher peinlich. aber das ist es nicht, nur mir ist es peinlich, oder unangenehm, wer wie klingt, könnte man genau raushören. Ich will in einer masse untergehen. eine lose bekannte legt sich ohne atemschutzmaske mit einer polizistin an, die eine modische brille trägt, die sich drüber aufregt, dass sie von der losen bekannten geduzt wird. die frau sagt: aber du wirst immerhin gut bezahlt, nachdem die polizistin etwas sagt, das auf eine 12stundenschicht hindeutet. die polizistin möchte verstanden werden und nicht immer die böse sein (meine interpretation). Ich wackle zwischen empathie für beide hin und her. ich mag das goldene gestell ihrer brille. Ich lasse jeden oberflächlichen gedanken zu. ich bin immer noch eine demonstrationstouristin. das hier, das macht nicht mut, es ist nur absurd. der mann, der das einzige megaphon bedient, das da ist, hat immer wieder hustenanfälle, während er von systemrelevanz, geschlossenen krankenhäusern, und etwas anderem erzählt. ich mache ein albernes selfie von mir in meiner blauenwolkenmaske, die mich aussehen lässt wie ein riesenbaby und den blauen beamten im hintergrund, die mit schnabelmasken eng aneinander gedrängt verloren neben einer garage stehen. sie sind nicht verloren. Der mann macht witze, dass sie die 3,5m nicht einhalten, ins megaphon. Ich mache witze über die ironie der neuen vermummungspflicht auf demos. Nachmittags: Es gewittert an vielen stellen in einem der länder mit den zufälligen grenzen (zufällig meins). Ich will nicht die Nachrichten lesen. (Es hilft gerade nicht weiter). (Heute aufgeben, vielleicht kommt morgen eine neue idee.)

 

2.5.2020

 

Jan, Hannover

Diese Müdigkeit ist eine einzige, unhaltbare Zumutung. Betont beiläufig kam sie vor ungefähr zwei Wochen angeschlendert, vergrub sich eines Nachts tief in meinem Körper und verschanzt sich seither dort. Jetzt schleppe ich mich durch die Tage, Last und Lastenträger zugleich, ein Packesel meiner selbst. Wenn ich an die frische Luft gehe, überkommen mich ausdauernde Gähn-Attacken, von denen mir am Ende des kleinen Ausmarschs die Kiefergelenke schmerzen. Drinnen geht es. Das wäre überhaupt ein guter Titel für meine Autobiographie: «Drinnen geht es».

Für gewöhnlich bereitet mir ein Gähnen schamloses Wohlgefühl, aber das Gift liegt in der Dosis, wie ein früherer Chef (in anderem Zusammenhang) so häufig zu mir sagte, dass ich ihm schließlich recht geben musste. «Ich bin so müde, vergähne mein Leben im Zeitlupentempo», sang Christiane Rösinger, die große Songwriterinnen-Liebe meines Lebens, und überhaupt fühlt sich der Lockdown mittlerweile an, als wäre er nur nach ihrem alten Lassie-Singers-Stück «Ist das wieder so ’ne Phase» geformt. Ich schlurfe durch die Tage, durch die Wohnung, diesen Parcours meiner ziellosen Selbstbeschäftigung, mit hängenden Schultern, mit gesenktem Kopf, die Augen jucken, die Fußsohlen schleifen träge übers Industrieparkett. Drinnen geht es, oder, wie Christiane Rösinger mit ihrer zweiten Band Britta sang: «Alles, was draußen liegt, tut weh.»

Früher wurden in dem Gebäude, in dem ich in diesen Wochen den Lockdown aussitze, Fabrikwerkzeuge hergestellt, mit denen wiederum Lokomotiven, Traktoren, Kanonen, U-Boot-Teile und Baumaschinen produziert wurden. Heute ist mein Werkzeug ein Notebook, das ich auf meinen übereinandergeschlagenen Oberschenkeln balanciere und in das ich Worte eingebe und noch mehr Worte, ohne dass sie eine Richtung einschlagen oder einen Rhythmus aufnehmen wollen.

Seit ich mich in Distanzierung vom äußeren Ansteckungsgeschehen in den umbauten Raum zurückgezogen habe, auf die mir zugeschriebenen Quadratmeter des Dämmerns und  Vor-sich-hin-Wohnens, habe ich nicht mehr richtig Musik gemacht, vielleicht ist das ein Grund dafür, dass ich keinen Groove mehr finde. Das Leben schlurft, und die Müdigkeit frisst sich durch alles hindurch. Mein Lesesessel, der auch zum Schreib- und Surfsessel geworden ist, passt sich dem Druck und der Form meines Körpers an, verschmilzt mit ihm, wächst um ihn herum, er nimmt meine Müdigkeit auf und gibt sie an mich zurück. Gemeinsam sind wir eine mächtige Maschine des Stillstands. Es ist eine Zumutung.

 

Berit, Greifswald

Ich leide unter Monotonie. Jeden Tag laufe ich 5000 Schritte die Straßen hinauf und hinab, jeden Tag bearbeiten die Kinder Arbeitsbögen, jeden Tag versuche ich einige der anfallenden Aufgaben zu erledigen, jeden Tag räumen wir Abends die Spielsachen zusammen. Nach wenigen Tagen liegt wieder auf allem Staub und es geht wieder von vorne los. Ich habe irgendwann zwischendrin vergessen, welcher Wochentag ist, einen wichtigen Termin verschlafen, einen Brief nicht rechtzeitig abgeschickt. Manchmal frage ich mich, ob die Zeit dadurch langsamer oder schneller verläuft?

 

Svenja, Köln

Die Autos sind wieder da. Sie fahren vor meinem Fenster, fast so laut wie vor der Krise. An der Eckkneipe stand heute eine Gruppe von Menschen um einen Tisch auf der Straße. Im Supermarkt ist es voll, niemand benutzt mehr Einkaufswagen und eine Frau kommt mir mit heruntergezogener Maske entgegen. Ich zucke zusammen und versuche mir vorzustellen, dass es einen guten Grund für ihr Verhalten gibt. Ich möchte allen Menschen sagen, dass sie ihre Masken nicht unters Kinn klemmen sollen, dass die Beule für die Nase ist, dass sie immer noch Abstand halten sollen. Die Stimmung auf der Straße ist ausgelassener und rücksichtsloser. Vielleicht können Menschen nicht lange in der Krise sein.

Am Abend verlinkt jemand einen Artikel aus dem New Yorker. Ich lese von dem anderen Krankheitsverlauf, von Lungen-, Nieren-, Gehirn- und Herzschäden, von Blutgerinnseln, unauffälligen Symptomen und ärztlicher Ratlosigkeit.

 

3.5.2020

 

Fabian, München 

Wie wäre es eigentlich, den Fußballbedürfnissen diverser gesellschaftlicher Größen dahingehend nachzugeben, die einschlägigen Austragungsorte zu Hochsicherheitseinrichtungen mit eigenen Laborkapazitäten und Testproduktionsanlagen aufzurüsten, zur möglichst autarken Kasernierung der Spieler et al.. Gut, geisterspielen müsste man dennoch, und auch gerade der internationale Austausch als vielleicht wesentliche Grundlage fantastischer (oder feuchter) Transfairzahlungsträume fiele aller Wahrscheinlichkeit nach aus, aber zumindest dem Fernsehpublikum wäre etwas geboten, und wer weiß, der eine oder andere Privatsender hätte sicher Interesse, das Leben der Spieler zwischen Feld und Tribünen nach dem Vorbild bekannter Scripted Reality-Formate zum sozialen Experiment aufzuwerten.

 

Sandra, Berlin

Es ist Sonntag Abend. Wir haben beschlossen, Montag fällt aus. Die ganze nächste Woche fällt aus. Wir nehmen uns eine Woche raus aus allem. Geht sich das aus? Wir werden sehen. Ich werde berichten.

4.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Meiner älteren Nachbarin ist langweilig. Sie sieht traurig aus, als sie mir meinen Teller (ich hatte ihr frischgebackene Ingwerkekse vor die Tür gestellt) über den Gartenzaun reicht. Wie mir stehen ihr die Haare zunehmend zu Berge. Sie vermisst ihre Unabhängigkeit. Allein einkaufen zu gehen. Alte Freundinnen zu besuchen, die weiter weg wohnen, so, wie sie es jedes Jahr macht. Eine von ihnen hatte am Telefon gesagt, dass sie Glück hätten, weil sie an das Alleinsein gewöhnt seien. “Wie aber geht es jetzt denen, die gerade jemanden verloren haben? Ich erinnere mich noch gut daran, wie das bei mir damals war.” –– Andere Frauen, mit denen ich mich austausche, erleben den Lockdown auch als positiv. Mehr Zeit für den Garten, das Kind. Das Leben entschleunigt. Trotz neuer Herausforderungen, wie der digitalen Lehre, oder, im Gegenteil, der Abwesenheit von Berufstätigkeit, weil frau in den bezahlten Urlaub geschickt wurde. –– Im Deutschlandfunk kommentiert ein Soziologe, dass es zwei Gruppen von Menschen gebe: jene, die den Lockdown fast unerträglich finden und jene, die sich darin nicht nur eingerichtet haben, sondern sogar wohl fühlen. Ich befinde mich irgendwo dazwischen, denke ich erst, erkenne aber dann, dass ich einem Selbstbetrug aufsitze, denn was mir wirklich zunehmend fehlt, ist Bewegungs-, Reise-, Interaktionsfreiheit. Nicht Freiheit in einem abstrakten, wie auch immer idealen oder idealisierten Sinne, sondern ganz praktisch. Spezifisch die Freiheit, meine Familie zu besuchen. –– Dazu passt die verstärkte Polizeipräsenz, die mein Mann und ich auf unserem wochenendlichen Spaziergang bemerken. Fünf Polizeiwagen auf Streife in einem Zeitraum von zwei Stunden (wohlgemerkt am Stadtrand). Das ist nicht normal. Das ist einfach nur neu. Und es bereitet mir enormes Unbehagen. Da kann ich verstehen, warum andere, gerade frisch eingezogene Nachbarn, zumindest in ihren Garten immer mal einen Gast einladen, oder zwei. Oder dass es mittlerweile Untergrund-Friseur-Netzwerke gibt. Oder Menschen, die dagegen aufbegehren, nachts nicht mehr unterwegs sein zu dürfen, dabei wollen sie doch nur Sternschnuppen beobachten. Unter Einhaltung aller Abstandsregeln, versteht sich. Langweilig ist mir übrigens nicht. Oder vielleicht doch.

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (11)

Dies ist der elfte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10)

Das mittlerweile über 132 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Janine, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Robert Heinze: @rob_heinze, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

 

20.04.2020

 

Tilman, Hamburg

In gebührendem Abstand sind wir gestern mit der Familie B/B spaziert. Dabei haben wir immer wieder durchgemischt, dass jeder mal mit jedem sprechen konnte. Ich werde sehr für mein Brot gelobt – das ich natürlich bereits in Vorkrisenzeiten buk! – und nach dem Rezept gefragt. Als wir uns verabschieden, treffen wir noch K. K sagt, “Alter, Tilman was war das für ein geiles Brot.” B/B sagt, “ja mega, wir haben eben auch schon gesagt, dass […]” Ich mache darauf aufmerksam, dass sie verschiedene Brote gegessen haben, also nicht nur verschiedene Werkstücke, sondern auch verschiedene Varianten. Jetzt denken bestimmt alle, dass ich ein verdammter Hexer bin. Ich gehe nach Hause und backe einen Hefezopf. (Der ist auch gelungen.)

Vorhin war ich dann bei A. Der soll jetzt mein neuer Hausundhofgitarrenbauer werden, nicht dass ein solcher Amateur wie ich das bräuchte, aber wer weiß, wozu das mal gut ist. Musikgeschäfte sind ähnlich der Trinität des Kompetenzgefälles – Weinläden, Skateshops, IT Fachleute – so eine Sache. Auf der einen Seite muss Dein Gegenüber mitbekommen, dass Du kein absoluter Neuling bist, auf der andern muss deutlich werden, dass Du seine Überlegenheit in fachlichen Dingen absolut anerkennst. Ich gebe also (1.) zu Protokoll, dass sich da amtliche Lollar Vintage Single Coils in der Tele befinden und (2.) dass ich gar nicht würdig bin, eine mit solchen Tonabnehmern bestückte Gitarre zu spielen. Vielleicht wäre das bei A. gar nicht nötig gewesen, der scheint ein aufrechter, vorurteilsfreier Mann zu sein. 

Fabian, München

Nur wenn man scheitert, wächst man auch – Headline, von heute oder aus dem Archiv, weiß ich nicht, habe keine Lust bloß, nachzusehen, und so außergewöhnlich ist das ja auch nicht, lebensbehilflich von Wachstum – seit wann wächst man eigentlich, bzw. mehr als bloß aus alten Kleidern hinaus, bloß, dass es sauer aufstößt, ein wenig, mich jetzt zu fragen, inwieweit das Selbstoptimierungsparadigma mit dem neoliberalen, zum Wachstum verdammten Kapitalismus globalisierter Märkte, bonmot, denn tatsächlich korrespondiert, blöde Frage, werfe ich ein, gegen mich selber, und stelle mit eine weitere, oder postuliere, ein Henne-Ei-Problem, und wie’s um den globalisierten, westlichen Menschen bestellt wäre, wenn sich an Stelle das Wachstumszwangs lebensratgebender psychologisierter, oder wahlweise Bullshitbingo-Ausrufer, und über und über und über sich selbst hinaus, und abwägend zwischen Zynismus und böserer Peolemik, für die aber hier die Ausdrucksmittel merkwürdigerweise fehlen, vielleicht doch noch ein Bier aufmachen, ein Phantasma von wegen keineswegs kostensparend bestmöglicher Ressourcennutzung gebildet hätte, wenn es schon sein muss, dass es mir nicht möglich zu sein scheint, usn abseits ökonomischer Zergliederungen zu denken, vielleicht doch lieber kein Bier mehr diese Woche, während gerade meine Position sich des Priviliegs erfreuen zu können scheint, sich vom, in gewissen Maßen, von Stillstand keine Rede, eingeschränkten Mobilitätsgraden und Körperkontaktdefiziten, mögen sie vorhanden sein, noch, gerade ökonomisch nicht bedroht fühlen zu müssen – quasi Tiefenentspannung als intersubjektives und -relationales Defizit.

Marie Isabel, Dunfermline

Ich frage mich, warum die Einträge spärlicher werden. Ist das Schweigen ein Zeichen der Gewöhnung? Oder der willkommenen Rückkehr teilweisen Alltags? Weil ja z.B. in Deutschland wieder bestimmte Geschäfte und Institutionen öffnen dürfen, während andere geschlossen bleiben. Ich lese nach, was wo wann wer und stoße auf das schöne Wort ‘Flickenteppich’. Fliegender Teppich wäre noch toller. Mit dem ließe sich unversehens und umweltfreundlich reisen, oder zumindest in sicherem Abstand über den Häusern schweben, in denen liebe Menschen wohnen, und winken, so von oben herab halt, aber doch ganz nah. Kultureinrichtungen, Schwimmbäder, Fitnesscenter – was ist mit Cafés? – etc. bleiben noch geschlossen. Darunter Orte, die mir im Moment fast am meisten fehlen. Außerdem: Abstandspflicht und Personenzählen überall; eventuell Sicherheitspersonal, das Eingänge kontrollieren soll. Buchhandlungen mit Türsteher klingen nur theoretisch cool. Maskenermutigung, weil sich zur Pflicht irgendwie niemand durchringt, angenehm zu tragen sind die übrigens nicht auf Dauer, das nur nebenbei. Werden sich die Menschen an diesen eigenwillig in eine scheinbar rückkehrende Normalität eingebauten Neuzustand gewöhnen oder ihn zumindest aushalten, und wie lange? Und was werden sie mitnehmen aus Lockdown-Zeiten? Eine differenziertere Wertschätzung für alltägliche Dinge? Für bis dahin selbstverständliche Freiheiten? Für andere Menschen und deren Bedürfnisse? Oder wird niemand etwas anders sehen, weil die existenzielle Bedrohung dann doch nicht so tief empfunden wurde, wie gedacht? (Die Angehörigen der Verstorbenen ausgenommen, denn ihr Leben ist zweifelsohne nicht mehr das gleiche.) Wird man den allgegenwärtigen Tod wieder vergessen, wenn nicht jeden Tag entsprechende (hoch selektive) Zahlen verkündet werden? Im Radio hier auf der Insel heute morgen Warnungen vor den psychologischen Folgeschäden der derzeitigen Beschränkungen. Vielleicht hat sich die Welt ja auch schon verändert, wir wissen es nur noch nicht.

21.04.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Irgendjemand mäht immer den Rasen. Das Gras in den umliegenden Gärten hat momentan einen noch schwereren Stand als sonst schon. Alternativ werden Autos gewaschen. Oder Wäsche. Oder beides. Die Sonne scheint jetzt schon seit Tagen so freundlich und ausdauernd, als fühle sie sich allein zuständig für die geistige Gesundheit der Inselbewohner. Nur der Löwenzahn strahlt noch gelber und ist zumindest um unser Haus sowie im Umland omnipräsent. Schmetterlinge und Co. freut’s. Laut BBC heute morgen hat die wöchentliche Todesrate in England und Wales den höchsten Stand seit zwanzig Jahren erreicht; die Zahlen für Schottland sind wohl ähnlich. Die Berichterstattung entwickelt sich und mit ihr ändern sich die Schlagzeilen. Es kann sein, dass auch GB über den Berg ist, zumindest für den Augenblick. Aber die Statistik zeigt auch: zwar geht eine Mehrheit der zusätzlichen Sterbefälle auf das Konto von Covid-19 aber eben nicht alle. Man wisse noch nichts Genaues, es werde Jahre dauern, die Situation zu analysieren. Instinkt und gesunder Menschenverstand zeigen sich wenig überrascht, aber ich weiß: Wissenschaft braucht Zeit, und für vorschnelle Schlüsse sollte frau sich nicht hergeben. 

Slata, München

Und wir beginnen, Leggins zu  tragen und Jogginghosen, lernen Geduld und Streit, der okay ist, der sich aushalten lässt, der sein darf. Die Wohnung wird zum sicheren Zufluchtsort, Nachbarn ab und zu, ja, im Treppenhaus, vor dem Müllcontainer, unter dem Balkon irgendwo, aber wir ignorieren einander und es ist schön so. Wir geben weniger Geld aus und schicken das Meiste, was wir an Paketen bestellen, wieder zurück, ein Anlass mehr, nach draußen zu gehen, wir brauchen mehr Essen, Schnittblumen, Putzlappen, Servietten, Toilettenpapier, tatsächlich, wobei dieses Thema, so typisch deutsch, finden wir. Emil zeigt sich einverstanden mit Spaziergängen, ohne großartige Versprechungen, einfach mal so, traut sich beim Fahrradfahren eine Hand zu heben, darf jeden Tag zwei große Kugeln Eis auf dem Marktplatz, weil er uns leid tut, weil er keinen außer uns hat gerade. Die Zeit lässt sich anhand des Wachstums einer Gurkenpflanze messen, jeden Tag zwei, drei neue Blätter, in Abhängigkeit von der Bewölkung, giftgrün, dünne Schlingen, Fangärmchen, wir wickeln sie vorsichtig um einen Holzstab.

22.04.2020

 

Nabard, Bonn

Ramadan steht vor der Tür und niemand in meiner Familie oder meinem Freundeskreis verspürt die Vorfreude die wir sonst die letzte Jahre immer hatten. Alles wird von dieser Pandemie bestimmt. Es wird keine Einladungen zum gemeinsamen Fastenbrechen geben. Keine gemeinsame Taraweh-Gebete (nächtliche Andacht) und von Eid-Fest ganz zu schweigen. Und wenn ich mir die letzten Tage die Menschenmengen, die steigenden Erkrankungszahlen und Toten sehe dann bin ich mir nicht sicher ob wir von einer “Normalisierung” bis zum Opfer-Fest sprechen können.

Überhaupt, von neuer “neuer Normalität” sprach J. Spahn. Was soll das heißen? Dieser Zustand darf nicht unsere Norm werden. Nur können wir gemeinsam dafür sorgen diese “Normalität” zu überwinden. Aber der Mensch ist anpassungsfähig. Ich bin gespannt was von all dem was wir jetzt erleben, sich dauerhaft etablieren kann. Vielleicht wenn jemand krank ist, nicht zur Arbeit zu gehen? Oder die allgemeinen Hygiene-Vorschriften? Lustig, wir im Westen sind so von uns überzeugt, sind so “zivilisiert”, viele haben sich vor der Pandemie nicht mal regelmäßig die Hände gewaschen. Naja. Habe heute frei, viel Sonne und Vitamin D warten auf mich. 

Janine, Flensburg

Wir haben selbstgenähte Gesichtsmasken geschenkt bekommen, von einer Freundin. Auf meiner sind Chihuahuas. Ich wollte unsere Freundin für die Masken bezahlen, doch sie will nichts. Sie sagt, sie habe es gern getan, sie habe schließlich die Zeit und sie fühle sich außerdem schäbig, an einer Krise etwas zu verdienen. Ich verstehe, was sie meint, aber gleichzeitig auch nicht. Überall nähen jetzt Frauen (von nähenden Männern habe ich bislang noch nichts gehört oder gesehen) daheim Gesichtsmasken für das soziale Umfeld. Wieder Stunde um Stunde unbezahlte Arbeit, die möglichst diskret und ohne Maulen erledigt werden soll. Eine muss es ja machen. Das Motto, auf das sich gerade das ganze Land stützt, wie mir scheint. Aber das stimmt nicht, es war natürlich auch davor schon so, dass Frauenzeit unentgeltlich für das Kollektiv zur Verfügung stehen sollte. Es ist Zeit, das Fürsorgegehalt endlich in der Politik, in den Medien, an den Abendbrottischen zu thematisieren.

Marie Isabel, Dunfermline

Ich versuche, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, aber die Gedanken gleiten immer wieder davon, wie auf einer Rutschbahn, in die Stadt, zum Flughafen, ins schottische Hochland, in Cafés, Parks, Bibliotheken, ins Museum, wo ich vor einem Gemälde stehen und mich hineinsaugen lassen kann in die Präsenz, die virtuelle Rundgänge und Reproduktionen (hallo, Walter Benjamin) eben doch nicht reproduzieren können, und dann wieder, Radio an, Internet, die unsäglichen Nachrichten, die tatsächliche Todeszahlen reproduzieren, vor ‘collateral damage’ (also noch mehr Toten durch verschleppte Krankheiten) warnen, und in denen von ‘social distancing’ bis mindestens Ende 2020 die Rede ist, und Tests (oder dem Fehlen dieser), und einem Militär, das sich ob seiner logistischen Leistung laut selbst auf die Schultern klopft und etwas vom Krieg gegen den unsichtbaren Feind schreit, es ist wie eine schlechte Farce, mit vielen Wiederholungen, mies geschrieben auch, klar, (eventuell spannend: eine teilweise virtuell abgehaltene Parlamentssitzung, geht das überhaupt?), und ich begreife, dass die Zeiten, in denen ich dachte, ich bräuchte den Umgang mit anderen Menschen nicht oder kaum, vorbei sind, und dass – worüber übrigens auch im Radio reflektiert wurde – mein Hirn den gewohnten Input vermisst, und dazu gehört nunmal das wunderbare Chaos der Begegnung mit Fremden und Freunden und und und und und und und, so sehr ich mich auch, mindful and all that, an der Natur und am Augenblick erfreue, genuin tief erfreue, so sehr fühlt sich das nicht selbst gewählte Alleinsein wie eine Schnur an um den Hals, die würgt, und das trotz aller Dankbarkeit dafür, dass ich ein Zuhause haben darf, in dem schmackhaft gekocht und gebacken wird, in dem geschrieben und übersetzt und Musik gehört (und manchmal in der Küche getanzt), Sport gemacht und von Bergen und Reisen geträumt wird, etc., ist alles sehr selbstbezogen, klar, an die Konsequenzen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, den frau momentan teils in Zeitlupe teils im Schnellfortlauf beobachten kann, für mich wie für alle anderen mag ich gar nicht – also betreibe ich eine Spendenaktion für eins der britischen Maggie’s Centres, die sich um Krebskranke kümmern, schreibe mal bessere mal schlechtere Gedichte und gehe mit einigen davon hausieren, denke darüber nach, wie und wo ich den nächsten Auftrag herbekommen könnte, laufe, was die Füße tragen, prokrastiniere, wechsele zwischen Terry Pratchett, Bernardine Evaristo und diversen anderen Autor:innen hin und her, plane Briefe und Postkarten, schreibe hier, obwohl ich eigentlich arbeiten müsste, etc. – was ich jetzt auch wieder, endlich, tun werde.

Nabard, Bonn

Der Abend vor dem Fastenmonat Ramadan und zum ersten Mal spüren wir in meiner Familie nach Wochen sowas wie “Normalität”, etwas bekanntes. Es herrscht eine ruhige, zufriedene Atmosphäre. Etwas was wir lange vermisst haben. Es geht vielen Freunden und ihren Familien ähnlich. Ich hoffe wir alle bleiben in dieser Zeit weiterhin gesund.

Parallel zu diesen Zeilen übt jemand in der Nähe Schlagzeug spielen! Ich seh mich schon in drei Wochen, jedes Mal kurz vor’m Iftar (Fastenbrechen) ihn erst leise und dann immer lauter zu verfluchen. Bitte entschuldige im voraus Unbekannter Nachbar. 

Fabian, München

Das wird nichts, nein, das, räuspert man sich innerlich, nur, wie um, Bedeutungsvöllerei könnte man es nennen, im Selbstgespräch, innerlich, bloß, das theatralische und existessentielle der gefühlsuntermauert betonten  Exzessmonotonien ex aequo Gedankenschleifen durch die Imitation eines diskursiven Reflexes zu plausibilisieren, vor sich selbst, immerhin, mehr, das, und, nichts zu erwarten, also Tiefe, wenn man so will, auch, Floskelhaftigkeiten, das hat seinen Reiz auch, mal sehen, und die Zeit vergeht oder verrinnt, wie Sand, schneller jetzt, in den Augen, krustig, in den Winkeln, Einwurf, Würze der Tage, und ein neues, erneutes, bedeutungsschwangeres, pseudo, Räuspern, aber jetzt mehr vor dem Hintergrund des Kristallisationspunkts, den abzuwarten tiefere Erkenntnis des Salzes kulminierter Zeit verspricht, während das Produkt der Kulmination, im Endeffekt doch nur eigener Körperfunktionen, nach den geringsten Berührungen schon zwischen den Fingern zerbröselt, ohne, das, merkliche Spuren zu hinterlassen, schwer, wird nichts, etwas Offensichtlicheres zu finden, als die Bedeutungslosigkeit emotionaler Zustände und Involviertheiten vor dem Hintergrund in Analogie zu stellen, ironisch natürlich, wenn der direkte, zum Glück, oder Körperkontakt fehlt, oder einen fatalistischen Beigeschmack zu bekommen, wenn die persönlichen, mehr als weniger kleinen Verzweiflungen und Empfindlichkeiten im Kontakt sich, gar nicht bereit, davor zu kapitulieren, sich vor die großen Zusammenhänge zu stellen, eine, man nimmt es natürlich nicht ernst, noch für existentiell, durch und durch egoistische, man möchte nicht sagen, Abkapselung, wo doch, im letzten Schritt und ultraironisch, es doch so nahe läge, das, unter Anführungszeichen, Verhalten national(istisch)er Strukturen in Analogie, direkt proportional, zu denken.

24.04.2020

 

 

Tilman, Hamburg

Im Herbst letzten Jahres habe ich eine Wohnungsräumung durch eine Gerichtsvollzieherin begleitet. Weil sich das alles lange zog, tauschten wir Nummern aus, damit sie mich auf dem Laufenden halten kann. Später schickte sie mir per Whatsapp noch Bilder von einzelnen Gegenständen “Gehört das der Schuldnerin?” oder “Soll das auch weg?”

Der Gerichtsvollzieherin geht es auch zu Coronazeiten gut. Sie macht Fahrradausflüge mit ihrem Sohn (außerdem ist sie großer New York Fan, war auch schon dort [eventuell sogar mehrmals?!]). Unser Kontakt ist abgebrochen, aber ihre Statusmitteilungen halten mich auf dem Laufenden.

Slata, München

Ab Montag werde ich nicht mehr in die Stadt fahren, da Maskenpflicht im Öffentlichen, deshalb fahre ich heute, das letzte Mal. Aufregung in der leeren S-Bahn, Bitte fahren Sie nur in dringenden Umständen, mein geliebtes München, Ab Montag den siebenundzwanzigsten April. Die Wahl der Schuhe früh morgens, keine Fahrradschuhe endlich, enge, lackierte, schöne Schuhe, der beste, am seltensten getragene Rock, eine Tasche anstelle des Rucksacks, ich bin bereit, ich komme. Dann aufgeregter Fahrscheinkauf, Einzelfahrkarten anstelle der Semestercard für halbes Jahr, fünf Euro pro Fahrt, ich bezahle, denn ich gönne es mir. Die S-Bahn leer und schweigsam, so, wie ich sie gern habe, angenehm kühl, geruchfrei, und ich sehe aus dem Fenster, dass München, ja natürlich, mehr ist als unser Dorf, in das wir zufällig, vor zwei Jahren, hineingeraten sind, ich stelle mir die Stadt als eine, ja eine Schönheit vor, die ich irgendwann schon kriegen, zu der ich irgendwann schon ziehen werde, warts nur ab, verlockend und unaushaltbar ist sie. Rapsfelder, Ansagen des Schaffners, blaukarierte weiche Sitze, ich betrachte jedes offene, nackte Gesicht, heute bin ich ein geladener Gast, nie war die Stadt reizender als heute, vielleicht, überhaupt, wäre die Welt besser, wenn sie weniger Menschen, und dann zurück und wieder Bad, Küche, Balkon, Rucksack und der kurze tägliche Mittagsschlaf nach dem vielen ermüdenden Lesen. 

Fabian, München

In den ersten Wochen hatte es einen gewissen Reiz, einander das Anonyme Tier zu identifizieren, das im Dokument den nicht vom Ersteller geladenen Autor*innen zugewiesen wird. Keiner hat sich die Mühe gemacht, statistisch zu erfassen, wie oft er oder sie als Anonymer Frosch auftauchte, als Einhorn, sogar Drache, Dinosaurier von Zeit zu Zeit, Axolotl oder, tatsächlich, das gab es, Quagga. Das hätte funktioniert, weil man sich selber nicht sieht, also welches Symbolbild einem zugewiesen wurde, und es ist ja kein Wunder, dass es eben den Reiz verliert, wenn man irgendwann alle Tier durchzuhaben meint oder darauf zu achten vergisst. Oder, Normalität hat schnell, um nicht den Euphemismus des Ausbleibens der Aufregung zu bemühen, etwas Abgehalftertes  an sich, das zeigt sich an den kleinen und pflanzt sich in den größeren Dingen fort.

 

25.04.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Ich füttere mein privates Journal mit Seiten aus dem kollektiven Tagebuch. Es kommt zu leichten Verdauungsbeschwerden. Der tägliche Wetterbericht: betrübt aber freundlich. Immer noch kein Regen. Bald werden wir wieder zu einer Wanderung aufbrechen, halb Richtung Wald, halb Richtung Bauernhof mit frischem Brot und Eiern und Scones. Auf dem Rückweg noch im Supermarkt Milch besorgen und ein paar Früchte, vielleicht. Sonst keine Veränderung. Der Lockdown dauert an. Ich sehe auf Twitter ein Foto aus dem Weinbergspark in Berlin Mitte, zumindest verortet der lakonisch-entsetzte Tweet es dort:

So viele Menschen auf einmal, so dicht beieinander, das hat hier schon lange niemand mehr gesehen. Gleichzeitig lese ich in der sozialmedialen Gerüchteküche, dass es im Süden der Insel an manchen Orten auch relativ ‘normal’ zugehe. Was soll frau glauben?

Immer wieder frage ich mich, was dieses Zurückgeworfensein auf sich selbst eigentlich mit einem macht. Ich schaue mit Bewunderung virtuell den Eltern in meinem Freundes- und Familienkreis zu dabei, wie sie sich um ihre Kinder kümmern. Mit Bewunderung, aber auch mit Schmerz, erinnert doch die Allgegenwart von kleinen Menschen in anderen Haushalten an eine ungewollte Abwesenheit in unserem. In einer WhatsApp-Gruppe, durch die ich mit anderen Survivors in Kontakt stehe, fragen wir uns kollektiv, wie sehr die Ungewissheit der derzeitigen Situation an die Zeit nach der Diagnose und während der Behandlungen erinnert.

Alte Traumata kommen wieder hoch, und wie es manchmal so ist, merkt frau erst, wenn sie total erschöpft ist, was eigentlich vor sich geht. Da hilft nur das, was eigentlich immer hilft: lieb zu sich selbst zu sein, verständnisvoll, Ruhe zu geben, selbst wenn sich der Staub fingerdick im Sonnenschein häuft oder alte Kisten auszupacken wären, Löwenzähne den Garten übernommen haben, Arbeit sich auch am Wochenende weiterführen ließe, etc. Selbstschutz und Selbstfürsorge werden in Krisenzeiten überlebenswichtig, denn das hier ist ein Langstreckenlauf, dessen Parameter sich vielleicht ändern werden, der aber nicht so einfach enden wird. Es geht immer weiter.

Svenja, Köln

Am Montag hat das Semester in NRW angefangen und jetzt unterrichte ich fünf Seminare in drei Städten von zu Hause. Mittlerweile habe ich eine Routine in digitaler Lehre entwickelt. Ich schreibe den Studierenden vor der ersten Sitzung Emails über Technik und unsere Kommunikation, bitte sie, sich einen Wecker zu stellen, und verlinke ihnen Margarete Stokowskis Text über Homeoffice. Ich bilde mir ein, dass das Informationen sind, die meinem 20jährigen Ich geholfen hätten.
Für die Sitzungen bereite ich Skripts vor, am Anfang frage ich immer: Könnt ihr mich gut hören? – Das fragt meine Therapeutin bei jedem unserer Telefonate und es hatte mich sehr beeindruckt, als sie es das erste mal tat. Manchmal mache ich Witze, wenn ich vor lauter Zoom-Fenstern den Überblick verliere. Ich weiß jetzt, dass ich den Chat nach unten rechts ziehen muss, und einen Screenshot von den Teilnehmern machen, denn wenn man das Whiteboard benutzt, verschwinden ihre Namen und dann sagt man Dinge wie: Du da unten, rechts Mitte.

Im Fanseminar haben wir uns mit unseren Fangegenständen vorgestellt und ich habe erzählt, wie ich meine Lieblingsband im King Georg getroffen habe, dass sie aus Canada kamen und ich ihnen unbedingt mitteilen wollte, auf welchem obskuren Weg ich sie gefunden hatte. Dass ich mich dann nicht traute, sie anzusprechen, dass meine Freundin gehen wollte, dass ich schon geschlagen an der Garderobe meine Jacke holen wollte und dann ein Poster stahl um es dem Sänger als Eisbrecher unter die Nase zu halten. Wie er meinen Namen falsch schrieb, wie mir so schnell nicht einfiel, wie man J auf englisch sagt und wie er schrieb, dass ich sweet bleiben sollte. Ich erzählte nicht, dass er mich danach zu einem Osterfeuer einlud und ich nicht mitging, weil ich noch nicht in Köln wohnte und mich in einer fremdem Stadt verloren gehen sah.

Abends ging ich an den Rhein, es liegen noch zwei Geisterschiffe am Ufer. Ganz am Anfang der Krise hatte eins einen Eimer Rosen auf den Fußweg gestellt, damit die Spaziergänger sie mitnehmen können. Die Rosen sahen bereits sehr mitgenommen aus und ich ließ sie stehen, weil ich wusste, dass man solche Rosen in die Badewanne oder zumindest ins Spülbecken legen muss, aber ich wasche mich und mein Geschirr gerade sehr oft.

Auch dem Rückweg kam mir ein Mann in einer dunklen Straße entgegen. Er hielt sein Telefon vor dem Mund wie eine Zigarette und es erleuchtete sein Gesicht von unten als erzähle er eine Gruselgeschichte.

Slata, München

Ein Unvermögen, Zeit abzuschätzen, festzusetzen; eine schockierende Erfahrung, nicht Herr seiner Zeit zu sein. Anfangs, als alle dachten, es dauert einen Monat, schrieb man so drauf los, Beobachtungen, Bekenntnisse, eine Seltsamkeit nach der nächsten pointiert, und jetzt, wo es höchst vage Angaben über die Dauer und das Ende des Ausnahmezustands gibt, die keinen Hinweis geben auf die Aufnahme des Alltags ‒

Warum wünschen wir uns Normalität, weg von der Ausnahme, wollen eine Rückkehr zum Gewohnten, auf das sich nimmer etwas ändert. Das Normale, das ist so, hin und her, hin und her, irgendwann dann Hort am späten Nachmittag, Taschen auspacken, Ranzen, Hausaufgaben, Briefe, Unterschriften, Wäscheklammern, Pizza, Geschirr, schnellerschneller, am Wochenende dann Gartencenter, Plastikkübel, Geranien in vier verschiedenen Farben, von jeder Farbe einen Karton voll. Wie lebte es sich früher, davor denn, jeder ja auch mit dem Kind abwechselnd zuhause, gemeinsame Nächte mit Trinkflaschen, Ersatzschnullern, jeder trägt sich die Termine des anderen in den Kalender ein, plant Puffer ein für pünktliche Kindesübergabe, und jetzt, das Kind ist deutlich selbständiger, vernünftiger, kompromissbereiter, es lässt sich leben, ganz gut sogar, wir kaufen jeden Tag deutsche süße Erdbeeren, die ersten des Jahres, lassen uns Haare, Bärte wachsen, finden einander, ab und zu, wieder attraktiv, einmal, da lagen wir zusammen auf einer Decke draußen und sahen die Wolken an, ohne Handy, ohne gar nichts. Ich werde weise. Bald kann ich einen Berg erklimmen, davon gibt es genug hier in der Gegend, von dort aus Geduld, Achtsamkeit und einen Sinn der Dinge predigen.

 

Rike, Köln

Seit unbestimmten Tagen befinde ich mich in einem Livestream kann man nicht gestoppt werden. Die Phantasie, den Laptop mit doppelseitigem Klebeband an meinen Oberschenkeln festzugaffern, damit dieses Objekt während des Aufnehmens aller Mahlzeiten nicht runterstürzt, während ich damit durch die Wohnung laufe und dauernd irgendwer aus diesem Gerät heraus etwas sagt zu mir, meistens, ohne mich zu meinen. Wie ich mich jetzt an dem Objekt festkralle, als wäre es meine Familie, alle Menschen, die ich gerne hab und die Natur gleichzeitig. Die erste Online-Konferenz: BEYOND CRISIS. Ist die Coronakrise eine Chance oder ein Rückschlag für eine ökosoziale Transformation?“ „Can the real transformation designer stand up, please?“ Sich mit unbekannten Menschen austauschen ist wie in Butter baden. Der Konferenzleiter, ein Professor, isst Müsli in seiner Küche nach virtuellem Yoga. Abends tanzen die restlichen 90 Verbliebenen in ihren Zimmern zu Livestream, einer Frau geht dabei die Stehlampe kaputt, jemand hat sein Kind vor dem Laptop vergessen, durch die trashigen Homeoffice-Vernebelungsshintergründe von Zoom ist es 1-A-Videokunst aus den 2000ern. Es erinnert mich an den Moment in Magnolia, in dem es überall Frösche regnet und die verschiedenen Menschen, gefangen in ihren Situationen, alle alleine gemeinsam irgendwie sind.
Heute kommt ein Carepaket von der Mutter an. Seit gestern habe ich die Pflicht, im Nahverkehr kleine weiße Wölkchen über blauem Himmel zu tragen. In der Wohngemeinschaft ein verbindender Moment, als 4 junge Frauen die von anderen Frauen handgenähten Dinger über die Gesichter ziehen und ein Foto machen und sagen bitte lächeln, weil was sonst, Gesichtsmaskenwieschwanzvergleich. Ja, auch wir kennen keine Maskennähenden Männer scheinen damit beschäftigt, jetzt Experten zu sein. „Can the real transformation designer stand up, please?“ 

26.04.2020

 

Nabard, Bonn

Die ersten drei Tage im Corona-Ramadan. Keine Anrufe von Freunden und Bekannten mit Einladungen zum gemeinsamen Fastenbrechen. Kein nörgelnder Hinweis meiner Mutter ich möge doch zum nächtlichen Gebet in die Moschee gehen. Gleichzeitig sitzen wir nach dem essen im Wohnzimmer und blicken teils fassungslos teils traurig richtig TV wo die große Moschee in Mekka völlig menschenleer ist. Nur die Kameraleute die einzelne Aufnahmen von der Kaaba machen und ein Imam der die Suren im Koran rezitiert.

Als Familie sind wir schon immer ein eingeschworener Haufen gewesen, jetzt habe ich das Gefühl dass wir einander noch mehr halt geben. Die Stunden vor dem Fastenbrechen waren immer die schwierigsten in denen, meistens meine Mutter, gekocht hat und wir Kinder nichts in der Küche zu suchen hatten. Jetzt durften wir alle aushelfen. Schneiden und schnippeln, den Teig kneten, den Salat anrichten und hier und dort würzen. Und die Minuten zählen bis wir das Fasten mit drei Datteln und einem Schluck Milch brechen können. Und wie es sich für eine große Familie gehört lachen und diskutieren wir am Esstisch über alle Themen der Welt, nur nicht über die Pandemie noch über steigenden Toten in Afghanistan. “Wer vermisst und trauert um sie schon?”, sagte meine Mama gestern Mittag, “ob eine Bombe oder ein Virus, seien wir dankbar dass wir hier sein dürfen und ihr Kinder gesund seid.”

Solche Sätze kenne ich schon seit ich denken kann, dankbar sein, hier sein zu dürfen. In Zeiten dieser Pandemie bin ich’s zumindest mehr denn jeh. 

Fabian, München

Kleine Gedankenblasen stürzen nach außen, die zugehörigen Gravitationszentren stürzen nach innen und “in der Mitte treffen sie einander”, zwangsgestört, neurotisch, oder nur beinahe, jetzt hat die Bundesregierung sich auf eine App geeinigt, wie schön, jetzt hat die Bundesregierung auf einen zentralen Ansatz verzichtet, oder sich vom Gegenteil überzeugen lassen – wer würde zentral, und zumindest wahrscheinlich angreifbar gesicherte, umfassende Bewegungsdaten von Bürgern schon missbrauchen wollen, andererseits, wer will das verstehen, also, wer, na klar, da sind sicher genügend Leute im Umfeld der entscheidenden oder entschiedenen Instanzen, die die technischen Infrastrukturen und Anwendungen softwareseitig gut genug verstehen, um den kurzfristigen Reizen des reizenden Anscheins einer nachhaltig erhöhten Maßes an Kontrolle über die Risiken der Situation ein zumindest gehöriges Bewusstsein für die ab- und unabwägbaren Risiken deines scheinbaren Höchstmaßes an Kontrolle für die Bevölkerung, vielleicht, an sich, entgegenzuhalten, und wie’s scheint sogar wirksam, wirklich, man wird sehen – wobei persönlich ich mir ohnehin nicht vorstellen kann, mein Smartphone deswegen jetzt, oder von jetzt an, plötzlich, öfters spazieren zu führen, außer Haus, tatsächlich, als bisher.

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (10)

Dies ist der zehnte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9)

Das mittlerweile über 132 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Janine, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Robert Heinze: @rob_heinze, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

 

16.04.2020

 

Slata, München

Kinder sind schon immer Privatsache, ja, Privatsache von Frauen also, erstens, ist es klar, dass Frauen mit Kindern zuhause bleiben, zumindest die Verantwortung tragen für sie offiziell, und zweitens, sind sie selber schuld, dass sie Kinder haben, komisch, masochistisch. Und Akademiker und Lyriker, das sind die Letzten, die Kinder bekommen, und anfangen, sich Menschen vorzustellen, die Kinder haben, also Frauen, die mit Kindern zuhause bleiben irgendwie, offiziell, bis die Schule anfängt, bis der Hort öffnet, so Ende Mai vielleicht, vielleicht auch nicht, und dann die Sommerferien. Kein Problem, sage ich, Klar, Ich werde die Erste sein in der Geschichte der Graduiertenschule, die ihre Diss pünktlich abgibt, Ich halte mit.

 

Sonja, Köln

Ich treffe mich mit einer Freundin zum Mittagessen. Wir setzen uns auf eine Steinbank ohne Lehne und breiten das To-Go-Essen zwischen uns aus. Das Essen ist unser Abstand. Ein Kamerateam baut  sich vor uns auf. Ob sie uns was fragen dürften. Nein. Wie schmeckt deins? Zu der Coronakrise. Nein. Und deins? Nur kurz. Nein. Nächste Woche öffnen die Läden wieder. Wir essen und vermissen uns.

Marie Isabel, Dunfermline

Lockdown: Ein kurzer, unvollständiger Katalog der Veränderung im Stillstand (in no particular order)

  1. Das Wetter wird momentan von Kindern gemacht. Es besteht hauptsächlich aus Regenbögen, lächelnden Sonnen und verspäteten Ostereierschauern.
  2. Auf Spaziergängen entschuldige ich mich wortreich bei Hummeln, die in mich hineinbrummen. Fremde Abstandhalter, denen ich enthusiastisch zuwinke, quittieren das mit einem bestürzten Gesichtsausdruck.
  3. Wie sich herausstellt, teilen viele meiner Nachbarn ihr Heim mit mindestens einem Bären. Einer mit einem Dudelsack.
  4. Ich ertappe mich dabei, wie ich mein Essen rationiere. Mahlzeiten werden quasi militärisch geplant.
  5. Golfkurse eignen sich wunderbar als Parkersatz. Sieht man von Ballspielern, Radfahrern, Bunkermitsandkastenverwechslern und hundekackevergesslichen Leinenhaltern ab.
  6. Alles blüht irgendwie heller, bunter, lauter dieses Jahr. An grauen Tagen fast schrill.

Nach Monaten des Ringens um eine reguläre Schreibpraxis ist sie plötzlich da.

  1. Die kollektive Begeisterung darüber, nachts kurz nach 11 einen schon für ausgestorben gehaltenen Supermarkt home delivery slot zu ergattern, berührt unangenehm.
  2. Wochentage schmelzen ineinander. War heute Mittwoch?
  3. Fußläufe in der Umgegend sind länger geworden und erschließen neue Teile der Landkarte.
  4. Twitter entfaltet, neben seinen Rollen als Zeitfresser und Portal of Doom, neues Potential als Medium der Welterweiterung und des Zusammenhalts im poetischen Sinne.
  5. Manchmal ist mein Hunger nach frischer Luft schier unstillbar.

 

Fabian, München

Als ob das nötig gewesen wäre, aber jetzt hab ich eine neue Tastatur, und es schreibt sich nach kurzer Eingewöhnung doch recht gut damit. Noch nicht alle Tasten treffen sich mit den Fingerspitzen, vor allem die linke Shift-Taste bereitet, sobald ich darüber nachzudenken beginne, Probleme, aber auch das wird besser. Alles in allem ein schönes Gerät, auch wenn die Konfigurationssoftware, um mich den Worten eines Foristen in einem einschlägigen Forum anzuschließen, ein kompletter Fuckup ist im Vergleich mit den Versionen für ältere Geräte. Ein schönes Gerät, alles in allem zwar, aber bei der Software hat offenbar jemand um so viele Ecken gedacht, dass gar nichts auf Anhieb ordentlich funktioniert, und die Hälfte der Funktionen auch später nicht wie gedacht.

 

Berit, Greifswald

Gut ist, dass ich die Menschen mag, mit denen ich in dieser Wohnung aufeinander hänge. Meine Kinder schlafen jetzt manchmal Arm in Arm ein, sie sind sich sehr nahe gekommen, vielleicht sind sie bessere Freunde, als sie jemals zuvor waren. Vielleicht ist das wichtiger als die anderen Dinge.

Ich rechne aus, was es bedeutet, wenn die Kindergärten bis August zu bleiben, wenn ich noch viel mehr Monate alles parallel machen muss und dabei irgendwie stabil bleiben. Die Tage sind so lang geworden. Man muss in Krisensituationen Entscheidungen treffen, wenn man eigentlich überhaupt nicht dazu im Stande ist. Zum Glück habe ich das schon zuvor in meinem Leben üben müssen, denke ich gerade manchmal. Atmen, Essen kochen, weitermachen.

 

17.04.2020

 

Fabian, München

Hoffen auf mehr und jede kategorische Aussage vermeiden, jetzt tiefenentspannen und fünfzehn Kilometer zu Fuß gegangen sein, unter schönstem Spätfrühlingshimmel, blau und so sonnig und warm, dass ich mir hier nach dem Einkauf fast Sorgen mache, um die zwei Packungen französischen Käses und vier Packungen Wurst- und Schinkenaufschnitt, für die ich den Umweg, weil’s so schön war, nciht auf mich genommen habe, weil’s die gleichen Güter sehr viel direkter am gewohnten Weg gegeben hätte, und ganz ohne die dreiviertel Stunde weiteren, aber immerhin zügigen Fußwegs nach Hause, mangels praktikabler öffentlicher Verbindungen.

Beunruhigender, und selbst als das Gedränge an sich, ist die scheinbare Sorglosigkeit eines Gutteils der Mit-Konsumenten bezüglich der, zugegebenermaßen ist das schwer angesichts der vermutlich möglichst effizient angeordneten Regalreihen, einzuhaltenden Abstandsregeln. Wie unfreiwillig komisch dagegen die ab kommendem Montag geltende Verordnung des bayerischen Freistaats von Wegen jetzt einer genehmigten Kontaktperson außerhalb des eigenen Haushalts wirkt …

 

Marie Isabel, Dunfermline

Mein Tag beginnt mit einem Tombolagewinn. Eine Bekannte, die ihren Lebensunterhalt u.a. mit kreativen Näharbeiten verdient, hatte die Verlosung initiiert, um Spenden für die Foodbank vor Ort zu sammeln. Wie zeitgemäß das ist, spiegeln die BBC-Nachrichten am Abend: Die Nachfrage nach kostenlosen Essenspaketen hat infolge des Lockdown enorm zugenommen. Man spricht jetzt auch endlich darüber, dass sich im Windschatten der Pandemie eine Welle anderer gesundheitlicher Probleme anstaut: Herzinfarkte, die nicht behandelt, Krebserkrankungen, die nicht diagnostiziert werden, psychische Einschränkungen; Notfallmediziner berichten von Menschen, die auf teils brutale Weise versucht haben, ihr Leben zu beenden, von den vermehrt Hilfe suchenden Opfern häuslicher Gewalt. Die Nachrichten zeigen auch Bilder von jenen, die an Covid-19 verstorben sind, und erzählen einige ihrer Geschichten. Es schmerzt, dem zuzuhören, aber es heißt auch, wegzukommen von den Statistiken, den wertungslosen Zahlen, und daran zu erinnern, dass jede:r Verstorbene ein Individuum, eine ganze Welt für sich war, die nun verschwunden ist.

 

18.04.2020

 

Shida

Ich gehe nicht mehr ins Internet, ich lese keine Artikel mehr, seitdem geht es mir prima. Im Internet sind alle am Schimpfen und am Besserwissen, das ist im Internet immer so, mir kam es aber noch nie so feindselig vor wie in diesen Tagen. Vielleicht liegt es daran, dass aus allen Menschen veränderte Corona-Persönlichkeiten gewachsen sind und sich bisherige Allianzen und Vertrauenseben neu sortieren müssen. Ich hätte Grund, mich über die zu freuen, die meine aktuelle Lobby sein könnten, meine Lebenssituation unterstützen und kritisch bleiben. Meine neue Corona-Persönlichkeit aber hat neue Schwerpunkte, ist besessen von einer Virus-Bekämpfung und findet plötzlich eine Anschlussfähigkeit an konservativeren Haltungen, während sie feministischen Perspektiven gerade nicht wie sonst in allen Punkten dankbar zustimmt. Meine Corona-Persönlichkeit ist auf Durchhaltemodus geschaltet. Nicht nachdenken, auf keinen Fall hinterfragen, Augen zu, durch. Kein Platz für Ärger. Zu früh wach werden, arbeiten, care-arbeiten, drei Stunden Wein bzw. Tee vor Netflix bzw. Buch trinken, schlafen gehen, zu wenig schlafen. Das ist das, was ein kapitalistisches Leben normaler Weise mit uns macht und auf diese Art wird man stumpf und doof, ich weiß. Das ist mir aber gerade egal, ich muss hier einen Laden zusammenhalten (alle in meinem Laden müssen einen Laden zusammenhalten. Alle im Deutschland-Laden müssen den Deutschland-Laden zusammenhalten. Deswegen vielleicht bin ich zum ersten Mal in meinem Leben nicht auf Seiten der klugen und kritischen Geister, denn sie sind nicht in den Modus mit den verkniffenen Lippen gewechselt). Weil all das ja irgendwann vorbei ist, mache ich mir keine allzu großen Sorgen, dass ich stumpf und doof bleibe.

Bleiben außerdem ja noch die 30 Minuten Spaziergang am Tag und das Hörbuch, das ich dabei höre. Ich hatte gehofft, dass die 20 Stunden nicht nötig sein werden, um Corona zu überstehen. Das hat sich also erledigt und langsam lacht man ja doch über das einstige Ich, das mal dachte, in ein paar Wochen sei der Spuk vielleicht vorbei. Bei meinen Spaziergängen hier auf dem Land habe ich noch keine Menschenseele getroffen. Ich gehe an Vorgärten vorbei, in denen die Menschen weiterhin mit ausgewählten Freund:innen im 2m-Abstand Kaffee und Kuchen trinken und freundlich winken. Bei denen sieht es irgendwie immer so aus, als würde es ihnen richtig gut gehen. Wenn sie sich verabschieden, geht es ihnen vermutlich wieder so, als hätten sie etwas Verbotenes getan (haben sie ja auch) und als wäre es das schale Gefühl nach einem Abschied ohne Berührungen irgendwie auch nicht wert gewesen.

 

Fabian, München

Den ganzen Tag lang Pynchon und Sauerteig und Haushaltsalltäglichkeiten und sonst gar nichts und gut ist’s und tut’s, wenn über’n allfälligen Kontakt und die üblichen Verdächtigen gar keine Welthaltigkeit den Tag kerbt. Zum Teil ist das natürlich nicht ganz wahr, aber gefühlt genug, um sich soweit optimistisch von den acht Stunden der ersten vier Kapitel von Gravity’s Rainbow aufmerksamkeitstechisch überfordern zu lassen und doch zumindest das Gefühl zu haben, bis jetzt noch nicht völlig den Faden verloren zu haben. Andrerseits rückt jetzt mal endgültig die Aussicht, dieses grandiose Monstrum von Buch in näherer Zukunft noch’mal zu ende zu lesen, in nicht absehbare Ferne.

 

19.04.2020

 

Slata, München

Die Einträge im Kollektiven Tagebuch bleiben aus, weil es den Leuten so gut geht auf einmal, seit den Lockerungen der Coronamaßnahmen, oder weil es ihnen so schlecht geht vielleicht. Mir geht es weder gut noch schlecht, mal so, mal so, auf ungewohnte Weise jeweils, ich übe mich in Geduld, gieße Kürbisse auf dem Balkon, versuche Wutausbrüche zu vermeiden, die Wut nicht auf Unschuldige zu projizieren, denn wer hat schon Schuld, an irgendwas, wahrscheinlich bin ich die Einzige, die etwas vorausgesehen haben müsste, umsortiert, vorbereitet, ein Beispiel an innerer Ausdauer und immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen, so müsste es sein. Die Diskrepanz zwischen Sein und Soll macht mich fertig. Und keinerlei Maßstäbe, keinerlei Gewissheiten, ob das, was ich eigentlich tue gerade, eher, was ich alles nicht tue, ob es alles einen Sinn hat und ob ich jetzt zu den gesetzestreuen, pedantischen, ängstlichen Bürgern gehöre, die ich verachtet habe.

 

Marie Isabel, Dunfermline

Irgendwie haben wir es geschafft, uns mit dem Wochenende zu umspinnen, einem Kokon aus sommersprossenhervorlockendem Sonnenschein, einer Wanderung durch nahen Wald, an (irgendwie wieder mehr befahrenen) Straßen entlang und über frühlingsbestelltes Ackerland. Uns vollzusaugen mit Sonnenschein und Vogelspäherei (das erste Schwalbenpärchen!), Ruhe und Himmelblau, Zweisamkeit und Zweialleinsamkeit (je nach Bedürfnis). Uns zu beschäftigen mit Putzen, Backen, Kochen, etc.; die Liste der sich stets magisch erneuernden Hausarbeiten ist zum Alltagsanker in dem Meer aus Seltsamkeiten und unerträglichem Politikerversagen geworden [https://twitter.com/thesundaytimes/status/1251563504118771712?s=20], das momentan an unser Zuhause anbrandet. Zum Lesen reicht die Konzentration nur seitenweise, dabei ist der Wunsch durchaus da. Mein Mann steigt den Ben Nevis auf unserer kleinen Haustreppe hinauf und hinunter. Beim Abendbrot frage ich ihn, ob er unterwegs viele Leute getroffen hat. Er meint, auf dem pony track sei ja immer viel los. Die BBC strahlt One World: Together at Home aus, ein musikalisches Dankeschön an keyworkers on the front line – Wohlfühlfernsehen [https://twitter.com/jonoread/status/1251956332284063745?s=20]. Während die Rolling Stones in sozialer Distanz gemeinsam spielen You Can’t Always Get What You Want liege ich in der Wanne und simuliere ein Wellenbad (den Gelenken fehlt die Wassergymnastik). Andere Länder, Deutschland, Österreich, Dänemark, führen langsam Lockerungen ein. Hier diskutiert man darüber, ob man schon über eine Exit-Strategie diskutieren sollte. Ich häkele heftig weiter am Kokon.

 

Viktor, Frankfurt

Ich traue mich manchmal nicht, über etwas zu sprechen, was ich selbst als ein Problem begreife, aber wofür ich noch keine Lösungsideen habe. Seit Anfang der Corona-Krise beobachte ich unter Menschen, die ich alle einer ähnlichen Sozialisation zuordnen würde, sehr unterschiedliche Reaktionen und sehr unterschiedliche Emotionalität im Umgang mit der Krise. Grob umrissen: Es geht um die Frage, was der „vernünftigste“ Umgang mit der Krise ist, harter Lockdown oder Lockerung und mit der Krise leben lernen?

Unnötig zu sagen, dass es immer die persönliche Situation ist, die eher zu der Lockdown- oder zu der Locker-bleiben-Seite zieht. Das ist banal. Viel wichtiger – und trauriger – finde ich, dass es offensichtlich der einen wie der anderen Seite schwerfällt, empathisch mit der anderen Seite zu sein. Mit empathisch meine ich vor allem, die Motive der anderen Seite zu verstehen (nicht sie auch zwingend zu teilen).

Wut entlädt sich.

Es gibt Streit.

Und dabei übersehen wir oft, dass das, was uns aufregt, oft das ist, was wir selbst nicht aussprechen.

Ich hatte selber ein wenig Angst vor der Situation: Vater, Lehrer, Unterhalter und Versorger zu sein. Zu viele Rollen auf einmal, weniger Zeit für eigene Belange. Dann habe ich darauf geachtet, wann ich die Nerven für welche Rollen hatte und wann nicht. Hat nicht immer funktioniert, aber meistens hat das dann funktioniert, wenn ich mich in keine Rolle zwang. Bewegung hilft mir und meinem Sohn, viel Bewegung. Danach funktioniert das Lernen gut und die Motivation muss nicht mit Handy-Zocken oder YouTube-Schauen erkauft werden.

Aber das funktioniert nicht bei jedem und jeder, weil zB kein Park in der Nähe ist, oder einfach zu viele Menschen auf engem Raum sind. Was aber meiner Meinung nach immer hilfreich ist, offen auszusprechen, dass man/frau gerade wütend ist, oder hilflos oder einfach nur müde. Aber dafür muss mensch zuerst ehrlich zu sich selbst sein.

 

Fabian, München

Der Mensch ist, oder ist der Mensch, wenn er spielt, oder, der Mensch ist, was auch immer, wenn er irgend’was, spontaner Gedanke, um zu, irgend’was, bedenken, dass es vermutlich tatsächlich kein Modell gibt, das dieses epistemologische Etwas, um von allen möglichen Naturalisierungen menschlichen Verhaltens, ich bin sicher, ein komplexerer Gedanke, der mehr zu bieten hätte, oder weniger reduzierte, ruht im <hintergrund des Denkens grade hier und ist, wie üblich, dabei sich zu verflüchtigen, bevor er Wore gefunden hätte, und grade lässt sich das gut beobachten, nicht wesentlich anders, nur monotoner als sonst, treffend, beobachten, dass, quasi, torum pro parte, oder eher, ganz oder recht grenzdebil oder -verliebt, civitas, oder doch eher poplus pro civibus, schön, beobachten, dass alle Beteiligten die Funktionen der Menschen für die statt in der Gesellschaft doch eher recht arg auf ein paar viel weniger diffus zwischen Vergnügen und den Schrecklichkeiten der und in der Welt changierende semantische Felder reduzieren. Vielleicht macht das jede Krise, oder vielleicht machen das alle Menschheiten der Geschichte mit ihren Krisen, die Aufmerksamkeiten solange, oder mindestens ein paar Wochen lang so zu konzentrieren, dass man sich, oder als ganzes , die, dran gewöhnt, um mit dem funktionalen Differenzieren fortzufahren.

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (9)

Dies ist der neunte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8)

Das mittlerweile über 120 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

 

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Janine, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Robert Heinze: @rob_heinze, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

 

10.04.2020

Viktor, Frankfurt

Zwei Bekannte berichteten mir, dass sie ganz überrascht darüber sind, wie intensiv und positiv sie die Zeit mit ihren Kindern erleben (es sind zwei Mütter). Die eine meint, sie überlege sogar, ihre Kinder vom Kindergarten abzumelden (was sie nicht tun wird, da bin ich mir sicher). Vor diesen Gesprächen war in der FR der Leserinnenbrief einer Psychologin aus Mainz, die in einer Familienberatungsstelle arbeitet und die berichtete, dass die Gewalt in einigen Familien steigt. Sie nannte einige Beispiele von Misshandlungen und Überforderungen, die ganz akut waren.

Das klingt abgedroschen, aber es trifft wohl zu: Wenn wir mit einer nicht zu ändernden Situation konfrontiert sind, dann zeigen sich Charakterzüge, die wir sonst nicht sehen würden oder unter anderen Umständen verstecken können.

Was mir auch auffällt: Menschen, die am Anfang der Corona-Krise sagten, sie kämen allein sehr gut zurecht, sagen nun, dass es doch einen Unterschied gebe, ob sie freiwillig oder gezwungenermaßen allein sein müssen.

Slata, München

Eine gewisse abstrakte Freude macht sich breit, das schon, Schokoladenküken, Stifte zum Eierfärben, Marzipanbonbons, ich stelle mir einen idealen Tag vor, einen wenigstens in den fünf Wochen, wie das glückliche Kind die Blumentöpfe auf dem Balkon absucht, Topf für Topf, eine Schokoladenfigur nach der anderen, den vollgefüllten Korb zufrieden auf den Küchentisch stellt, und dann färben wir Eier und backen einen Kuchen und es wird so wunderbar alles, so gut organisiert, durchgeplant und vorbereitet. Die Nachbarn haben Ostereier aus Neonplastik in ihrem Garten hängen. Die Schweißnaht auf diesen Eiern sieht nach einem Kaiserschnitt aus, die Küken rausgeholt, wieder zugeklebt, als wäre nichts passiert. Ich will konsumieren, sage ich, Die einfachste, billigste, im übertragenen Sinn, Art von Freude, will alte Sachen wegschmeißen und neue Sachen kaufen, Sommerkleider, leichte Leggins, Leinenröcke, koreanische Gesichtspeelings, dann noch Plastikeier halt, will wenigstens einmal die Woche reduzierte Wintermützen anprobieren, die Adrenalinkicks bleiben aus, und ich beginne ernsthaft zu überlegen, ob das gerade etwas ist, was man Enthaltsamkeit nennt.

 

Sandra, Berlin

Mein Partner sagt ja gern, ich bin die größte (aber trotzdem seinerseits sehr geschätzte) Klugscheißerin, die er kennt. Oh, und wie er recht hat. In diesem Sinne, to whom it may concern: https://www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/der-oder-das-Virus

Ansonsten: Ich schreibe lebe schreie schlafe und wache hier weiter, in meiner kleinen Lebensbox. Ab und zu muss ich hier raus (kein Balkon, kein Garten, ein Kind). Und nein, wir hatten keinerlei Besuch seit dem KontakteinschränkungsDings, nur auf meinem Bildschirm treffe ich mich mit Freund_innen. Wir trinken, reden, spekulieren, widersprechen uns. Eigentlich nehmen wir uns mehr Zeit füreinander als üblich, ich führe lange Gespräche mit Menschen, die ich sonst selten sehe. Täglich gehe ich mit dem Kind raus, wir sind süchtig nach Licht und Sonne, beobachten Käfer, Katzen, Eichhörnchen, Menschen, sammeln Äste und Steine, untersuchen die Erde, lauschen den Geräuschen der Vögel. Das Kind grüsst alle Vorbeikommenden, brabbelt energisch gestikulierend drauflos und steckt so gut wie alle mit seiner unerschöpflich guten Laune an, die auch seine Stürze, und damit einhergehende Schrammen nur kurzfristig trüben können. Ein einziges Mal waren wir ultrakorrekt Distanzspazieren mit einer Freundin, aber davon schrieb ich ja schon. Ich habe bis heute große Schwierigkeiten mit Hierarchien, Regeln und Beschränkungen, aber hier mache ich, machen wir keine Ausnahmen. Gestern brachte der Paketbote eine Packung schwarze Plastikhandschuhe aus Latex Größe M. Sie erinnern mich an den Frühling vor zwei Jahren, die Hände meiner Tätowiererin, das Surren der Nadel, das Vibrieren unter der Ruhe, die einsetzt, wenn die Nervenenden den Schmerz akzeptieren, Körper und der Geist loslassen. Ein bisschen wie der innere Dialog beim Meditieren. Oder beim Schreiben. Heute ist der erste Osterfeiertag, mir waren Feiertage nie wichtig, meist arbeite ich. Das lange Wochenende beginnt mit der letzten Überarbeitungsrunde an meinem Romanmanuskript. Ich bin unruhig, ich drücke mich vor dem Anfangen vor dem Ende, so auch mit diesem Text. Eigentlich ist ein Text niemals fertig, es ist unmöglich. Das Ende ist niemals das Ende. Aber es gilt, rechtzeitig loszulassen. 

Und dann fällt mir noch mein Lieblingsneologismus von 2010 ein: ESKAPISMUSKATAPULT

 

Fabian, München

Ich kann jetzt sechzehn Fesnter neben- und übereinander gleichzeitig darstellen; ein unwahrscheinlicher Luxuseffekt der Situation, der ohne sie zumindest nicht so bald zustande gekommen wäre. Nicht, dass sich dadurch irgend’was änderte, am Blick auf und in die digitale Umwelt. Aber es fühlt sich anders an. Etwas weiter, immerhin, und ganz sicher wire wie jede Adaptierung von Perspektivenschnipseln allein der Eindruck sich bald verflüchtigen, oder so sehr in die Gewohnheit übergehen, wie innerhalb von wenigen Tagen die Covid-19-Situation. Nur ein paar Tage lang fühlte ich mich bedroht, stellte an mir, ganz offensichtliche allerdings, Phantomsymptome fest, ohne mich mit der ausführlichen, möglichen Symptomatik ausführlich auseinandergesetzt zu haben, die sich dann aber dann direkt proportional zur Intensität sozialer Kontakte verflüchtigten und im selben Maß wieder auftraten – heute videotelefonierte ich zwei Stunden mit einer Freundin, Romanbesprechungen, trainierte und beobachtete, wie die vor Kurzem gepflanzten Chili-Pflänzchen die direkte Sonneneinstrahlung draußen am Balkon inzwischen sehr viel besser zu vertragen scheinen, ohne den ganzen Tag lang mehr als den Müll runtergebracht zu haben, und einen riesigen Verpackungskarton. Mir ist klar, dass es, an und für sich, eine Luxusposition ist, nicht zu vegetieren, gerade, für jemanden, der auch sonst die großen sozialen Räume eher scheut.

 

11.04.2020

 

Viktor, Frankfurt

Vielleicht verstehe ich die Krise immer noch nicht umfassend. Ich wundere mich über so viel Angst um mich herum. Ich sehe Menschen mit Masken im Wald, wo der Abstand zu anderen sehr groß ist oder wo es kaum anderen Menschen gibt. Ich sehe Menschen nervös werden, wenn sie jmd für einen Moment zu nahe kommen. In Umfragen ist die Bereitschaft sehr groß, den Lockdown zu verlängern, manche wollen härtere Maßnahmen. Eltern wollen die Schulen länger geschlossen halten.

Ich traf letztens jmd im Wald mit seinem Kind, unsere Kinder düsten dann auf ihren Rädern hin und her, der Bekannte erzählte, er hätte einige Nachbarn seit Wochen nicht gesehen, die hätten sich komplett abgeriegelt.

Die MHH (Medizinische Hochschule Hannover) testet jetzt eine Tuberkulose-Impfung, die das Immunsystem stärken und so abwehrstärker gegen das Coronavirus machen soll. Vor dem Spiegel stehend sehe ich auf meinem linken Oberarm die Narben der Tuberkulose-Impfungen, die ich als Kind bekommen habe.

Persönlich kann ich dieser Zeit etwas abgewinnen. Aber ich merke auch, dass ich nicht so recht die Angst um mich herum verstehe, ich nehme sie nur wahr.  

 

Slata, München

Trennungsraten natürlich auch, Scheidungsraten, massenweise laufen Pärchen auseinander, suchen wieder nach bezahlbaren Einraumwohnungen, Ehegatten zerren an den Kindern, streiten sich über Unterhalt und Elternrecht, googeln, jeder heimlich, abends, an seinem Handy, der eine auf dem Ehebett, der andere auf dem Sofa im Wohnzimmer, wie viel ein Anwalt kostet und wie man die Kinder für sich behalten kann. Alte Greise gar, die das erste Mal Monate zusammen verbringen auf kleinstem Raum, vierundzwanzig Stunden am Tag, stellen plötzlich fest, dass es ja nicht auszuhalten ist, dass sie sich geirrt haben in ihrer Wahl und die Jahrzehnte, das ganze Leben davor vielleicht mit jemand Falschem verbracht, die Enkel sind schockiert, rufen sie besorgt an, aber die Alten bleiben standhaft, sie diktieren einzeln Einkaufslisten und bitten, ab jetzt zwei gesonderte Lebensmitteltüten vor der Tür abgestellt zu bekommen, getrennte Haushaltsführung, Trennung von Tisch und Bett.

 

Fabian, München

Maxim Biller fühlt sich intellektuell unterfordert. Spannend daran, dass er über die mediale Überrepräsentation der Pandemie hinaus seine Unterforderung kurz und knapp mit Desinteresse begründet. Er interessiert sich nicht für Biologie, etc. und vielleicht ist es das ehrlichste, was jemand bisher über das eigene Verhältnis zur gegenwärtigsten Gegenwart gesagt hat, die uns zur Verfügung stand, um einfach darüber hinweg zur Literatur zu gehen, als hätte er und in Bezug auf die gegenwärtigste Gegenwart nichts zu gewinnen. Man kennt vielleicht keinen anderen Gegenwartsautoren, der auch nur mit im Ansatz vergleichbarer Präzision die eigene Egozentrik dialektisch zu kontrastieren in der Lage wäre.

 

Rike, Köln

Das Gefühl von 50er jahren in der 2020 Trashversion. Alle (viele) spielen Kernfamilie, selbst die, die nicht wollen. Menschenfahrradketten von ausflügenden Muttervaterkindern mit Helmen und Fähnchen, die dürfen, rosa/blaue Farbkonzepte, der Rest rumbummelnde Einzelmenschen oder Pärchen, selbst die, die nicht wollen, sehen phänotypisch so aus. Lippenstift auflegen für das Einkaufen gehen, weil Highlight des Tages. Raus in die Natur sagen oder den Rasen mähen, ein Heim werkeln, Samstag Abend den Grill anschmeißen und niemanden einladen. Diese Vibes. Ich ziehe mir mein türkises Frotteeshirt an, das mich an Handtuch und Sonnencreme erinnert und rede mir ein, ich lauf zum Strand. Es klappt überraschend gut, paradoxe Intervention nennt man das glaube ich, vielleicht ist das auch der falsche Begriff. Durst nach Gesprächen mit Unbekannten. Lust auf Mayo-Ei und Cocktailobst im Supermarkt. Samstag Abend alleine Sektbowle trinken am offenen Fenster und den Dackel beobachten, (Freddy), der seinem Herren seit Tagen davon läuft. Der Herr brüllt dann immer. Dass ich den Namen seines Hundes kenne, seinen aber nicht. 

 

Marie Isabel, Dunfermline

  1. Wut ist kein österliches Gefühl. Also fülle ich sie in Flaschen und lagere sie bis nach den Feiertagen. Beschriftet: Dem NHS mangelt es an Schutzkleidung = mehr Medizinier und Krankenschwestern sterben (https://www.bbc.co.uk/news/health-52242856). Auffallend viele von ihnen People of Colour. Der Gesundheitsminister schiebt die eigene Verantwortung anderen in die Schuhe = Masken etc. würden verschwendet, u.a. von der Bevölkerung (https://www.independent.co.uk/news/uk/politics/coronavirus-face-masks-uk-shortages-nhs-workers-matt-hancock-a9460011.html). Während sie anderswo verpflichtend werden. Man fordert medizinisches Personal im Ruhestand auf, wieder in den NHS zurückzukehren – mit direktem Patientenkontakt. Wo doch das Risiko mit dem Alter zunimmt. = Die ersten sind bereits tot. Personalmangel, klar. Planerisches Versagen der letzten Jahre? Exodus von EU-Bürgern wegen des Brexit? Erwähnen die Tories nicht. Stattdessen sprechen sie von ‘gefühlten’ Mängeln (https://www.bbc.co.uk/news/uk-52252470). Voll funktionsfähige Beatmungsgeräte werden vom Set einer Krankenhausserie der BBC an Krankenhäuser gespendet … Ich werde noch viele Flaschen brauchen.
  2. Trotz allem scheint nach anfänglichem Zögern die Sonne, und auf Gründonnerstag folgt Karfreitag, und schon ist Ostersamstag. Ich gehöre keiner Konfession an, aber die Emotionalität und Symbolik des christlichen Osterfests tut mir in diesem Jahr gut. Der Gottesdienst im Fernsehen (aufgezeichnet schon im Winter in der King‘s College Chapel in Cambridge) wirkt wie der sprichwörtliche Balsam. Ich erinnere mich an Ostern in einer kleinen Vorortkirche im weißrussischen Minsk, das Segnen des Brotes, das von Kerze zu Kerze weitergereichte Osterlicht, den freudigen Ton der getauschten Grußworte: Christus ist auferstanden! – Er ist wahrhaftig auferstanden! Mich überkommt Dankbarkeit.
  3. Dankbarkeit dafür, dass ich gesund bin und meine Familie und Freunde – einige von ihnen sind chronisch krank – bisher von der Pandemie verschont wurden. Dass ich mein Leben mit einem geliebten Menschen teile, für den ich morgen früh ein Riesenschokoladenei im Garten verstecken werde. Dass ich die Wohnung österlich dekorieren kann, einen Hefezopf backen, Gedichte schreiben, in Feld und Wald spazieren gehen. Dass es warm genug ist für leichtere, luftige Kleider. Dass plötzlich vor unserer Haustür Pflanzenableger für unseren kleinen Garten auftauchen – Geschenk einer Nachbarin. Dass ich relativ schmerzfrei bin. Dass es Menschen gibt, die ihr Leben für andere aufs Spiel setzen. Dass sie es vielleicht auch für mich tun würden.
  4. Am Abend dann noch einmal Nachdenken: Für alle, die nicht an Covid-19 erkrankt sind und niemanden kennen, der positiv getestet wurde, die im home office arbeiten und keine Verwandten im Gesundheitswesen haben, findet die Pandemie hauptsächlich im Fernsehen und im Supermarkt statt. Abstrakt trotz der persönlichen Einschränkungen und irgendwie weit weg. Vielleicht daher die ab und an in den Knochen nagende Angst. Klar, die Luft draußen ist sauberer. Flugzeuge sieht und hört frau kaum noch. Fahrzeuge weniger. Dafür sind manche Waren noch nach Wochen ausverkauft. Hefe, zum Beispiel. Weswegen eine Freundin jetzt versucht, selbst welche herzustellen. Was dabei vor allem wächst, sind Zweifel. Überhaupt gibt es momentan so viele Gründe zu zweifeln. U.a. der ungenügenden Zahl von Tests auf der Insel besteht Unsicherheit über die tatsächlichen Fallzahlen. Soll man nun eine Maske tragen oder nicht? Auf Twitter fragen Menschen, ob sie die einzigen seien, die ihren Einkauf desinfizieren. Nein, machen wir auch, ruft man ihnen entgegen. Fluch und Segen der sozialen Medien. Alle können sich mit allen anderen vergleichen. Dazu kommt, dass je nach Land unterschiedliche Regeln gelten. In Dänemark beispielsweise, whatsApped mir eine Freundin dort, sind Zusammenkünfte von bis zu 10 Personen erlaubt. Kein Wunder, dass sich neben mehr oder minder genauen Informationen irgendwann auch Falschinformation und Verschwörungstheorien multiplizieren.

 

12.04.2020

 

Rike, Köln

Ich verstecke jetzt Ostereier vor mir selber in meinen 3 Blumentöpfen, das ist keine paradoxe Intervention, eher Schizophrenie, aber keine andere Wahl und das gesuchte Gefühl. Die Kinder mit dem Garten von oben beobachten beim Eiersammeln. Immer wenn die große Schwester losrennt, rennt der Bruder auch (panisch). Das Gefühl völliger Sicherheit, beim Beobachten nicht entdeckt zu werden, weil selten Menschen in den Himmel schauen. Notiz: Mehr in den Himmel schauen, wenn Stresspanik. Hans sagt, sie kann das nicht zu lange machen, sie kriegt dann Platzangst. Sie kriegt Angst vor der eigenen Kleinheit. Die Kinder schlagen Sprachnachrichten für die Oma vor. Verschiedene Oma-Opa-Sprechchöre werden aufgenommen. Als sie frohe Ostern Oma Gerswid aufsagen, kriegen sie so eine Stimme. Roboterkinder, Dressurstimme, dabei hat ihnen das in dem Moment niemand vorgesagt. Wieder das Gefühl von 50er Jahre. 

 

Shida

Auf dem Land ist wirklich so ziemlich alles anders als in der Stadt. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und habe seit dreizehn Jahren in fünf mehr oder weniger großen Städten gelebt, die im Vergleich zu meinem Herkunftsort reine Metropolen sind. Mir sind die Unterschiede zwischen Stadt und Land in ihren Facetten völlig egal, denn auf dem Land langweile ich mich und will schnell weg, das ist alles, was mich interessiert.

Corona verändert mal wieder alles. Corona färbt jede noch so kleine Eigenheit des städtischen bzw. des ländlichen Lebens, macht die Unterschiede sichtbar, für die ich nie Interesse hatte.

Hier, wo ich gerade unterkommen konnte, wohnt man in Häusern, nicht in Wohnungen. Man kann den Müll rausbringen, wann man will und muss nicht durch ein belebtes Treppenhaus gehen, Türen und Tonnen anfassen, die man sich mit Nachbar:innen teilt und die den ganzen Prozess des Müllrausbringens zu einer weiteren Corona-Falle machen. Hier sitzt man im Garten oder im Vorderhof, weil einem zwar ein komplettes Haus zur Verfügung steht, man trotzdem ein Gefühl der Enge hat. Hier muss man ein Auto haben, um einkaufen zu können und dass man einen Wocheneinkauf für eine ganze Familie im Einkaufswagen stapelt, ist hier auch außerhalb Coronas die reinste Selbstverständlichkeit. Hier gibt es keine Türsteher:innen am Eingang des Supermarktes, denn im Supermarkt sind sowieso nur drei Leute. Die drei Leute fahren keine U-Bahn, müssen aktuell nicht auf Menschenansammlungen verzichten, denn die gibt es hier sowieso nie, und sie wären mit Markierungen auf dem Boden vermutlich maßlos überfordert. Das haben sie nämlich noch nicht auf Fotos im Internet gesehen, denn das Internet funktioniert hier nur so rudimentär, dass man ewig auf jedes Foto wartet.

Ich bin nun seit zwei Wochen hier, in erster Linie wegen der Personen, mit denen ich die Isolation verbringe und für die der Faktor des Rausgehen-Könnens elementarer ist als für mich. In den zwei Wochen sind mir eine Millionen Dinge aufgefallen, die sich hier so grundsätzlich von meinem Leben in der Stadt unterscheiden und die alle den Effekt haben, dass Corona uns hier mehr und mehr als Idee und immer weniger als reale Gefahr erscheint. Mir fällt wieder ein, dass ich es deswegen unerträglich fand, auf dem Land aufzuwachsen. Man kann sich hier immer einbilden, man hätte mit der Welt da draußen nichts zu tun. Egal, welche Debatten geführt werden, welche politischen Umwälzungen geschehen, welche Viren rumgehen: Die Illusion, dass man selbst die ferne Insel ist, die nichts damit zu tun hat, will sich immer wieder aufdrängen und bestätigt wissen. Im Fall der Viren genieße ich es zum ersten Mal, dass die Zahlen hier tatsächlich so viel geringer sind.

P.S.: Superviel Liebe für alle Klugscheißer:innen da draußen! Ich korrigiere meinen privaten Klugscheißer jetzt sofort und fange an, alle zu verwirren und einfach mal DIE Virus zu sagen. Vielleicht setzt es sich durch. Und wenn Corona vorbei ist, habe ich gewonnen. 

 

Marie Isabel, Dunfermline

Ich schaue per Video meinem dreieinhalbjährigen Neffen in Suffolk beim Ostereiersuchen vor dem Aufstehen zu. Die Begeisterung des Kleinen wird übertroffen vom Fleiß der großen Versteckt-Habenden. Das Beutelchen für die Süßigkeiten, das an seinem linken Handgelenk baumelt, scheitert schon am ersten Riesenei (gibt es die mittlerweile in Deutschland eigentlich auch?). Am Ende ist seine Mutter bepackter als er selbst, und er verkündet glücklich: ‘Come on, let’s go eat chocolate!’ Als später mein Mann das Erwachsenenosterei findet, das ich für ihn im Garten versteckt habe, sehe ich, wie seine Augen leuchten. Ich freue mich mit. Mit meinem Neffen. Mit meinem Mann. Mit mir selbst, als ich ein auf Daumendruck blökendes Minischaf auspacke, das uns meine Schwester zu Ostern geschickt hat. Es steckt eben doch ein Kind in uns allen.

 

Slata, München

Waren wir früher fast stolz darauf, auf genügende Distanz zu achten, jedem sein Revier zu überlassen, mittlerweile abends jeder seins zu machen, Respekt und Gleichgewicht und, ja, den anderen ein gutes Beispiel geben (Was, er geht abends echt ins Kino, ohne dich? Was, fährst du für eine Woche weg, alleine?), stellt sich nun heraus, dass es kosmetisches Gehabe war. Planten wir selbst die seltensten Urlaubsreisen sorgsam, keine zehn Tage, nie, eine Woche mehr als genug, was sollen wir da machen, die ganze Zeit zusammen, und jetzt, fünf Wochen ‒ Sprechen wir nun zueinander, vermeiden wir Blickkontakt und sagen etwas vor uns hin, in den Raum hinein, oder richten unsere Rede an das Kind oder an jemanden Imaginären, den großen Anderen vielleicht, ekeln uns voreinander schon, lassen sich die besten Gefühle füreinander nicht durch Homeoffice vernichten, und etwas groß zu sagen gibt es auch nicht mehr.

 

13.04.2020

 

Janine, Flensburg

Meine dänische Schwiegermutter hat Ostern gefeiert, im Kreise ihrer Geschwister und deren Familien. Sie hätten extra einen besonders großen Tisch ausgeliehen, damit sie mit Abstand sitzen konnten. Mir fällt dazu sehr viel ein, aber ich sage nichts; mein Dänisch ist zu schlecht und mit Englisch ist es in diesem Fall einfach nicht dasselbe. 

 

Shida

B. und ich haben ungläubig hin- und herdiskutiert, am Ende den Kalender rausgeholt, ganz am Ende mit dem Kontroll-Finger die Wochen abgezählt: Es sind vier Wochen Rückzug aus dem normalen Leben, aus der Welt, aus allem. Diese Erkenntnis wiederum ist nun vier Tage her. Sind vier Wochen und vier Tage Isolation nun viel oder wenig? Das ist wohl genau das, was wir auch nicht einschätzen konnten, deswegen das Hin- und Herdiskutieren. Gibt man zu, dass es viel ist und nimmt sich damit die Energie, womöglich noch länger so weitermachen zu müssen? Meine Strategie von Anfang an war, nicht anzufangen, von Corona genervt zu sein. Wenn man nicht weiß, wie lang es am Ende dauern wird, ist das die Energie, die wir noch brauchen werden. Genervtsein ist der Luxus, den man sich aufsparen muss für die wirklich harten Momente. Innerlich pendelt man seine Geduld trotzdem auf den 19.April ein, in der vollkommen naiven Hoffnung, dass es danach normal weitergeht (was es nicht wird, I know). In den kommenden Tagen wird man mehr wissen und es ist doch immer der letzte Abschnitt der Strecke, auf dem man die Geduld dann doch verliert und gerne aufgeben möchte. Gleichzeitig denke ich: Wie viele Leute haben (zumindest hier auf dem Land, wie gesagt, besondere Rahmenbedingungen, eigener Umgang) Ostern irgendwie doch nicht mehr so richtig an den Vorgaben festgehalten, wie viele Leute gehen gerade im Kopf mehr und mehr die Ausnahmen durch, die man vielleicht doch auch langsam machen könnte, weil man doch einiges getan hat, um das Risiko möglichst gering zu halten. Wäre also vielleicht gerade doch der wichtigste Zeitpunkt für klare Hinweise, Anweisungen, Ausblicke, und wenn sie lauten: Die Schulen und Kitas bleiben weitere vier Wochen geschlossen, jetzt reißt euch alle noch mal zusammen.

Hier in dem winzigen Dorf gehen die Kinder “klappern”, um die Kirchenglocken traditionell über Ostern zu ersetzen. Es scheppert einige Minuten auf den Straßen, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass hier überhaupt Kinder vorhanden sind und dass die dann auch noch ernsthaft um 7 Uhr morgens aufstehen, um Kirchenglocken zu ersetzen (und dabei dann zwei Meter Abstand zueinander halten und Mundschutz tragen? Hmm.). Dabei sind sie dieses Jahr vermutlich wichtiger als sonst. Selbst ich als Atheistin freue mich über ihr Signal, ihre Geräusche, ihr Dasein, ihr Engagement. Es ist vielleicht, neben dem geänderten Feiertagsprogramm im Fernsehen, das Einzige, was gerade an Ostern erinnert. Überhaupt, Fernsehen, das ist sowas, was ich letzte Woche wiederentdeckt habe und wie immer nach einer Zeit der Abstinenz haben mich die Werbespots in ihren Bann gezogen. Es gibt so viele Quarantäne-Werbespots, plötzlich so viel Werbung für Tiefkühlpizza und Abholservices. Mir hat das Fernsehgucken gutgetan, endlich hat die Werbung mal meine Lebenssituation verstanden.

Morgen geht der normale Arbeitswahnsinn wieder los. Ich mag meine Peergroup (ok, Kernfamilie ist das Wort, das man eigentlich dafür benutzt) und genieße unsere gemeinsame Zeit. Aber normaler Weise ist mein Zuhause mein Büro und damit der Ort meines einsamen, konzentrierten Denkens. Die Stunden am Tag sind normaler Weise die, in denen ich nicht nur meine eigene Chefin, sondern die Chefin meines Zuhauses bin. Seit Corona teile ich mein heiliges Büro plötzlich rund um die Uhr. Als hätte man plötzlich die freie Wildbahn um sich, weil man einmal nicht gut aufgepasst hat. Ich vermisse es so sehr, konzentriert allein zu arbeiten, die meditative Stille beim Denken. Und Alter, wie vermisse ich es, in Städte zu fahren, in Hotels unterzukommen, abends auf Bühnen zu sitzen, Menschen zu treffen, Menschen zu sprechen, ganz selbstverständlich Literatur im Fokus zu haben. Aber das sind diese Momente, in denen man wieder aufhören muss, zu denken. Sonst klappt gar nichts, falls es Mitte der Woche heißt: Die Beschränkungen werden um vier Wochen verlängert.

 

Sarah, München

Manchmal rasen die Katzen einfach los, über die schrundige Wiese und zur Gartentür hinaus, mit hochgestelltem Schwanz in einem ausgestreckten Galopp. Nach ein paar Minuten kommen sie dann wieder im Gang eines gelassenen, siegreichen Tigers. Wenn sie so rennen – es ist kein Jagdrennen, denn Katzen jagen nicht rennend, sondern lauernd – habe ich mir bis vor ein paar Wochen immer gedacht: Das muss die Furcht sein, die sie packt. Die Furcht, dass sie vielleicht plötzlich nicht mehr hinaus können. Sie kommen aus Rumänien. Straßenkatzen. Hungrig, aber frei. Dann kamen sie in die Tötung und von da nach Deutschland, wo sie zwei Jahre in einer kleinen Wohnung gelebt haben. Sie wissen also was es heißt, Freiheit zu verlieren.

Seit dem Shutdown denke ich jetzt jedes Mal, wenn die Katzen in ihrer Frucht um die Freiheit davonjagen: Ob es uns auch so gehen wird? Wenn das alles wieder vorbei ist? Wird uns die Furcht um unsere Freiheit manchmal überfallen wie ein Rasen, das uns in die Städte stürzen lässt? In die Bars, Kinos, Restaurants? Hungrig nach Freiheit und anderen Menschen? Werden wir wieder für unsere Grundrechte kämpfen? Für ein digitales Vergessen zum Beispiel?

Vielleicht kommt es aber auch so, dass wir ganz und gar vergessen, wie das geht, das mit der Freiheit. Weil das Gefängnis nicht der Lockdown ist, sondern die Angst. Und dass diese Angst uns bleiben wird. Je länger der Lockdown dauert, desto schwerer wird sie sich abschütteln lassen. Denn schon jetzt denken wir bei Bildern von Menschenansammlungen: AUSEINANDER! IHR WAHNSINNIGEN! Das muss hängenbleiben. Oder?

Trotzdem stelle ich mir die Zeit danach als Fest vor. Mit Tischen und Stühlen auf den Straßen, bunten Lampions in den Bäumen und Menschen, die einander in den Armen liegen. Und uns alle stelle ich mir als Tiger in Menschengestalt vor, die gelassen in ihr Revier zurückkehren, aus der Freiheit, von der sie doch wussten, dass sie auf sie gewartet hat.

 

Fabian, München

Man dürfe nicht davon ausgehen, das wire wie das “Es war eine Zeit” Bruce Willis’ in Lucky Number Slevin als Ausgangs- und Knotenpunkt der Erzählung. Es lässt sich vielleicht und ohne Weiteres behaupten, dass es sich dabei nicht um die cleverste mögliche Eröffnung eines durchaus sehr cleveren Films handelt. Nun ist der durchschnittliche deutsche, überregional-mediale Kommentar zumeist (intellektueller) deutscher Kommentatoren zweifellos kein clever geplotteter amerikanischer Film mit Millionenbudget, aber es ist doch auffällig, wie viele der sozusagen intellektuellen Kommentatoren der Krise sich dazu verschworen zu haben scheinen, die Komplexität aller möglichen und notwendigen und wahrscheinlichen Maßnahmen und Folgen und Begleiterscheinungen der und zur Bewältigung der Krise und entgegen jeder facherkenntlichen Enigmatik auf die Phrase, Corona habe “die Welt fest im Griff” herunterzubrechen. Das ist perfide, als ob es der Alternativlosigkeit der Feststellung bedürfte, um die jeweilige Alternativlosigkeit des Folgenden zu untermauern, umso perfider oder wahlweise achtloser, wenn die hohle Phrase dazu dient, eine Diskursverschiebung zu naturalisieren, die, nach allem was wir wissen, längst nicht ausgemacht sein kann. Wahlweise ärgerlich, wenn “wir” als Kollektiv, nagut, ganz zu schweigen von den kontemplierenden Individuen ihrer Beiträge, die sich der Phrase bedienen, genug über das Virus wüssten. Das Virus hat ganz sicher die Zellen fest im Griff, die es zur Reproduktion nutzt, wie Covid-19 die schwer erkrankten Körper vorweg aller Maßnahmen fest im Griff hat, aber alles darüber hinausgehende ließe sich höchstens als vielschichtiges Ineinandergehen von Entscheideungskaskaden und -bäumen im kausalen Zusammenhang zwar, immerhin, vorstellen, sodass sich eher, vielleicht, behaupten ließe, die Welte habe, als Diskursmoment, Corona fest im Griff.

 

Emily, Rostock

Inzwischen treffen mein Therapeut und ich uns einmal in der Woche in einem Chatroom um gemeinsam zu atmen. Ich weiß, dass wir uns dabei gleichermaßen lächerlich vorkommen, aber ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Generell versuche ich mir nur noch wenig anmerken zu lassen. 

 

14.04.2020

 

Jan, Hannover

Heute ist Nochntag. Mit lautem Getöse zerren die Männer von der städtischen Abfallwirtschaft die Müllcontainer aus ihren vergitterten Verschlägen und treiben sie auf dem Bürgersteig zusammen. Zumindest einmal in der Woche bringen sie so noch etwas Leben in die Straße. Seit dem Lockdown haben die Paketboten der konkurrierenden Dienste insgesamt exakt ein Päckchen für unsere Nachbarn bei mir abgegeben. Vor dem Lockdown kam ich oft schon an einem einzigen Tag auf drei bis vier Sendungen, die ich treuhänderisch bis zur ihrer Abholung in unserem Flur lagerte. So war ich jederzeit bestens über die breit diversifizierten Bedarfe und Bedürfnisse in unserem Haus informiert. Der Rekord waren acht Pakete an einem Tag. Jetzt aber hocken alle Nachbarn den ganzen Tag lang in ihren Wohnungen und warten wie Junkies selbst auf ihre verschiedenen Zusteller, als wären ihre Online-Orders die letzte Verbindung zu einer ansonsten unerreichbar gewordenen Außenwelt.

Kleiner Hund, die große Diva, kommt angewackelt, streckt sich und posiert vor seiner Bücherwand, als würde gleich eine Videokonferenz starten. Ich bin so unwichtig, dass ich seit Ausbruch der Pandemie noch nicht eine einzige richtige Videokonferenz hatte, nur Koch- und Trink-Calls, aber Kleiner Hund ist auf allen Kanälen bestens vernetzt. Das Tier, wie wir es liebevoll nennen, hat in den vergangenen Wochen etwas zugenommen, obwohl wir es achtsamer ernähren, als es uns bei uns selbst je gelänge. Dass wir die Walkies-Runden lockdownbedingt etwas kürzer gehalten haben, macht sich bemerkbar. 

Gleich wird der Wecker klingeln, um uns aufgeregt an seine wichtige Rolle in unserem Haushalt zu erinnern, aber ich bin ihm bereits um eine Stunde voraus. Vor dem Badezimmerspiegel zwinge ich mich zu meinem morgendlichen Kniebeugen-Regime. Auch ich habe zugenommen, was den sportlichen Wert dieser Verrichtung natürlich spürbar erhöht; mehr Gewicht bedeutet mehr Kraftaufwand, ich kümmere mich um mich. Mein Haar wellt sich schon über die Ohren, und vergangene Woche ist auch noch der Barttrimmer kaputt gegangen. Die Krise hat viele Gesichter, meines wuchert langsam von allen Seiten zu.

Die Kids mit den BMX-Bikes (nennt man das heute noch so: BMX? Kids??), die ich früher nie hier gesehen habe, drehen schon wieder gelangweilt ihre Runden im Hof, die dicken Reifen surren über das Pflaster, aus einem Smartphone-Lautsprecher bellt heiserer Delinquenten-Rap. Frühaufsteher-Kids, aha, die werden es noch weit bringen. Der Wecker klingelt, Kleiner Hund antwortet mit kurzem, rhythmischen Fiepen. Gleich werde ich ein paar Downloads starten, meine Fähigkeiten zur Lokalisierung, Beschaffung und dezentralen Ablage digitaler Unterhaltungsinhalte haben sich seit dem Lockdown deutlich verfeinert. Catch and chill. Man kann vielleicht nicht mehr verreisen, aber man kann immer noch jederzeit seinen Standort im VPN ändern.

Die Barista-Boys haben den Espresso zu fein gemahlen. Meine Pyjamahose hat ein Loch. Heute ist Nochntag.

 

Shida

Der Bericht der Leopoldina in Halle ist eine der wichtigen Grundlagen für weitere Entscheidungen, hat Merkel mehr oder weniger angekündigt. Seit gestern liegen deren Einschätzungen vor. Ich bin von den möglicher Weise berechtigten Kritikpunkten, die Menschen daran finden, genervt, weil ich keine Ruhe habe, mich damit auseinander zu setzen. Der Bericht klingt in meinen Ohren plausibel (schrittweise zur Normalität zurück, Schulen für bestimmte Jahrgangsstufen in kleinen Gruppen und mit Mundschutz wieder öffnen, Negativfolgen auf Psyche der Menschen in Isolationszeit nicht unterschätzen und so weiter) und gleichzeitig ist es völlig egal, wem er wie plausibel erscheint denn er ist kein Garant für nichts, was in den kommenden Tagen entschieden wird. Ich finde, er klingt nach Hoffnung, nach dem kleinen Stück hellem Himmel, auf das man starrt, wenn es regnet. Die Vorschläge sind für meine persönliche Arbeitssituation trotzdem niederschmetternd. Die prall gefüllten Arbeitstage werden bleiben. Das ist nach wie vor alles machbar und händelbar und kein Grund zum Losheulen. Es würde nur wirklich sehr helfen, es gäbe eine Pause davon. Einmal ausschlafen zu dürfen, überhaupt einmal dem Schlaf, den der Körper für sich einfordert, nachgeben zu dürfen, nämlich so ungefähr 15 Stunden am Stück. Einmal kurz Wochenende von Corona bitte, dann geht es schon wieder.

Heute stürze ich mich wieder mit mehr Energie in den Roman, an dem ich arbeite. Figuren, die ich mir ausdenke, fühlen sich an wie der eigene Nachwuchs, ich will, dass es ihnen gut geht und sie tun mir mit ihrem Eigenleben wiederum gut. Im Moment würde ich ihnen gerne Dankeskarten dafür schicken, dass mir die Arbeit an ihnen eine Welt ohne Corona liefert. Eine Welt, in der ich entscheide, dass es hier kein Corona gibt und niemals geben wird.

 

Slata, München

Irgendwie soll da morgen was beschlossen werden, keine Ahnung, da wurde etwas gesagt vor ein paar Tagen im Radio, also das klang so, als ob da was beschlossen werden müsste, und auch, vielleicht, ob Schulen öffnen, Horte und Friseursalons, das, was uns fehlt gerade, stell dir vor, wie da alle auf einmal in den Urlaub aufbrechen, das wird was geben, hej, da wird wieder alles zusammenbrechen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es richtig mitbekommen habe, also mitgehört, weil wir grad gegessen haben und die Hälfte verpasst, zum Ende hin erst auf laut gestellt, aber irgendwas muss da ja gesagt worden sein, woher hätte ich mir das gemerkt, dass morgen, am Mittwoch, irgendwas beschlossen werden soll, ich warte dann bis Mittwoch nochmal ab, ob da was verkündigt wird, und bestelle dann ein Set, ein einfaches, als Erste Hilfe sozusagen, einen guten Kamm, eine Schneidemaschine und eine scharfe Schere.    

 

Nefeli, Berlin/Hamburg

Ich glaube, ich bin nicht mehr wirklich alltagstauglich seitdem ich kaum mehr Termine habe. Diese Woche wird irgendwas beschlossen und dann gibt es vielleicht wieder Normalität. Das ist für mich ein bisschen so angsteinflößend wie die Abwesenheit jeglicher Normalität. Ich glaube, ich weiß gar nicht mehr so richtig, wie das geht. Zurück nach Hamburg gehen, ins Büro, Schlafrhythmus, die Liebsten treffen, auf der Straße Bier trinken, Termine ausmachen, Google Kalender pflegen. Mir kommt das alles befremdlich vor, jetzt wo ich mir all das abtrainiert habe. Ich sitze auf dem Fensterbank und die Sonne knallt rein. Beim Lüften merkte ich allerdings, dass es gar nicht warm ist. Ständig wird man reingelegt. 

 

15.04.2010

 

Sarah, München

Seit wir auf uns selbst zurückgeworfen sind, koche ich noch mehr als sonst. Oder eher: Gewissenhafter und Detailverliebter als sonst. Denn vor Corona musste ja auch Essen auf den Tisch. Und in unserer Familie bin ich der Koch- und Einkaufmensch, während mein Mann der Wäsche- und Aufräummensch ist. Kochen war schon immer ein Weg, ohne großes Nachdenken kreativ zu sein. Nun nehme ich mir mehr Zeit, experimentiere herum, lese sogar in Kochbüchern nach, was ich sonst höchstens zu Weihnachten oder Geburtstagen mache. 

Und ich merke, wie ich in meinem Kopf auf Reisen gehe, daran denke, wie wir entschieden haben, dass eine Familie ein Waffeleisen braucht. Oder der Reiskocher erinnert mich an meine ehemalige Mitbewohnerin, die ihn mir zum Auszug geschenkt hat und wie ich dastand, zwischen meinen Kisten, mit dem Kochtopf in der Hand und heulte. Und dann sind da noch die fünf rumänischen Kochlöffel. Handgeschnitzt. Ich koche gern mit ihnen. Sie liegen gut in der Hand, haben eine angenehme Größe und eine tatsächliche Mulde, so dass man mit ihnen auch gut abschmecken kann. Bis zum Fall des eisernen Vorhangs aß man in Maramures, wo die Löffel herkommen, auch mit diesen handgeschnitzten Löffeln. An die Zeit in Maramures erinnere ich mich eigentlich gern. Aber nicht so sehr an den Kauf der Löffel. Denn es war einer dieser Imperialisten-Momente, aus denen es keinen Ausweg gibt. Auf dem Parkplatz eines Supermarktes kam ein Mann auf uns zu, sonnengegerbt und die linken drei Vorderzähne weg, vielleicht war er Mitte vierzig, oder fünzig, auf eine raue Art hübsch, trotz der Zähne. Er hielt die fünf Löffel in der Hand, streckte sie mir entgegen. Sehr fröhlich und siegesgewiss. Och wollte keinen Löffel. Er blieb eisern. Und schließlich kaufte ich alle fünf. Weil sie so unfassbar billig waren und ich mich in der Situation als reiche Touristin (in Maramures ist jeder, der es sich erlauben kann zum Spaß zu verreisen reich) zum Schreien unwohl fühlte. 

Nun stehen die Löffel mit anderen Kochgeräten in einem alten Sektkühler. Und seit Corona erinnern sie mich nicht mehr nur an ihren Verkäufer und vermutlich auch Erschaffer. Sie erinnern mich auch an das Krankenhaus in Sighet (offiziell Sighetu Marmației), wo auf dem Klinikgelände das Rudel wilder Hunde lebt und in den Betten die Matratzen fehlen. Ich muss an die gespendete Klinikausrüstung aus Deutschland denken, die Rostflecken hat und aus den sechzigern ist. An die Ärzte und Schwestern, die schon vorher den Mangel verwaltet haben, würdevoll und ernst und mit viel Fachwissen. Wie viele Beatmungsgeräte es wohl bei ihnen gibt? Corona gibt es natürlich auch in Rumänien. Und es wird auch nicht vor der Idylle von Maramures haltmachen. Und wenn schon New York um Beatmungsgeräte betteln muss, wie wird es wohl dort gehen, dort, wo 

 

Nabard, Bonn

“Was bringt dir das alles? Ist es überhaupt was Wert wenn du dich so aufopferst? Wozu machen wir das alles, nur damit am Ende ein Vollhorst unsere Arbeit kaputt macht oder die Leute es nicht wertschätzen!? Nabard! Pass bitte auf dich auf! Wann hattest du das letzte mal Zeit für dich? Für Musik? Kunst? Inspiration? Deine Umwelt? Verlier dich nicht, mein Bruder!” 

Habe Alex seit London Anfang März nicht mehr gesehen, er ist wieder in Marburg. Ich in Bonn. Dennoch weiß er, spürt er, dass vieles mich momentan stresst.

Habe kurz runter gespickt und gesehen dass parallel zu mir jemand schreibt und nach mir fragt; 

Hallo Sandra! Ja mir geht’s gut. Ich bin angehender Arzt im praktischen Jahr und war bis eben noch im Krankenhaus. Stressig aber ich liebe es. Und du? Wir haben einen Garten und während meiner Quarantäne war es mein Spot, ab der zweiten Woche, jeden Morgen dort frühstücken. Bis mittags sitzen und was lesen. Naja, meiste Zeit YouTube Videos schauen. Ich wollte gerade laufen gehen aber ich dachte ich tippe euch diese Zeilen. 

Zurück zu Alex; ja, er hat recht. Sich für etwas einsetzen und engagieren kostet Kraft. Vieles bleibt auf der Strecke ohne das man es merkt. Virtuell ist man für alle da. Doch was ist virtuelles wert? Ersetzt es die Umarmung eines geliebten Menschen? Das gemeinsame chillen auf dem Balkon? Das Gefühl wenn beide von den Zeilen des Lieblingskünstlers berührt werden? Der Handschlag wenn man etwas fühlt und es zum Ausdruck bringen will? 

Lustigerweise traf ich am nächsten Tag einen alten Arbeitskollegen aus der Zeit wo ich als MTRA in einem Bonner Krankenhaus arbeitete. Er arbeitet jetzt im Schwesternhaus und sprang gestern bei uns ein. Ich saß im Arztzimmer als er an der Tür stand und die Tür nicht aufbekam. Ich ging zur Tür, öffnete sie und sah ihn. Mit seinen 1,95 wirkte er vor fast 7 Jahren noch riesig jetzt sah ich ihm gefühlt in die Augen und ohne zu überlegen umarmten wir uns für mehrere Minuten! Lachten, freuten uns und ließen alle Emotionen heraus. Alt ist er geworden, er stehe kurz vor der Rente und freue sich dass ich es soweit geschafft habe. Seine beiden Söhne studierten jetzt. Er müsste wieder rüber, wir gaben uns beide die Faust zum Abschied. 

Dieser Moment wo ich einen alten Freund umarmen konnte zeigte mir nochmal wie wichtig realer Kontakt mit unseren Mitmenschen ist. Hoffentlich verlernen wir es nach dieser Pandemie nicht.

An Sandra die gerade ihre Zeilen tippt, ich sehe welchen unendlichen Akt du und andere leistet. Worte können nicht ausdrücken wie sehr ich mir wünsche das es sich ändert! Ich will mit euch kämpfen. Hoffentlich können wir das gemeinsam ändern! Zu deiner letzten Frage; JA! Mit jedem Tag mehr. Hab einen schönen Abend und euch  viel Vergnügen mit unseren Zeilen. 

 

Sandra, Berlin

Wo war ich? Ah, auf dem Eskapismuskatapult. In neue Texte hineintauchen und alle 5 Minuten wieder hinaus. Rückenschmerzen vom Kind herumtragen. Kopfschmerzen vom andauernden Nachrichten hören lesen sehen. Kann mich nicht konzentrieren. Apropos:

Während ich diese Zeilen ins googledoc tippe, tippt ein anderer Mensch parallel zu mir. Ich sehe die Zeilen vorwärts und rückwärts laufen, wenn getippt korrigiert gelöscht wird. Das ist ziemlich witzig und ich stelle mir vor, dass mein unsichtbares Gegenüber sieht wie ich tippe mich vertippe lösche von vorne anfange. Hallo anderer Mensch! Wie gehts denn dir so? Hast du noch einen Job? Hast du einen Balkon? Einen Garten? Ein gutes Gewissen? Hast du dir deine Schreibzeit auch gestohlen?

Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich an die unzähligen Menschen denke, denen es viel schlechter geht an mir. Aber es geht mir trotzdem nicht gut. Ich bin zornig, ich bin müde.

In Merkels Rede kein Wort zur Carearbeit (Nein, es geht nicht um „Verzicht“!), zu den Eltern, die arbeiten und kinderbetreuen müssen, ich könnte auch Frauen schreiben, die arbeiten und kinderbetreuen müssen, denen niemand Ausfallshonorare zahlt, von denen erwartet wird beides zu schaffen, die unmöglich beides schaffen können, nicht auf Dauer. Alleinerziehende werden ohnehin wie so oft ignoriert. Diese unsere Gesellschaft schenkt den Frauen nichts.

Ohne Familienpolitik kann und darf Wirtschaftspolitik nicht mehr gedacht und gemacht werden. Und wie @bergdame so treffend schreibt: Familien sind alle Menschen mit Kindern, die Verantwortung für Kinder tragen.

Oh! Ich hab Antwort von meinem tippenden Kollegen. Hallo Nabard. Mir gehts nicht so gut. Siehe oben, ich bin sehr zornig, sehr müde. In meinem Kopf hab ich auch einen Garten. Muss mal wieder Blumen gießen, der Rasen sieht schon etwas angetrocknet aus, der Hund vom Nachbarn hat Löcher gegraben, die Katze einen Vogel gefressen. Federn überall. Willst du immer noch Arzt werden? War ein gutes Parallelschreiben, der wandernde Cursor hat mich motiviert. Jetzt beginnt meine Abendschreibschicht mit open end. Find ich gut, dass du nach wie vor Arzt werden willst, lieber Nabard. Take care! 

Ich korrigiere und schreibe meine Texte meist endlos um. Aber jetzt lass ich das einfach mal so stehen. 

 

Emily, Rostock

Was sich vor meiner Haustür abspielt: eine Gruppe Männer trinkt Bier auf einem Fensterbrett im dritten Stock. Ein Hinterhof wird umgegraben. Eine Schlange beim Bäcker, bei der Drogerie, beim Metzger. Ich kann nichts dagegen tun, dass mir die Situation mit jedem Tag unwirklicher vorkommt. Ich habe Angst und Sorge verlegt und manchmal muss ich mich auswringen, um sie wiederzufinden. Ein Gefühl als wollte ich mich zum Weinen zwingen. Ich muss mich aktiv daran erinnern, warum ich Ostern nicht mit der Familie verbracht habe, warum irgendwann das Geld knapp wird, warum mein Flug nach Griechenland vom namenlosen Kundenservice annulliert wurde.

Erst vor ein paar Stunden wurde beschlossen, wie die Lockerungen im Land aussehen werden. Fast beschämend: ich denke erstmals nicht an die Risikopatient*innen und die Kranken. Ich denke, dass ich mir die Ostseestrände ohne all die Menschen kaum vorstellen kann. 

 

Marie Isabel, Dunfermline

Sagt einem ja keiner, dass in Flaschen abgefüllte Wut frau irgendwann kräftig um die Ohren fliegt. Hilft außerdem wenig, wenn du dann bedröppelt mitten im Schlamassel stehst und dein Blick auf immer neue Schlagzeilen trifft, die dich innerlich explodieren lassen.

Etwa, dass ein Viertel der Corona-Toten in Schottland aus Pflegeheimen gemeldet wurden (https://www.bbc.co.uk/news/uk-scotland-52292001). Auf BBC Radio4 schildert eine Frau, das Heim ihrer Mutter habe telefonisch mitgeteilt, dass Letztere im Fall einer Corona-Infektion keine Krankenhausbehandlung erhalten werde. Das, in Kombination mit dem grassierenden Mangel an Schutzkleidung, klingt fast wie ein Todesurteil. Ich möchte gern Juristen dazu hören: Auf welcher rechtlichen Grundlage werden solche Verfügungen über die Nicht-Versorgung von Menschen getroffen?

Dann wird heute verkündet, dass man wieder Abschied nehmen dürfe von sterbenden Angehörigen (https://www.bbc.co.uk/news/uk-52299590). Die Maßnahme wirkt irgendwie zynisch aus dem Mund von Gesundheitsminister Hancock, der Schutzkleidung und ausreichende Tests gefühlt jeden Tag neu verspricht, aber wenig zustande bringt, ganz zu schweigen von anderen Versagensbaustellen.

Teile der Bevölkerung bekleckern sich gerade ebenfalls mit wenig Ruhm, wie ein Beispiel aus Edinburgh zeigt: Da gibt es doch wirklich Menschen, die ihnen Fremde, die sich beim Spazierengehen zufällig treffen und miteinander unterhalten, unvermittelt anschreien, beschuldigen, nicht genügend Abstand zu halten und dann mit dem Maßband zur (scheiternden) Beweisführung schreiten (https://www.bbc.co.uk/news/uk-scotland-edinburgh-east-fife-52230081). Unter anderen Umständen: comedy gold.

Dann die Meldung über Channel 4 (https://www.channel4.com/news/pregnant-nhs-nurse-dies-with-coronavirus-but-baby-saved), dass am Ostersonntag eine 28jährige Krankenschwester an Covid-19 gestorben ist; nur Tage vorher war ihre jüngste Tochter durch Kaiserschnitt gesund zur Welt gekommen. Obwohl unklar bleibt, wie sie sich angesteckt hat, ist klar, dass sie bis ca. Mitte März noch Patientenkontakt hatte. Wieso man, in einer angekündigten Pandemie, eine hochschwangere Frau überhaupt einem Risiko ausgesetzt hat, bleibt mir schleierhaft. Ist es purer Zufall, dass es sich um eine Frau of Colour handelt?

Das ist natürlich nicht der ganze Katalog des gerade alltäglichen Wahnsinns, aber wenn ich jetzt noch von Flüchtlingen in Seenot oder Klassenunterschieden in der Bewältigung des Lockdown anfange, mag ja gar keiner mehr weiter lesen. Da hilft nur, mit etwas besseren Nachrichten die Wutflut einzudämmen: Also ende ich für heute mit dem fast 100jährigen Kriegsveteran Captain Tom Moore, der seit einiger Zeit mit einem Rollator unermüdlich rund um seinen Garten in Bedfordshire stapft, um Geld für den NHS zu sammeln. Eigentlich wollte er £1,000 zusammenbekommen. Inzwischen sind es mehr als £4 Millionen.

Prinzipiell ist die Idee, den NHS durch Spendenaktionen mitzufinanzieren, absurd; aber Fakt ist: das Geld fehlt, und die Großartigkeit dieses einen Menschen macht zumindest gefühlt manche Widrigkeit wett.

PS: Ich verspreche bald wieder weniger Presseschau und mehr Introversion oder was dafür gelten mag.

PPS: 16. April: Nun hat Captain Moore, noch vor seinem 100sten Geburtstag, 100 Runden um seinen Garten gedreht. Laut BBC sind £12 Millionen für den NHS zusammengekommen. !!!

 

Fabian, München

Was zur Hölle ist relevant. Was wäre konsequenter an der Annahme, die Fragen zu stellen wäre dem Versuch, sie sich zu beantworten, vorzuziehen. Etwas macht, etwas sieht zeitversetzt, die ganze “Corona-Kultur” ist eine Kultur inhärenten Zeitversatzes, ganz zweifellos, oder? Unser Unfähigkeit, die Welt zu erfassen, bestätigt sich in der zur Regel konvertierten Ausnahme von der Regel pluralistischer Berichterstattung; das ist zu einfach – was soll’s? Es gibt immerhin noch Nebenschauplätze, aber keinen Bezug auf die Krise dort, die sich nicht in der möglichen Welt unwahrscheinlicher Dramen realisiert. Zoos, die zur Ernährung der einen die Schlachtung der anderen Terie zur Disposition stellen, aus reinen, brutalen Kostengründen, Dispositiv der Fragilität von Institutionen, deren ganz selbstverständliche Stabilität des schönen Scheins in Friedenszeiten keiner infrage stellt. Und ganz sicher gibt es noch weniger plakative Beispiele und ganz sicher äußerst sich’s als unangemessen grobe Verkürzung, wenn man dabei das Gefühl hat, dass Facebook etwa schon einen Grund haben wird, mit dieser zweifelhaften Funktion der Vorfilterung der “relevantesten” Kommentare sehr häufig eher militante Eindimensionalist*innen zu bevorzugen, für die die Welt, und mit ihren engen Perspektiven durch die thematischen aber immer gleichen Bezüge, nicht in die Widersprüche, Zufälle und Ambivalenzen zu zerfallen  scheint, die zur Verfügung stünden, immer.

 

Matthias, Jena
Die Fernseher sind so groß, dass es Wohnzimmerfenster gibt, die fast völlig davon ausgefüllt werden. Man schaut in ein fremdes Wohnzimmer und es ist einfach, als schaute man auf einen großen fernen Bildschirm, und genau das tut man ja auch. Das ist mir früher nie aufgefallen, aber ich gehe jetzt anders durchs Viertel.
Der Spielplatzsand, der in den vergangenen Wochen mit der Sandmaster-Siebmaschine durchgearbeitet und geharkt wurde, harrt hinter rotweißem Flatterband darauf, dass Kinder irgendwann wieder zum Spielen nach draußen dürfen.

Ich habe immer noch leichte Atemschwierigkeiten, die ich mir nicht erklären kann. Vielleicht nehme ich auch nur meinen ganz normalen Atem falsch wahr? Es ist leider aktuell völlig unmöglich, noch unmöglicher als sonst, sich unvoreingenommen mit der Wahrnehmung des eigenen Atems auseinanderzusetzen. Ein Leibphänomenologe hätte vermutlich seine Freude an mir. Ich will einfach nur, dass es aufhört.

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (8)

Dies ist der achte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7)

Das mittlerweile über 112 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

 

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Janine, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Robert Heinze: @rob_heinze, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

 

7.04.2020

Nabard, Bonn

Mein erster Tag in “Freiheit”. Meine erste Woche als gesunder Mensch. Ich gehe nach Wochen wieder einkaufen und sehe die Menschen sich plötzlich anders verhalten. Als würde eine unsichtbare Hand der Angst über sie alle liegen von der ich mich irgendwie befreit fühle. Sofern das Virus den Regeln der Immunologie, Physiologie und Biochemie folgt, was es tut,  haben diejenigen die daran erkrankt waren und nun gesund sind, eine Immunität entwickelt. Bis zu dem Zeitpunkt wo es mutiert und sich anpasst.

Aber jetzt werde ich in die Stadt fahren, zwei Termine wahrnehmen. Im Rewe einkaufen. Veganes Eis hat mir meine Schwester empfohlen. Morgen darf ich wieder ins Krankenhaus, lernen, praktizieren, helfen. Die Ärzte freuen sich das ich gesund wiederkomme. Ich freue mich dass sie alle gesund geblieben sind. 

Marie Isabel, Dunfermline

Ich unterhalte mich mit einem befreundeten Autor über das Wesen des Erinnerns. Darüber, dass wir uns wundern, wie wenig wir oftmals erinnern, von einem Raum, einer Begegnung, einer Reise, auch weil sich Manches im Leben erst viel später als bedeutsam erweist. Dass es Momente gibt, in denen unerwartet und überwältigend lebhaft Erinnerungen in uns auftauchen, von denen wir gar nicht mehr wussten, dass wir sie haben. Dass eben diese schweigenden, zurückhaltenden Erinnerungen dennoch in uns fortarbeiten, uns vielleicht leiten, vielleicht aber auch Unsinn treiben. 

Wie werden wir die jetzige Zeit erinnern, in ein paar Monaten, Jahren, Jahrzehnten? Als Zeit der Angst? Der Entblößung von Lücken und Lügen im System Kapitalismus? Der zunehmenden häuslichen und staatlichen Gewalt? Der Großzügigkeit und unerwarteten Hilfsbereitschaft? Der Hilflosigkeit? Der unbändigen Kreativität? Des Muts? Der erzwungenen, genossenen, verhassten Intimität? Des Verzichts? Des Erstarkens nationaler Egoismen und Reflexe? Der Polarisierung? Der Solidarität? Als Zeit, in der wir ernsthaft darüber diskutieren, ob es erlaubt ist, allein im Park auf einer Bank zu sitzen und ein Buch zu lesen (schon immer ein subversiver Akt). Und wie werden verschiedene Altersgruppen sich erinnern? Kinder, die jetzt gern mit Altersgenoss:innen spielen würden, die Fremden noch weiter aus dem Weg gehen müssen als sonst, und die andererseits erleben dürfen, wie das ist, wenn Mutter und Vater oder Mutter und Mutter oder Vater und Vater oder nur Mutter und nur Vater den ganzen Tag unter der Woche daheim sind, vielleicht noch weniger entspannt und müder, dafür aber, zumindest, anwesend.   

Zukünftige Erinnerung spielte auch in der Rede der englischen Königin eine Rolle, die dieses Wochenende ausgestrahlt wurde. Je länger ich ihr zuhörte, umso weiter rückten ihre Worte in die Vergangenheit zurück: “I hope that in the years to come, everyone will be able to take pride in how they responded to this challenge. And those who come after us will say the Britons of this generation were as strong as any, that the attributes of self-discipline, of quiet, good-humoured resolve, and of fellow feeling still characterise this country. The pride in who we are is not part of our past. It defines our present and our future.” [Cut zu Bildern von Menschen, die vor ihren Häusern auf der Straße und in Supermärkten applaudieren und zu Bildern von Kinderzeichnungen mit Regenbögen, die in den letzten Wochen überall im Land an den Fenstern aufgetaucht sind.] Und die Stimme der Königin kommentiert: “The moments when the United Kingdom has come together to applaud its care and essential workers will be remembered as an expression of our national spirit. And its symbol will be the rainbows drawn by children.”

Die Rhetorik des Nationalen und des Stolzes ist bekannt, und ich finde sie ermüdend. Von den evozierten Tugenden – besonders dem ‘fellow feeling’ – hätte ich mir nicht nur als Einwanderin in dieses Land viel mehr gewünscht während der Brexit-Debatten der letzten, zermürbenden Jahre. Werden die Gräben, die während dieser Zeit aufgerissen sind, durch die Pandemie kleiner werden? Ehrlich gesagt, ich bezweifle es, aber ich lasse mich gern positiv überraschen. Am Ende berühren mich die Worte der Königin dann doch noch, wenn hinter dem jahrzehntelang trainierten Gesichtsausdruck der royalen Rolle die Mutter, Großmutter, Urgroßmutter aufscheint: “We will be with our friends again; we will be with our families again; we will meet again.”

Fabian, München

Etwas “Tolles” an der Situation ist die Nicht-Verfügbarkeit eines Fail-Safes – zu viele Variablen, möchte man’s auf ein Bonmot runterbrechen; und natürlich, es ist gleich schön wie die Feststellung banal scheint, dass die, soweit von hier aus sichtbar, funktional ausdifferenzierten, man verzeihe den Luhmann-Kalauer, Gesellschaften “der” Welt die Kontingenz (neu) direkt proportional mit der Neuheit aller möglichen Details, umständehalber, bewältigen. Nichts besonderes, aber schön zu beobachten, wie sich die aus der Historie gezogenen Theorie-Ansätze und ihre im beobachtenden Bewusstsein soweit festgesetzten Fragmente real in Szene gesetzt sich zu bestätigen scheinen, unter, versteht sich, dem Vorbehalt der immer beschränkten Reichweite des sinnbildlichen Auges und dem Fallstrick eines gewissen Zynismus, wenn man, so weit entfernt, darüber hinwegsieht, dass die Kontingenzbewältigung mit realen Kosten (von Menschenleben, ökonomischen Werten, im weitesten Sinne, Existenzen, oder was immer man mit dem geringen Abstand, der zur Verfügung steht, dafür hält) einher, mindestens, geht, während sich reale Gewinne aus der Krise, wenn überhaupt, noch gar nicht abschätzen lassen, und ohnehin noch, mit merklicher Breitenwirkung, kaum jemand bis niemand über Bedingungen nachzudenken scheint, die über die Wechselwirklichkeiten der Sicherung menschlichen Lebens mit “dem” empirischen Gespenst “der” Wirtschaft hinausgingen. Schade eigentlich, oder bloß zu früh, um da mehr zu sehen, als die aus der Zukunft der Krise herüberwehenden Symptome eines, mit Mark Fisher, kapitalistischen Realismus ohne Alternative – von den verschwurbelten bis schlicht und einfach “zu” reduktiven Utopien aus einer längst vergangenen Zeit vor drei Wochen ganz zu schweigen, die da und dort aufploppten, um inzwischen aber wieder völlig das Feld den möglichst kurzsichtigen Forderungen der üblichen wirtschaftsliberalen Mahner überlassen zu haben.

Janine, Flensburg

Seit Wochen gehen wir so selten vor die Tür wie möglich. Man sieht es auch am Inhalt des Wäschekorbs. Ausschließlich Zuhause- und Schlafklamotten. Baumwolle, Fleece. Kindische Farben. Muster wie Pünktchen, Streifen, Sterne, Häschen. Der befüllte Wäscheständer schließlich sieht aus wie ein Symbolbild für „Waschtag in der Clownsschule“.

Slata, München

Jetzt irgendwie runterfahren, sich beruhigen, nur keinen Druck. Die Diss muss nicht diesen Monat schon beendet werden, der nächste Lyrikband muss nicht bis Ende der Quarantänezeit geschrieben sein, keine Lesungen, Gott bewahre, ein übersichtliches Leben also abseits grandioser Pläne. Entzugserscheinungen werden sichtbar, zitternde Hände, pulsierende Augen, es fehlt die tägliche Dosis Erfolgsdenken und Konkurrenz. Ich versuche mich an den Kürbispflänzchen zu orientieren, an den Sonnenblumenkeimlingen auf dem Balkon, sie wachsen langsam, Geduld, Geduld nur, Aufmerksamkeit und Zuversicht, gar nicht im moralischen Sinn, als praktische Sentenz oder Spiritualität, nein, ich meine es völlig sachlich, ich will am Ende dieser Zeit dazu kommen, mich, nur an sich, ohne alles, was ich machen sollte, könnte, mich nicht weniger wertvoll als diese Keimlinge auf dem Balkon zu schätzen.

8.04.2020

Sarah, München

Es gibt Dinge, die lassen uns nicht los. Ich meine nicht Traumata. Ich meine Passionen, Obsessionen, Faszinosa. Dinge, Ereignisse, die uns an irgendeinem Moment in der Kindheit packen und ab diesem Moment können wir nicht mehr von ihnen lassen. Für mich sind das Pflanzen und Insekten. Und nun trägt mich diese Passion durch dieses merkwürdige Corona-Frühjahr. In allen möglichen Näpfen und Töpfchen keimt und wächst es. Ich taste mich vor von den sicheren, vertrauten Projekten, der altvertrauten Tomatenzucht von einem halben Dutzend Pflanzen zu verwegenen Experimenten. Wassermelonen und mexikanische Minigurken (von denen ich noch nicht einmal weiß wie sie aussehen und schmecken werden), die nun in der Wärme von Plastikhüllen das Licht der Welt erblicken bestaune ich. Und ich bin mir nicht sicher, wer hier wen mehr päppelt. Jeden Morgen gibt es ein neues Blatt zu bestaunen, hat sich eine weitere Ranke gebildet. Die Zeit geht voran, sie bleibt nicht stehen. Die Pflanzen sind ein gewachsenes Kalendarium. Sie werden Früchte tragen. Vielleicht nicht genießbar. Wassermelonen in Deutschland sind eine wirklich merkwürdige Idee und wahrscheinlich geht es schief. Aber das macht nichts. Nein, es scheint mir geradezu unwahrscheinlich, dass dieser äußere Stillstand eine schmackhafte, süße Wassermelone hervorbringen kann. Aber Wachstum. Ranken. Blätter. Stille Bewegung. Trotzdem.

Jan, Hannover

Die Stadt um mich herum fühlt sich an wie ein Anzug, der zu weit geworden ist. Wie ein verlassener Badeort im Winter, in dem nur noch die mürrischen Einheimischen durch eine Kulisse schleichen, die für die Belustigung aufgekratzter, längst abgereister Besuchermassen ausgelegt ist. Geschlossene Geschäfte und Cafés warten hinter dunklen Schaufensterscheiben auf neue Gäste, neues Leben im Sommer. «Locktown», schrieb Oli Grimm (@freikampf) heute morgen auf Twitter. Mir schwirrt oft die Melodie von «Everyday Is Like Sunday» durch den Kopf, wenn ich durch das Viertel laufe, «the seaside town that they forgot to bomb». Auch wenn ich Morrissey nicht mehr hören mag.

Die Stimmung in der Stadt ist eigentümlich und ich möchte sie mit meiner Kamera einfangen, aber es gelingt mir nicht. Es fällt mir schwer, die Abwesenheit von etwas festzuhalten, und manchmal, zu selten ist mir das früher geglückt. Jetzt aber schieße ich Bilder von vollendeter Banalität und Langeweile, die ich später am Rechner wieder lösche. «Everyday is silent and grey», Pixel Edition.

Ich lebe in keinem Badeort, nicht an der See. Früher versuchte ich mir manchmal mit geschlossenen Augen vorzustellen, das Rauschen des Verkehrs auf dem nahen Kreisel wäre das Meer oder ein Hafen, vergebens. Doch selbst der Kreisel ist jetzt still geworden, auch das sonst so beständige Hupen und Bremsenquietschen der aufgeregten Autos (Deutsche können keine Kreisel) ist nahezu verstummt. Ich sitze auf dem Balkon und genieße die Sonne, die ihr warmes Licht großzügig über den beinahe leeren Parkplatz des Callcenters ausgießt. Aus der Ferne weht die abgehackte Stimme des Mannes herüber, der mit einem Megaphon die Kundenschlange vor dem wiedereröffneten Baumarkt  durch einen improvisierten Kordon aus Europaletten, Malerböcken und Flatterband dirigiert. Wie in einem Flashmob mit Sicherheitsabstand versammeln sich die Bohr- und Bastelfreudigen vor der mächtigen orangefarbenen Heimwerkerkathedrale, als wollten sie ein Statement abgeben: Wenn nicht mehr geschraubt und gedübelt wird in diesem Land, hat das Virus schon gewonnen.

Sandra, Berlin

Ich habe eine sehr sehr schlechte Serie von Anfang bis Ende gesehen (Unorthodox).

Ich habe Eis gegessen (Affogato, Vanilleeis in Espresso).

Ich habe versucht zu arbeiten (Wirklich?).

Ich habe wirklich versucht zu arbeiten.

Ich hatte einen Lachkrampf und zwei Wadenkrämpfe.

Ich habe ein bisschen geweint.

Ich habe im Supermarkt analog-Pac-Woman gespielt.

Ich habe Nachrichten geschaut gehört gegessen gestreamt geträumt.

Ich habe von DIY-Mundschutz-Tutorials gealbträumt.

Es ist Frühling, und mir ist nach Winterschlaf.

Und was ich im Übrigen noch sagen will:

Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. 

[da capo al fine]

Janine, Flensburg

Am späten Abend erst zum Hundestrand, dann zur Schusterkate gelaufen, dem einzigen unbewachten Grenzübergang zwischen Deutschland und Dänemark seit Wiedereinführung der Einreisekontrollen 2016. Doch auch hier kommt man nun nicht mehr rüber, die Brücke ist über ihre gesamte Länge im Zickzack mit rot-weißem Band abgesperrt. 

Auf der anderen Seite sieht man schemenhafte Gestalten, dänische Polizei, die sich mutmaßlich langweilt, ab und zu blitzt der bläuliche Screen eines Smartphones auf. Hinter ihnen, unsichtbar in der Dunkelheit, führt der im letzten Jahr fertiggestellte Wildschweinzaun aus dem Kollunder Wald hinaus und etwa zwanzig Meter in die Ostsee hinein. Der Zaun soll ein Bollwerk gegen die Afrikanische Schweinepest sein, Anfang Februar gab es noch einen Protestmarsch von Bürger*innen diesseits und jenseits der Grenze, in den Zaun wurden Plastikrosen gesteckt, aber darüber spricht gerade niemand mehr.

Am Strand sitzt eine Gruppe Jugendlicher und trinkt Alkohol. Sie machen mich wütend, weil sie mindestens zu fünft sind und natürlich null Komma null Abstand zueinander halten, gleichzeitig tun sie mir leid, weil sie wahrscheinlich ihre Gründe haben, kurz vor Einbruch der Nacht noch hier zu sein. Schätze, zuhause ist es beschissen und war es auch schon vor Corona.

Marie Isabel, Dunfermline

Ich möchte Zug fahren. Ich laufe zum Bahnhof und nehme die erste Verbindung, die kommt. Richtung Edinburgh. Es sitzt kaum jemand im Wagen. Eine Frau, die wippenden Kopfes Musik hört. Ein älterer Mann in dunkelgrauer Jacke. Draußen ist es dunkel. Schon spät. Als der Zug die Querung des Firth of Forth erreicht, schweben wir einen Moment lang über dem Wasser. Ein weiter Raum öffnet sich. Lichter an beiden Ufern senden Lebenszeichen. Da ist noch jemand wach. Menschen in kleinen oder größeren Häusern. Mit und ohne Garten. Alle gemeinsam allein. Ich schließe die Augen. Höre dem Räderschienenrattern zu. Es ist jetzt kälter als mittags, da die Sonne weiß und warm aus blauem Himmel schien, so als sei Sommer und wir hätten alle frei, so als könnte ich einfach zum Bahnhof laufen und Zug fahren, weit in dieses schöne Land hinein, und aus der Nacht in den Morgen, der doch unweigerlich auf das Heute folgen muss, und auf den ich jedesmal hoffe, wenn es dunkel ist, und ich die Augen schließe.

Svenja, Köln

Corona ist seit dreimal Müll runter bringen. Seit 23 mal wischen. Seit 48 mal Zähne putzen (nach dem Duschen muss man immer auch Zähne putzen). Corona ist seit 13 Dosen Kidneybohnen, seit sechs Brokkoliköpfen, seit 4 Paketen guten Humus aus dem türkischen Supermarkt und 3 Paketen schlechten Humus aus dem REWE. Seit Corona habe ich 13,47 Stunden Hörbuch gehören, 57 gedruckte Seiten gelesen und 147 digitale, aber manche habe ich auch überflogen. Ich habe sechs Fenster geputzt, 13 Serienfolgen gesehen, zweimal die Wäsche zum Waschsalon getragen und eine neue Zahnbürste gekauft. Ich habe zwei Arzttermine abgesagt und einen wahrgenommen. Ich saß 37,2 Stunden vor Zoom und habe 24 Stunden lang Skype benutzt, ich habe 14 Menschen angerufen und drei Anrufe nicht beantwortet, 2 Nachrichten nicht gelesen, aber 6245 Zeichen in SMS geschrieben und es ist immer noch Corona.

Ich habe über drei Autorinnen gelesen und mir ihre Namen aufgeschrieben. Meine Ordner haben jetzt auch welche: Archiv 2009–2011, 2011–2015, 2017–heute. Ich habe drei T-Shirts aussortiert und einen Brief beantwortet, zwei geschrieben, eine Postkarte bekommen und den Pfand weggebracht. Ich habe versucht meine Augenbrauen wachsen zu lassen. Ich wollte auch etwas Wildes im Gesicht, etwas, das die Ausnahme markiert, aber auch ein bisschen auf mein Potential als Nachdenkerin verweist. Am Anfang habe ich mir vorgenommen, einen strengen Plan zu haben, gut aufzupassen, jeden Tag etwas mit dem Körper zu machen, dass ich ihn nicht vergesse in der Stille. Ich habe eine Absage bekommen und hätte noch einen zweiten Brief geschrieben, aber dann ließ ich ihn liegen bis es wieder hell war und dann kam er mir albern vor.

Seit Corona habe ich 171 Stunden geschlafen und fünf Bilder von meinem Gesicht gemacht, aber sie haben mir alle nicht gefallen. Auf meinem Gesicht sind 48 neue Sommersprossen, die mag ich aber. Seit Corona hatte es 179,1 Stunden Sonne, kein Eis und keinen Schnee, aber 12 Tage mit Niederschlag. Ich war fünf Mal in Begleitung spazieren und den Rest alleine. Es hat mir gut gefallen, wenn ich unterwegs Fische oder Vögel oder Hunde gesehen habe. Einmal stand ich sehr lange vor einem geschlossenen Kosmetiksalon und betrachtete die zurückgelassenen Fische im Aquarium. Sie kamen mir außerordentlich schön und bunt vor, vielleicht gehört sich das so für Kosmetiksalonfische. Sie machten mürrische Gesichter, vielleicht weil sie wussten, dass sie jetzt lange niemand mehr betrachten würde und dann gab ich mir besonders viel Mühe.

Vor zwei Wochen kam ein Paket für einen Nachbarn. Ich hatte es angenommen und auf ihn gewartet. Als er nie kam, stellte ich es in den Flur und jetzt steht es seit zehn Tagen auf der Fensterbank. Manchmal drehe ich es um, sodass man die Anschrift richtig lesen kann, aber jemand im Haus dreht es immer zurück. Ich habe seit 39 Tagen niemanden mehr geküsst, aber das ist nicht die Schuld von Corona.

9.04.2020

Tilman, Hamburg

Am Dienstag war ich zu einem Termin beim Landgericht Hamburg. Im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit kann jede*r Richter*in selbst entscheiden, ob verhandelt wird oder nicht. 

Das ganze Landgericht ist ausgestorben. An der Tür – klassischerweise müsste man Pforte sagen – hängt ein Zettel, dass man wegen Corona und doch bitte nur, wer unbedingt muss usw. Ich schlendere also durch ausgestorbene Gänge und warte vor dem Sitzungssaal. Es findet nur ein Termin statt an diesem Tag, in diesem Raum. Der Fall an sich ist unspektakulär und aufgrund der Vorgeschichte gehe ich davon aus, dass der Gegner nicht erscheint. 

Ein junger Richter kommt vorbei grüßt nett, wir stellen fest, dass wir gleich gemeinsam verhandeln und der Gegner wohl nicht erscheint. So ist es dann auch. Der Termin ist daher entsprechend kurz, es sind nur wir beide. Es ergeht Versäumnisurteil. Warum er denn heute verhandelt, möchte ich vom Richter wissen, denn eigentlich lief der Prozess bisher über den Tisch einer Kollegin, die auch den Termin angesetzt hat. Die Kollegin ist in Quarantäne, sagt er, Kontakt mit einem Coronapatienten. Ich schlendere durch das leere Landgericht nach draußen und gehe mit R. Spaghettieis essen und Knackfolie knacken.

Matthias, Jena

Vorgestern hatte ich den zweiten Tag in Folge leichte Atemschwierigkeiten und Schmerzen in der Brust. Natürlich habe auch ich von den atypischen Covid-Verläufen gehört, bei denen außer unklaren Schmerzen keine Symptome auftauchten, und mir entsprechend Sorgen gemacht. Ich bin kurz vor 12 zum Hausarzt; um 16 Uhr hatte ich mehrere ausführliche Arztgespräche, EKG, Thoraxröntgen und Lungenfunktionsprüfung hinter mir und auf Verdacht auch schon einen Asthmainhalator bekommen. Wenn die Radiologiepraxis nicht am anderen Ende der Stadt gewesen wäre, wäre es schneller gegangen. Es wurde nichts diagnostiziert außer einer leichten Überblähung der oberen Lunge; ich solle wiederkommen, falls es schlimmer wird oder anfallartig auftritt. Ich befürchte, es ist irgendwie psychosomatisch. Vielleicht ein Selbstverstärkungsphänomen, weil man aktuell mehr auf seine Atemwege achtet? Mir ist es alles recht peinlich, aber zuhause bleiben mit Brustschmerzen wollte ich in Zeiten einer Lungenseuche nun auch nicht.

Heute, Gründonnerstag, Ostereinkäufe. Das Konsumverhalten ändert sich – ich habe zum ersten Mal überhaupt relevante Mengen auf dem Wochenmarkt eingekauft. Alles war zu bekommen. Es nötigt mir Bewunderung ab, wie gut offenbar sehr vieles weiterhin funktioniert, Gesundheitssystem, Lebensmittelversorgung, Nahverkehr.

Und natürlich alles mit Maske, die Pflicht gilt in Jena seit Montag quasi in allen öffentlichen geschlossenen Räumen, die man noch betreten darf. Eine ganz neue Erfahrung ist es, über Stunden hinweg den eigenen Atem zurückgeworfen zu bekommen. So rieche ich also, wenn ich Kaffee getrunken habe? Auch das ist mir peinlich.

Was ich beruhigend und hoffnungsvoll finde, ist, dass an allen großen und kleinen Baustellen der Stadt weitergebaut wird. Teils sogar mehr, schneller und früher als vor der Pandemie, da man die Zwangspause ausnutzt. Wenn der Ausnahmezustand wieder vorbei ist, hat Winzerla eine neu angelegte Kinderrutsche und renovierte Wasserläufe und Jena ein neues Bootshaus – und wer weiß, was noch alles fertig wird. Es weiß ja niemand, wie lange es alles dauert, aber dass weitergebaut wird, ist ein überall sichtbares Zeichen dafür, dass an eine Zukunft geglaubt wird, in der es wieder eine nicht-elektronische Öffentlichkeit gibt, und das ist keine Selbstverständlichkeit mehr.

Sarah, München

Ein erster Einkauf mit Maske. Eine selbstgenähte, bei ebay gekauft. Die Gummibänder sind zu eng. Sie schneiden in die empfindliche Haut hinter den Ohren, zuerst nur ein Ziepen, steigert es sich in wenigen Minuten in einen Schmerz, der es mir schwer macht, mich zu konzentrieren. Und plötzlich steigt eine Wut in mir hoch, die mich völlig überrumpelt. Ich sehe mich die Maske herunterreißen und mich schreiend auf die beigefarbenen Fliesen des Supermarktes schmeißen. SO EINE VERFICKTE DRECKSSCHEISSE! Möchte ich auf einmal schreien. Jetzt. Hier. Ganz plötzlich. Ich bezahle, obwohl ich höchstens die Hälfte der Dinge zusammengesucht habe, die ich kaufen wollte, stürze zu meinem Auto, schmeisse den Einkauf in den Kofferraum und steige ein. Das Gummi zerreißt, als ich mir die Maske herunterzerre. Ich haue auf das Lenkrad, das kurz und erschrocken aufhupt. “SCHEISSE!” schreie ich endlich wirklich. Und nochmal “VERDAMMTE SCHEISSE!”. Es ist nicht ganz so befreiend, wie ich es mir im Supermarkt vorgestellt habe. Aber es hilft ein wenig. Dann starre ich für ein paar Minuten aus der Windschutzscheibe auf die noch kahle Parkplatzbepflanzung. In München kommt das Frühjahr immer später als im Rest von Deutschland. Ohne die Blätter ist der braune Rindenmulch besonders Trist. Die Maske. Sie hat sich am Schaltknüppel verfangen. Das Gummiband lässt sich ganz leicht wieder zusammenknoten, was ich auch gleich tue. Schuldbewusst. Warum diese Wut? Warum habe ich das vorher nicht gemerkt? Ich lege die Maske in meine Tasche, vorsichtig gefaltet, was eigentlich gar nicht meine Art ist. Meine Taschen ist immer ein Sammelsurium aus Zetteln, Müll und Fundstücken, wie Steinchen oder verlorenen Knöpfen. Ich positioniere die Maske noch einmal sorgfältig, als legte ich sie in ihr Bettchen, bis zum nächsten Mal. Verdammte Scheiße.

Shida

Liebes Tagebuch, endlich vertraue ich es dir an, denn ich habe herausgefunden, dass es alle machen: Ich hatte Besuch. Ehrlich gesagt schon ganze vier Mal. Ich schwöre, wir saßen nur draußen (nur möglich weil immer noch Exil auf dem Land dank fetter Privilegien), wir hielten Abstand, wir hatten zwischendurch sogar Mundschutz an, wir haben uns wirklich Mühe gegeben. Erst konnte ich deswegen nicht schlafen, dann fand ich es schön, dann lud ich neue Menschen ein (die verabschiedeten sich allerdings mit den Worten „Es war sehr doof“, vermutlich, weil es wiederum ihr erstes Mal war).

Ich bin so verflucht regelkonform, wenn Merkel sagt „Bitte soziale Distanz wahren“, dann bin ich die erste Person, die zwei Minuten später alle Verabredungen absagt. Ich habe nicht gewusst, dass es so viele Menschen gibt, die gar nicht nur mit ihrer allernächsten Isolationsgruppe abhängen, sondern zwischendurch andere Leute treffen. Aber alle auf dem Land machen das! Wenn man einmal anfängt, sich zu outen, geben alle es zu! Sie treffen sich heimlich! Pah! Erwähnenswert finde ich das übrigens nur, weil es so unglaublich schön zu durchschauen ist, wie sich alle dabei an irgendwelchen Entschuldigungen und Erklärungen festklammern und wie ich selbst vorne mit dabei bin. Wie wir in der Sonne sitzen, Kuchen essen und uns aufzählen, dass wir wirklich gesund sein müssen, denn wir sehen ja wirklich niemanden und gehen nur einmal die Woche einkaufen und waschen uns dauernd die Hände undsoweiter. Das sind tolle, beruhigende Gespräche, in denen wir uns gegenseitig die Absolution geben, perfekte Ausnahmen füreinander zu sein. Unangenehm wird es, wenn wir dann feststellen, dass wir die Grenzen doch irgendwie alle vollkommen unterschiedlich setzen. Ich am äußersten Rand (fasse Tassen für Gäste nur mit Tüchern an, rühre sie dann nicht mehr an, ziehe von mir berührte Kannen und Messer wieder aus dem Verkehr), die anderen am anderen äußersten Rand (die Kinder wird man ja wohl noch abknutschen dürfen! Nur noch einmal, nur noch mal kurz, Kinder husten doch sowieso immer!). Äh, Leute, so geht das eigentlich nicht, ihr müsst das doch alle so wie ich machen, denke ich hinterher und weiß auch, dass alle das gerade denken. Alle denken gerade, sie machen es genau richtig und wenn man einmal anfängt, aufzuzählen, was man gelesen hat und deswegen ganz genau weiß, dass man es ganz richtig macht, dann entspinnt sich das dreißig Millionste, langweiligste Gespräch unter Hobby-Virulog:innen, die vor einem Monat nicht mal wussten, was Virulog:innen sind. Ich halte mich auch stur an meine eigenen Erkenntnisse. Zum Beispiel daran, dass es DER Virus ist und nicht DAS Virus. Vor drei Wochen hat mich jemand zum ersten Mal darauf hingewiesen, dass ich das falsch mache. Schockierend, was man in einunddreißig Jahren auf der Welt immer noch nicht gewusst hat. Ich weigere mich trotzdem, mich zu korrigieren. An irgendwas muss man doch stur festhalten dürfen, bitte. Lasst mir den Virus.

Fabian, München

Grade ist es schwer, einen Gedanken zu fassen, oder nicht in Bedeutungsschwere abzugleiten, die, als befände man sich gewissermaßen an einem Scheidepunkt, gewissermaßen mehr Zeit einnimmt, im Alltag, oder was der immerhin nur halbe Arbeitstag davon übrig lässt.

Abgesehen davon, dass ein Teil dieser Tage jetzt im Homeoffice verbracht werden, hat sich daran nichts geändert, im Grunde, dass sich die Tage, die Nachtzeiten, schlafenderweise, nicht mitgezählt, in zwei Teile reißen, deren Einheit die Arbeit enthalten, die ich gerne mache, und einen meistens diffusen Rest. Das heißt, um nicht zu sagen, der Ausnahmezustand habe sich normalisiert, dass seine alles außer gewöhnlichen Elemente sich soweit in das Denken darüber integriert haben, dass das Nachdenken über die Außergewöhnlichkeit der Umstände und Maßnahmen sich an der Außergewöhnlichkeit der Maßnahmen und Umstände nicht mehr über die Perspektive hinaus stören, an der sie schließlich enden, gerade weil alle Aussagen, die darüber gemacht werden, noch so vage sind, notgedrungen.