Kategorie: Allgemein

Fetisch Kreativarbeit – Künstlerbiographien als Lebensratgeber

von Felix Lindner

 

Und wieder eine falsche Kuh. Also setzen sich die beiden Frauen, Gertrude Stein und Alice Toklas, noch einmal in den Ford und fahren weiter, bis zur nächsten Kuh. Steins Aufgabe ist es, zu schreiben, und sie schreibt am liebsten draußen, auf einem Campingstuhl, und zwischendurch, da braucht sie diese Aussicht. Und auch Alice Toklas hat eine Aufgabe: die Kuh zu finden, die zur Stimmung ihrer Freundin passt und sie in ihr Blickfeld bringen. Es ist oft die falsche. Ist eine gute Kuh gefunden, schreibt Stein manchmal, aber meistens, heißt es, meistens schaut sie einfach nur auf Kühe.

Das ist nur eine der 161 Miniaturen, die der Journalist Mason Currey schon vor ein paar Jahren in einem Büchlein zusammengestellt hat: Daily Rituals. How Artists Work heißt es und versammelt die Kreativroutinen der „Geistesgrößen der letzten 400 Jahre“. Darunter sind bekanntere und mittlerweile kanonisierte Anekdoten wie Kafkas Nachtarbeit mit Turnübung und Thomas Manns gestrenge Stundentaktung, weniger bekannte wie Stephen Kings tägliches 2000-Wort-Pensum und Prousts Schreibhaltung im Liegen – sowie den meisten wohl recht unbekannte wie die des Behavioristen B. F. Skinner, der seine Arbeitssessions mit einer Stoppuhr maß und dann auf einer Produktivitätskurve aus Wort- und Stundenzahl evaluierte. Die Angewohnheiten reichen von sympathisch – der Komponist und Möbelfetischist Morton Feldman meinte, wenn er endlich einen bequemen Stuhl fände, könne er es auch mit Mozart aufnehmen – über erwartungsgemäß sonderbar – John Cheever, der jeden Morgen im Anzug mit dem Fahrstuhl in den Lagerraum seines Hochhauses fuhr, um dort bis Mittag nur in Unterhosen zu schreiben – bis hin zur Tyrannei, wie bei Gustav Mahler, der seine Frau Alma eher aus Dekorationszwecken zu seinen stundenlangen Kreativspaziergängen mitnahm. Während er komponierte, hatte sie still zu sein und durfte ihn nicht ansehen.

Unter dem schrägen Titel Musenküsse erschien die Sammlung 2014 auch auf Deutsch, und das Feuilleton hatte viel Spaß damit. „Witzige“ und „amüsante“ Anekdoten und „Marotten“ „aus der wundersamen Welt“ der Künstler:innen hätte man da vor sich, die zeigten, „dass manche Klischees über Genies tatsächlich der Wahrheit entsprechen“, ja „[a]uch geniale Persönlichkeiten haben ihre Alltagsrituale“. Überhaupt sei das Buch, wie die Welt schrieb, „mehr als nur eine lustige Anekdotensammlung: Es ist die Aufforderung, den eigenen Lebensrhythmus zu analysieren.“ Der „Künstleralltag“, heißt es weiter, „inspiriert den Leser, seine eigenen Gewohnheiten zu ergründen und zu überdenken.“ Hier atmen wir kurz aus.

Dass das Buch als Ratgeber und nicht allein aus Arbeitsvoyeurismus rezipiert werden würde, scheint von Verlagsseite zumindest angenommen worden zu sein. Mason Currey jedenfalls fand sich bald in der Rolle des Kreativcoachs wieder, obwohl er doch nach eigener Aussage nur zeigen wollte, welche Verhaltensweisen zu „großartigen Werken“ geführt hätten.  Das ist alles harmlos, solange Künstler:innen nicht zu erfolgreichen Unternehmer:innen  gemacht werden und ihre Arbeitsweise zum Versprechen einer Produktivitätssteigerung. Dann nämlich werden gegenwärtige Imperative von Effizienz und Selbstunternehmertum von vermeintlich unschuldigen, weil künstlerisch wertvollen Vorlagen gestützt. Wer noch besser arbeitet, seinen Alltag noch nutzbringender kuratiert, scheint uns das Buch zu sagen, der wird auch erfolgreich sein. So wird nicht nur Disziplin zur Seinsaufgabe, sondern auch Prekarität als Lifestyle neutralisiert.

Diese Mischung aus scheinbar vorbildlichem Zeitmanagement und Schrullenhaftigkeit scheint hierzulande immerhin einen Nerv getroffen zu haben. Schon im nächsten Jahr erschien ein Folgebuch: Mehr Musenküsse, das unter Beteiligung des Journalisten Arno Frank speziell auf den deutschsprachigen Markt zugeschnitten wurde. Wir wissen nun, dass Sloterdijk zur Entspannung lange Fahrradtouren unternimmt, Handke bei Blockaden gerne Brombeeren sammelt und Scholl-Latour nie Mittag aß. Obendrein heißen sie alle drei auch Peter. Carl Gustav Jung schrieb zwei Stunden am Vormittag, Juli Zeh schreibt zwei am Tag, Franz Josef Wagner fängt um halb vier an und schickt seine Kakophonie einer Kolumne spätestens um sechs weg. Die Routinen sind sich auch im Folgeband allesamt schrecklich ähnlich und liefern Erkenntnis höchstens in der Summe.

Sieht man genauer hin, scheint man es hier mit einer noch recht jungen Art von Selbsthilfeliteratur zu tun zu haben, die Kreativität zum Maßstab gelungenen Alltagsmanagements erklärt. Der Wunsch nach dauerhafter kreativer “Transformation des Alltags“, heißt es in Andreas Reckwitz’ Die Erfindung der Kreativität, sei seit den 1990er-Jahren zu beobachten: Es gelte, einen „erfolgreichen kreativen Habitus“ anzulegen, sein „natürliche[s] Potenzial durch Arbeit an sich selbst zu realisieren“[1], und Künstler:innen stehen dabei Modell. Der Kurier fühlte sich durch die Musenküsse veranlasst, über den „perfekten Tagesablauf“ zu sinnieren und befand: „Nun, da mit dem 12-Stunden-Tag täglich bis zu vier Überstunden möglich sind, ist die Frage nach der optimalen Zeiteinteilung für maximale Produktivität aktueller denn je. […] Ob wir mit der Mehrarbeit jedoch dieselben Meisterleistungen wie Kafka schaffen, bleibt abzuwarten.“ Abgesehen davon, dass die Klientel dieses „Wir“ nur in einer gesellschaftlichen Schicht zu suchen ist, der Zeit überhaupt variabel zur Verfügung steht, erscheint es schlicht ignorant, den Lebensstil von schreibenden Junggesellen zu Beginn des 20. Jahrhunderts als sinnvolles Modell für heutige Arbeitnehmer:innen zu erklären. So nämlich werden ökonomische Strukturen zu individuellen Kompetenzfragen. Sagen Sie doch mal sorgearbeitenden Menschen, sie könnten ruhig ein wenig produktiver in ihrer Zeiteinteilung sein. Die machen das bereits. Kafka arbeitete übrigens halbtags.

Das führt zu einem weiteren Problem. Eher ungewollt zeigen diese Bände, wie viel Sorgearbeit von Frauen notwendig ist, die Wunschfigur des Kreativgenies überhaupt erst zu ermöglichen. Dass sich Sigmund Freud anscheinend sogar die Zahnpasta von seiner Frau Martha auftragen ließ, dass Mark Twain mit einem Horn von seiner Familie gerufen werden musste, steht in eklatantem Gegensatz zu Frauen wie Frances Trollope oder Sylvia Plath, deren Schreibarbeit oftmals um vier Uhr früh begann, um im Verlauf des Tages putzen, waschen und kochen zu können. Was bei den Männern inspirieren soll, das Künstlertum als role model, wirkt bei den Frauen in Anekdotenform allzu oft wie Hohn.

Wohl auch deshalb reagierte man im letzten Jahr mit einem dritten Band der Musenküsse, diesmal nur mit Künstlerinnen. „[G]leichermaßen Fortsetzung wie Korrektiv“ sollte er sein, und bis auf den Einband, bei dem man auf Birgit Nilssons Ausspruch „Mein kreatives Geheimnis sind bequeme Schuhe“ offenbar nicht verzichten konnte, scheint das auf den ersten Blick gelungen. Er sei nun „freier vorgegangen“, schreibt Currey, und habe auch Künstlerinnen porträtiert, „die keinem geregelten Tagesablauf folgten – entweder, weil sie sich diesen Luxus nicht leisten konnten, oder weil sie keinen Wert darauf legten“. 

Dass das Ganze trotzdem überhaupt nicht aufgeht, liegt an der Prämisse dieser Sammlungen. Sie sollen zur Nachahmung anregen, kreative Archetypen liefern, vielleicht sogar Vertrauen in die eigene Arbeit schaffen. Mit dem Fokus auf die Widerstände weiblichen Künstlertums zeigen die Porträts aber eigentlich nur das, was sie verbergen wollten: schreibende Mütter statt Schriftstellerinnen, malende Hausfrauen statt Malerinnen, ein großes „Trotzdem“, das emanzipativ sein will, aber nur den Status quo der Repressalien abbildet, die nicht nachgeahmt, sondern überwunden werden müssen. Es ist dieses „Trotzdem“, trotzdem schreiben, trotzdem malen, trotzdem singen, das nicht richtig passen mag und an die „Starke Frauen“-Kalender  erinnert. Das ist doppelt schade, weil es in der Sache wichtig, nur in der Form daneben ist.

Es ist die Form der Anekdotensammlung, der Miniaturen, die diese Bücher in ihrer Rezeption so problematisch macht. Das liegt zum einen daran, dass die Logik der Anekdote einen desaströsen Quellenumgang geradezu herausfordert. Currey unterscheidet wenig sorgsam zwischen Selbst- und Fremdaussagen. Gerüchte stehen neben Mutmaßungen und Briefstellen neben Biographien. Das lässt Künstler:innen gerade nicht zu Kreativexempeln werden, sondern zu mythischen Kreaturen, die im Stundentakt aus Kaffeepulver Gedichte pressen. Sammlungen als solche suggerieren obendrein, dass es hier so etwas wie Traditionslinien und Konstanten in den Unterschieden gibt, was bei dieser Bandbreite an Künstler:innen schon sozialgeschichtlich nicht der Fall sein kann.

Wer darstellen möchte, mit welchen Routinen, Störungen, Redundanzen und Kontingenzen Künstler:innen bei ihrer Arbeit konfrontiert werden, der muss den Blick auf die Bedingungen dieser Arbeit, nicht auf die Sache selbst lenken. Anekdoten aber machen diese Geschichte intransparent. Sie verwechseln Historie mit deren Wiedergabe, machen Zufälliges aus Notwendigem und aus einem ganzen Leben einen Satz. Sie machen unsichtbar, wie die Ränder künstlerischer Arbeit in deren Zentrum rücken, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, dass Männer abends turnen und Frauen morgens kochen. Kritik wird so unmöglich.

Wie man klug und sinnvoll darauf eingehen kann, zeigt die im November dieses Jahres erschienene und von Ilka Piepgras herausgegebene Sammlung Schreibtisch mit Aussicht. Schriftstellerinnen über ihr Schreiben. Auch hier soll der „Entstehungsprozess literarischer Arbeit“ gezeigt werden, aber mit dem Unterschied, dass die Künstlerinnen hier ausschließlich selbst zu Wort kommen.  Es scheint fast so, als ob die vielen Mythen um geniale Männer gar nicht nötig wären, als ob der Klatsch nur zementieren würde, was man sich ohnehin schon gedacht hatte. Was die Texte von Terézia Mora, Zadie Smith, Antonia Baum oder Elfriede Jelinek den Anekdotenplaudereien von Curreys Sammlungen voraushaben, ist, dass sie etwas zeigen können, was der „Veröffentlichung eines Kunstwerks lange voraus[geht]“: die Vorurteile, die öffentliche Wahrnehmung, die sozialen Investitionen und institutionellen Widerstände, denen schreibende Frauen noch immer ausgesetzt sind. Diese Selbstaussagen erzählen von der Schwierigkeit und auch vom Glück, zu schreiben. Solch Geschichte hätte Currey auch an Männern zeigen können. Nur Anekdoten reichen dafür nicht.

Neben historischer Arbeit braucht das Kreativitätsparadigma dieser Bücher deshalb vor allem eins: Sensibilität. Das Bewusstsein dafür, dass man es in diesen Miniaturen weder aufseiten der Künstler:innen noch aufseiten der Leser:innen mit Luxusproblemen oder Privatsachen zu tun hat, sondern mit Geschlechter- und mit Wirtschaftspolitik, mit Sozial- und Institutionengeschichte. Wo das am wenigsten auffällt, ist es, wie so oft, am wirkungsvollsten – und man sieht am Ende nur die Kuh, aber nicht, wer sie dort hingeschoben hat.  

 

[1] Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin 2012, S. 230, S. 323 sowie S. 346.

 

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Ein geheimer Garten / Ein vergrößertes Zimmer

(Zwei Essays aus der Reihe Literatur von See zu See des LCB)

Ein geheimer Garten

von Fernanda Melchor (übersetzt von Angelica Ammar)

 

Ich zog in diese Wohnung wegen des Gartens gegenüber. Die Nähe zum Stadtzentrum von Puebla, die drei großen hellen Zimmer, die günstige Miete, all das vergaß ich, als ich zum ersten Mal aus dem Wohnzimmerfenster sah und vier Stockwerke weiter unten, auf der anderen Seite einer engen Gasse, einen von Mauern umgebenen, einsamen wilden Garten entdeckte, dessen Avocadobäume, Mispelbäume, Pfirsichbäume und rosa Engelstrompeten sich im kupferfarbenen Licht der Dämmerung wiegten. Ich nehme sie, sagte ich zum Vermieter, noch ehe er mir den Rest der Wohnung gezeigt hatte. Die Rohre waren in einem schlechten Zustand, die Schlafzimmerwände hätten dringend etwas Farbe gebrauchen können, doch all das war mir egal. Gebannt schaute ich auf den Garten gegenüber. Ich hatte das Gefühl, es sei das Zeichen, auf das ich gewartet hatte, das Zeichen, dass es richtig war, aus dem Haus auszuziehen, in dem ich fast ein Jahrzehnt lang Mutter, Gattin, Hausfrau, Chauffeur, Sklavin und manchmal, gelegentlich, frühmorgens am Esstisch, wenn alle noch schliefen, Schriftstellerin gewesen war.

Fernanda Melchor (©Literatura Random House)

Es war eine turbulente, beklemmende Zeit. Ich war so am Boden zerstört, dass ich die Tage ohnmächtig an mir vorbeiziehen ließ. Nach dem Umzug weigerte ich mich monatelang, einen Kühlschrank zu kaufen, so überzeugt war ich, dass ich ihn nicht brauchte. Nachmittags füllte ich an einem kleinen Tisch, den meine beste Freundin mir geliehen hatte, die Seiten meines Tagebuchs, schaute auf die nackten Wände meiner neuen Bleibe und die einstaubenden Bücherkartons. Jetzt hatte ich alle Zeit der Welt, um zu schreiben, doch ich war wie gelähmt und dachte nur an das, was ich zurückgelassen hatte: die Familie, die ich mir so sehnlich gewünscht hatte, die Tochter, die ich zu meiner gemacht hatte, weil sie eine Mutter und ich dringend einen Sinn im Leben brauchte. Und abends, wenn Krähenschwärme über den Stadthimmel zogen und die Lichter der Kirchen auf dem Hügel von San Juan angingen, stand ich von meinem Tisch auf, öffnete die Läden und dachte, dass meine kleine Tochter dort drüben, auf der anderen Seite der Stadt, allein duschte und zu Abend aß, und niemand hörte, wie sie sich im Bett laut vorlas, eine einsame Schneeleopardin im Pyjama, und ich blickte zu dem Grundstück gegenüber und stellte mir vor, dieser ummauerte, für die vorbeihastenden Passanten völlig uneinsichtige Garten gehöre mir, nur mir; es sei der Wirklichkeit gewordene geheime Garten, den ich all die Jahre lang versteckt hatte hegen müssen, um weiter schreiben zu können, ungeachtet der Verpflichtungen des Erwachsenenlebens, des fordernden Elterndaseins, der Bitterkeit einer zerrütteten Beziehung, der erdrückenden Schuld, die es mir immer noch bereitete, dieses unverständliche Bedürfnis zu haben, für mich allein zu sein und in diesem Hortus conclusus mit meinen Alter Egos zu spielen, unerreichbar für die Welt, unangreifbar für grausame Worte oder nicht gehaltene Versprechen.

Und so sah ich aus dem Fenster, bis es dunkel war, und nach und nach gelang es mir, mich zu überzeugen, dass der Schmerz ein Ende haben, dass er nachlassen würde, wie ein wild klopfendes Herz sich langsam beruhigt, wenn der Albtraum vorbei ist. Eine eigene Wohnung und ein geheimer Garten und Zeit; das war alles, was ich brauchte, sagte ich mir.

 

Ein vergrößertes Zimmer

von Guadalupe Nettel (übersetzt von Carola Fischer)

 

Virginia Woolf war eine der ersten Feministinnen, die ich gelesen habe, und zweifellos ist sie es, die ich immer wieder lese. Ihr Essay Ein Zimmer für sich allein beschreibt mit  schmerzlicher Deutlichkeit die größten Hindernisse, die einer Frau im Wege stehen, nicht nur, wenn sie eine literarische Karriere und gesellschaftliche Anerkennung anstrebt, sondern auch, was so elementare Dinge wie die Kreativität (die gewöhnlich den entspannten Geist aufsucht) oder die Konzentration anbelangt. Ich glaube, dass die Beobachtungen von Virginia Woolf – obwohl sich die Gesellschaft in punkto Gleichberechtigung der Geschlechter weiterentwickelt hat – auch heute noch gültig sind: Eine Frau, die sich auf künstlerischem oder intellektuellem Gebiet entfalten möchte, muss finanziell unabhängig sein, über einen eigenen Raum verfügen, wo sie sich einschließen kann, um zu lesen und zu schreiben, aber auch über eine – wenn auch begrenzte – Zeit, in der niemand etwas anderes von ihr verlangt. Virginia Woolf sprach vom schrecklichen „Haushaltsengel“, damit meinte sie die gesellschaftliche Forderung, dass Frauen sich um die gesamte Kindererziehung kümmern, Alte und Kranke pflegen und selbstverständlich auch alle Hausarbeiten erledigen, eine Forderung, die uns introjiziert wurde, so sehr, dass wir sie häufig als unsere eigene betrachten, anstatt als das, was sie ist: ein ständiger gesellschaftlicher Zwang. Es ist unbestreitbar, dass wir, was Arbeitsrechte und Chancen angeht, große Fortschritte gemacht haben, aber es ist auch wahr, dass die von uns erlangte finanzielle Unabhängigkeit einen doppelten Arbeitstag bedeutet: Wir arbeiten, um Geld zu verdienen – die Glücklichen unter uns verdienen es mit dem Schreiben oder einer anderen selbst gewählten Tätigkeit –, aber es wird immer noch von uns verlangt, schlimmer noch, wir verlangen von uns selbst, dass wir an der Spitze von Familie und Haushalt stehen. Wenn darüber hinaus unsere Kinder zu klein sind, um zu lernen, wenn sie krank sind oder aus irgendeinem Grund nicht in die Schule gehen können, wird der Tag zur Dreifach-Belastung. Dieser Haushaltsengel ähnelt sehr dem, was die Feministinnen der sechziger Jahre „die mentale Last – mental load“ nannten, nämlich die ständige Sorge um das Wohlergehen der Familie: von der Einkaufsliste über die Impfungen der Kinder bis hin zu den Geburtstagsfesten.

Guadelupe Nettel (©Archivo CNL-INBA)

Jede Frau, die es mal versucht hat, weiß, dass man unmöglich einen Text schreiben kann, ohne sich zu konzentrieren. Manchmal wird man das nur vollbringen, wenn man aus dem Haus flieht. Mal ins Grüne, mal in einen geborgten Raum, wo über mehrere Tage hinweg der Computer oder eine Freundin, die wie wir vor den engelhaften Wesen flüchtet, unsere einzige Gesellschaft sind. Einige Kolleginnen haben mir gestanden, dass sie, um ein Buch zu Ende zu schreiben, ihre Schlafenszeit auf ein Minimum (drei oder vier Stunden pro Nacht) reduziert und dadurch ihre körperliche und seelische Gesundheit gefährdet haben. Somit ist jedes Buch, das eine Frau zu Ende schreibt – unabhängig von seiner literarischen Qualität – eine Heldentat, ein Akt der Auflehnung, ein Sieg über die Ausbeutung durch die anderen und die selbst auferlegte. Und das erklärt auch, warum diese Bücher häufig so überraschend, bedeutend sind, so voller Leben, Kenner des Schmerzes, der der conditio humana innewohnt.

Was, außer einem Zimmer für sich allein, braucht eine Frau noch, um schreiben zu können? Häuser für Schriftstellerinnen, wo wir uns nicht nur einmal in zehn Jahren, sondern täglich aufhalten können, wo man uns mit Kindern aufnimmt und diese mehrere Stunden am Tag betreut, Partner, die sich der geschlechtsspezifischen Ungleichheit bewusst sind, die uns nicht nur „bei unseren Pflichten helfen“, sondern die wie wir die Verantwortung für ihren Teil der Erziehung, der Betreuung, des Haushalts übernehmen, also für jene unbezahlte Arbeit, die gemeinhin übersehen wird. Wir brauchen ein Netz an Freunden und größere Familiengruppen, „Familienkollektive“, wie sie von einigen genannt werden, aber auch Arbeitskollektive, wo eine Solidarität unter Frauen gelebt wird, anstatt dass wir das Konkurrenzmodell unserer männlichen Kollegen wiederholen. Wir brauchen Verleger, die die Artikel von Frauen mit gerechten Honoraren und die Bücher von Autorinnen mit angemessener statt „symbolischer“ Bezahlung vergüten, und zwar im Moment der Veröffentlichung und nicht erst Monate später. Wir brauchen Buchmessen und Literaturfestivals mit Gender-Perspektive, wo unsere Bücher genauso sichtbar sind wie die von Männern verfassten.

Wir brauchen Regierungen, die sich des Werts der Kunst und der Kultur bewusst sind, die Stipendien und andere Fördermittel egalitär vergeben. Ich bin überzeugt, dass diese Notwendigkeiten früher oder später anerkannte Rechte sein werden, aber damit es soweit kommt, ist es unerlässlich, dass wir sie weiterhin mit derselben Hartnäckigkeit einfordern, mit der unsere Vorgängerinnen das Wahlrecht oder den Zugang zu den Universitäten durchsetzten, und ebenso mit derselben wilden Entschlossenheit, mit der Virginia Woolf ihre Arbeit vor allen anderen, auch vor sich selbst, verteidigte.

 

In Zusammenarbeit mit dem Kultur- und Literaturzentrum Casa del Lago und dem Goethe-Institut in Mexiko-Stadt und ausgehend von Virginia Woolfs Essay »A room of one’s own« hat das LCB vier deutsche – Juliana Kálnay, Isabelle Lehn, Inger-Maria Mahlke und Mithu Sanyal – sowie vier mexikanische Autorinnen – Verónica Gerber Bicecci, Fernanda Melchor, Guadalupe Nettel und Isabel Zapata – eingeladen, sich in kurzen Essays mit den Bedingungen des Schreibens und dem Zweck von Literatur aus weiblicher Perspektive auseinanderzusetzen. Die Begegnungen, Lesungen und Gespräche fanden in einer virtuellen Hybridvilla mit Avataren statt und wurden am 19. November 2020 in einem öffentlichen Livestream präsentiert. 54books veröffentlicht diese Essays in den kommenden Wochen.

 

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Just a room of one’s own? – Schreiben hinter verschlossenen Türen

von Isabelle Lehn
(Ein Essay aus der Reihe Literatur von See zu See des LCB)

 

Warum siehst du so ernst aus, auf deinen Autorenfotos? Hat der Verlag dich so inszeniert? Die Frage eines Studenten beschäftigt mich. In Wirklichkeit wirkst du viel lässiger! Ich muss lachen, weil er mich für lässig hält. Nein, sage ich. Der Verlag hat damit nichts zu tun. Ich allein bin für meine Bilder verantwortlich.

Warum sehen mir meine Fotos nicht ähnlich? Wäre es nicht schöner, ein lässiger Anblick zu sein? Vielleicht, antworte ich, werde ich einfach nicht gern fotografiert. Ich gebe nicht gern ein Bild ab, das mit mir verwechselt wird. Und ich werde nicht gern mit meiner Arbeit verwechselt. Ich will nicht die Frau mit den Lippen sein, die man mit einem Reh verwechselt. Alles schon vorgekommen. Ein Bambi, das für Bambis schreibt. Ich könnte lässiger aussehen, ja. Aber niemand soll denken, dass ich zu lässig denke.

Übertreibe ich ein bisschen? Ein Bild von sich abgeben. Sich einem fremden Blick überlassen, in dem man sich nicht wiedererkennt. Lieber will ich nicht sichtbar sein. Ein Bild ohne Eigenschaften, undurchlässig und schweigsam, in abweisende Farben gekleidet. Ob mein letzter Roman, der vom Scheitern eines ernstzunehmenden Lebens handelt, von seiner Autorin erzählt? Ich will ein Bild, das keine Antworten liefert.

Als Kind stellte ich mir manchmal vor, dass man mich still beobachten könnte. Heimlich, mit versteckter Kamera. Man würde sehen, wie ich wirklich war, wenn ich mich unbeobachtet fühlte: klug und witzig, lässig und wunderbar. Was für ein tolles Kind!, würde man sagen, wenn man mich endlich erkannte. Ich war ein Kind fürs dunkle Zimmer. Für die Freiheit der Einsamkeit, die Unzudringlichkeit von Schallplatten, Büchern und Hörspielkassetten, die keine Notiz von mir nahmen. Ich beobachtete, was im Fernsehen geschah. Der Fernseher sah nie zurück, er beschwerte sich nicht, dass ich starrte. Ich war glücklich, wenn man mich in meinem Zimmer vergaß.

Das Bild, das ich draußen abgab, war allerdings völlig unbrauchbar. In Gesellschaft verwandelte ich mich in ein seltsames Kind. Ich wurde still und ernst, wütend und sprachlos, weil es mir nicht gelang, den room of my own zu verlassen. Ich war wütend auf die Welt, ihre erwartungsvollen Blicke, die laut nach mir greifenden Stimmen, die dieses Kind aus mir machten.

Dass ich meinen letzten Roman schrieb, ist vielleicht auch dem Wunsch dieses Kindes geschuldet. Ein Bild abgeben, das an Ehrlichkeit grenzt, ganz egal wie fiktiv oder real es ist. Wie lebt es sich im room of one’s own, wenn man sich unbeobachtet fühlt? Was spielt sich hinter verschlossenen Türen ab?

Solange mein Zimmer nur mir gehörte, hatte ich kein Geheimnis vor mir. Ich schrieb vor mich hin und machte mir weiß, den room of my own nicht verlassen zu müssen: Niemand wird lesen, was du hier schreibst! Schreib, was du willst! In deinem Zimmer bist du sicher und frei.

Natürlich ahnte ich, dass ich mein Versprechen nicht halten würde. Ich war dabei, mir Gäste in dieses Zimmer zu laden. Mir gefiel, was ich schrieb. Es war gut und witzig, lässig und wunderbar, und wer war ich, es der Welt vorzuenthalten? Die Autorin in mir würde zu eitel sein, diesen Text nicht zu publizieren. Ich wusste es längst. Was ich hier tat, war eine große Schamlosigkeit.

Virginia Woolf sprach von der Notwendigkeit für schreibende Frauen, einen room of one’s own zum Rückzug in die Stille zu haben. Aber sie sprach auch von der Notwendigkeit, diesen eigenen Raum wieder zu verlassen. In ihrem Vortrag Berufe für Frauen aus dem Jahr 1929 benannte sie die „zwei Proben der Schriftstellerin“: Die schreibende Frau müsse die Wahrheit über ihre Erfahrung als Körper schreiben. Und „den Engel im Hause töten“, der von ihr erwartet wird.

Beide Proben handeln von der Überwindung der Scham: Der Engel im Hause muss abgelegt werden, denn er würde sich niemals schamlos verhalten. Er wäre niemals so schamlos, schreibend das Wort zu ergreifen und zu glauben, dass er etwas zu sagen hat. Er würde niemals über sich selbst und den eigenen Körper schreiben. Er würde das Haus nicht verlassen, um seine Gedanken mit anderen zu teilen. Und er würde niemals Gäste hereinbitten, wenn er nicht aufgeräumt hat. Vor allem aber würde er eins nicht: wahrhaftig schreiben.

Konnte es sein, fragte ich mich, dass auch wir an diesen Proben noch scheiterten, knapp einhundert Jahre, nachdem Virginia Woolf sie aufgezeigt hatte? Konnte es sein, dass auch ich noch immer davor zurückschreckte, ohne Scham zu berichten, dass kein Engel in meinem room of one’s own hauste, sondern eine Frau mit Fehlern und Schwächen, deren Körper ihr manchmal zu schaffen machte? Das bin nicht ich!, wollte ich jedem Satz anheften. Das bin doch ich!, schrieb ich stattdessen, Ausrufezeichen. Was ein Mann kann, das konnte ich schon lange. Oder etwa nicht?

Also gab ich dieser Frau meinen Namen. Unter meinem Namen ließ ich sie durch das Chaos führen, das sie im room of her own kuratierte. Ich ließ sie die Fenster öffnen, den Gestank herauslassen, in dem sie vegetierte, und den Müll ausstellen, den sie über die Jahre gesammelt hatte: Ihre gärende Angst vor Versagen, die Sehnsüchte, die unter ihrem Bett verfault waren, den Schmutz der Gedanken und das klebrige Selbstmitleid, die unaufgeräumte Wut, die Reste der Jugend und das Übermaß an Körperlichkeit, den gekippten Stapel aus zu hoch aufgetürmten Erwartungen. Manches davon erkannte ich wieder.

Als der Roman 2019 unter dem Titel „Frühlingserwachen“ erschien, rief er Erstaunen hervor: Mit welcher „Direktheit, Frechheit, Unverschämtheit im Wortsinne – also ohne Scham“ eine weibliche Stimme hier von sich selbst erzählte. Da waren sie also, die Proben der Schriftstellerin, denn meine Bereitschaft, mich ihnen zu stellen, löste noch immer Verwunderung aus. Es sei die „Ausräumung aller Geheimnisse, die Lüftung auch der staubigsten Ecken einer menschlichen Existenz“, fasste eine Kritikerin ihren Eindruck zusammen. Sie schien noch unentschieden, ob das wirklich notwendig war: seinen Dreck mit aller Welt teilen zu müssen.

Ich weiß nicht, ob es notwendig war. Aber dann erhielt ich Emails wie diese: „Danke für das wunderbar tröstliche, komische und abgrundtief wahre ›Frühlingserwachen‹. Danke, Danke, Danke. Es tut gut zu wissen, dass offenbar auch andere solch eine Art Leben führen. Und sei es auch nur eine fiktive Personage. Mir doch egal. Es hilft.“

Der Engel im Hause ist einsam. Er erstickt an seiner Wut, seiner Scham, dem schlechten Geruch des Versagens. Es tut gut, manchmal die Fenster zu öffnen und den room of one’s own kräftig durchzulüften. Ist das schamlos, eitel oder eine Provokation, von der Vermessung einer Welt zu erzählen, die sich innerhalb meines Lebens befindet und nicht in der Vergangenheit liegt? Ist es schamlos, wenn ich daran glauben will, dass diese Welt, die nicht von bedeutsamen Männern bevölkert wird, sondern von einer banalen Frau, anderen zumutbar und (vielleicht noch vermessener) sogar literaturfähig ist?

Mir doch egal. Es hilft.

Da ist dieser Wunsch, alle Räume eines Lebens bewohnen zu dürfen. Ich will kein Zimmer mehr verschließen müssen und vor der Welt im Geheimen halten, alle Fenster öffnen, die Türen einschlagen. Ich will mit der Axt schreiben, den Engel im Hause entleiben. Die Schriftstellerin ist frei von seiner Einsamkeit und Sprachlosigkeit. Ihre Probe aber ist harte Splatter-Arbeit.

 

 

Isabelle Lehn (©Sascha Kokot)

In Zusammenarbeit mit dem Kultur- und Literaturzentrum Casa del Lago und dem Goethe-Institut in Mexiko-Stadt und ausgehend von Virginia Woolfs Essay »A room of one’s own« hat das LCB vier deutsche – Juliana Kálnay, Isabelle Lehn, Inger-Maria Mahlke und Mithu Sanyal – sowie vier mexikanische Autorinnen – Verónica Gerber Bicecci, Fernanda Melchor, Guadalupe Nettel und Isabel Zapata – eingeladen, sich in kurzen Essays mit den Bedingungen des Schreibens und dem Zweck von Literatur aus weiblicher Perspektive auseinanderzusetzen. Die Begegnungen, Lesungen und Gespräche fanden in einer virtuellen Hybridvilla mit Avataren statt und wurden am 19. November 2020 in einem öffentlichen Livestream präsentiert. 54books veröffentlicht diese Essays in den kommenden Wochen.

 

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Rattenfängerin

eine Erzählung von Sonja Lewandowski 

 

Den Maulwurf fand ich im Hof. Alle Viere von sich gestreckt, lag er auf dem Beton, kein Erdhügel in Sicht, aus dem er gestiegen sein konnte. Ich steckte ihn in die Brusttasche meiner Latzhose und ließ die noch feuchte Steckdosennase herausschauen, sie sahen ja alle nichts. Mit geschwollener Brust ging ich an diesem Morgen in die Schule. Dort bahrte ich ihn in einem Schuhkarton auf, aus dem ich die gestern gebastelte Vierzimmerwohnung riss, stellte mich neben die Toiletten auf dem Schulhof und nahm in den Pausen Eintritt für einen Blick.

Der schwarze Wurf lag auf dem Bauch, darunter ein Hügel aus Wundwatte, die hatte ich aus dem Spiegelschrank meiner Mutter genommen. Die weißen Fasern quollen unter seinem Körper hervor und verfingen sich in den nach außen gedrehten Grabschaufeln. Nahm man ihn heraus, hingen ihm Wattefäden an den erdigen Krallen. Der kräftige Horn war mir vertraut. Wenn ich meiner Mutter die Schuhe und Strümpfe von den Beinen zog, griffen ihre gebogenen Fußnägel noch einmal nach mir. Lange hatte ich die häutigen Schaufeln des Tieres gehalten und mit dem Zeigefinger über die hellen Innenflächen gestrichen, die meinen so ähnlich waren. Die furchige Haut eine Karte, mit der man den Weg durch die Tunnel fand. Über die Schnauze stellte ich ein Teelicht. Eine Schachtel Streichhölzer ließ ich unangetastet in meiner Brusttasche.

Die geschlossene Kiste an den Unterleib gedrückt, lehnte ich an der Kachelwand der Mädchentoilette und wartete, bis die andern fragten, was drin sei. Auf den Deckel hatte ich ein griechisches Kreuz gemalt. Teresa kam zu mir geschlendert und fragte, warum da ein Pluszeichen draufstehe. Ich sagte, dass sie lieber fragen solle, was drin sei. 20 Pfennig. Dann hob ich den Deckel, klemmte ihn mir unter das Kinn, schob das zu Boden gerutschte Teelicht wieder zur Nasenspitze, nahm das Geld und steckte es zu den Streichhölzern in die Brusttasche. Für 50 Pfennig konnte man den Wurf in die Hand nehmen. Dann bot ich ihn an wie einen zweiten Schuh, den man jetzt noch anprobieren müsse, um herauszufinden, ob es sich gut geht, dass man auch vorne nicht anstößt, dass man weit damit laufen kann.

„Eine Mark, wenn du ihn mit auf Klo nehmen willst.“

„Warum soll ich den blöden toten Maulwurf mit auf Klo nehmen?“

„Du kannst ihn dir unten reinstecken, das bringt Glück.“

„Der ist viel zu groß. Was für ein Glück denn überhaupt?“

„Mit der Schnauze kurz, das bringt Glück, hat meine Mutter gesagt. Dann wird man schön.“

Teresa rollte das schlaffe Knäuel von der rechten in die linke Hand, den Blick starr auf den bärtigen Unterbiss.

„Ist ja eh blind, kann gar nichts sehen bei dir da unten.“

„Der ist ja auch tot. Na gut, aber fünfzig Pfennig hab ich schon.“ Teresa drückte mir das zweite Geldstück in die Hand und ging in den Vorraum der Toilette.

„Und steck ihn nicht zu tief rein, das macht dich wieder hässlich.“, gab ich ihr noch mit auf den Weg. Über die niedrigen Spiegel des Vorraums sah ich, wie sich Teresas in den Hals fliehender Unterkiefer kurz öffnete.

 

+

 

Seit 2004 saß sie vor dem Fernseher und kreuzigte sich. Vom Flur aus sah ich wie ihre Schulterblätter schlugen, wenn die Akropolis durchs Wohnzimmer leuchtete. Nur stieg sie nie aus den Polstern auf. Sie stemmte die Handgelenke nah an ihr Becken, und raffte sich auf. Der Zug würde bald beginnen.Wir standen aufgereiht wie unsere Portraits auf der Kommode im Flur. Sie fiel aus dem Wohnzimmer und fuhr mit ihren faulen Händen kurz über die Köpfe meiner Brüder, drei staubige Rahmen, und zog mir die breite Krempe hart in den Nacken. Der Filzhut hing mir jetzt bis in die albtraumgekämmten Augenbrauen.

„Schön bayerisch.“, fand sie. Dabei nahm sie das e gleich noch mit. Bayern war für meine Mutter das gelobte Land und warum sie sich gleich nach Weihnachten hinsetzte und an unseren Kostümen nähte, anstatt meinen Vater zu verlassen, uns im Rhein zu ertränken und endlich wegzugehen, wir wussten es nicht. Wir wussten es nicht und darum zogen wir uns jedes Jahr still die von ihr genähten Verkleidungen über, liefen durch die Kölner Straßen, sammelten so viele Süßigkeiten wie wir tragen konnten und brachten die Kamellebeutel in ihre Nähstube.

In Bayern lag Otto, aus Bayern kam Otto. Meine Mutter sprach häufig von Otto, der irgendwann Deutschland verließ, um König von Griechenland zu werden. König Otto hat viel für uns getan. Dass er viel für uns getan habe, sagte sie, als wir den Eurovision Song Contest gewannen, fast, und das in Istanbul. Als das Olympische Feuer wieder in Athen ankam. Als wir die Europameisterschaft gewannen, und ich fürchtete, dass sie bald auch noch ein Foto von Otto Rehhagel auf die Kommode stellen würde. Ich würde dann weiter nach hinten rücken.

Ich nahm die Flöte aus dem Mund, um sprechen zu können. „Ich will keinen Hut, ich will die Perücke, die blonde. Die Blonden kriegen immer mehr.“ Sie nahm die Mantelschnur und zog mir einen Doppelknoten an den Hals. Den roten Radmantel hatte sie zwischen zwei zu kürzenden Hosen genäht. Sie hängte ihn mir um, als würde sie mich gleich an den Karneval verheiraten, und der wäre schließlich ein guter Fang. Dann steckte sie mir die geschwisterzernagte Blockflöte in den Mund. An der Flöte hing eine mit Paketschnur an das letzte Loch gebundene Maus aus Hartgummi.

Meine Brüder klemmten in ihren Mauskostümen fest, in denen sie den Hausflur heruntergezogen wurden. Ich zog die Flöte wieder aus dem Mund. „Das sind keine Mäuse, die ich fange.“, beschwerte ich mich über ihre Verkleidung. „Ich fange Ratten.“ Meine Mutter hielt an, schaute ihre drei Kostüme an, ließ den Blick kurz auf mich fallen. Dann trat sie aus dem Hausflur auf die grölende Straße.

„Aber das Märchen –“, begann ich noch, doch sie griff schon nach meiner Jacke und zog mir den Reißverschluss feste ins Kinn. „Dann ändern wir das Märchen eben.“

Die Flöte wieder zwischen den Zähnen schob sie mich vor ihre Füße, nahm meine drei Brüder wieder an die Hände und befahl uns loszulaufen und nicht loszulassen.

Wir drückten uns über den Chlodwigplatz, dann durch eine Seitenstraße, ich kannte den Weg. Eine graue Maus an der rechten, eine weiße und eine braune Maus an der linken Hand riss sie ihre Söhne durch eine Reihe Blauer Funken, dann eine Gruppe betrunkener Marienkäfer, die so fett waren, dass sie sofort sterben mussten, würden sie auf den Rücken fallen. Ich wünschte es mir. So stolperten ich und meine Brüder unter ihrer Achsel über den Kirchplatz. Die Trommelschläge im Nacken beeilten wir uns.

Wir stellten uns an den Streckenabschnitt auf dem Severinskirchplatz, hinter uns das bronzene Schokoladenmädchen mit ihrer geöffneten Pralinenschachtel und vielleicht würde sie bald einmal fort sein und durch die Welt laufen. Vor uns die Kameras. Da wo der WDR filmte, war die Ausbeute groß. Als wir ankamen, waren die Reihen schon geschlossen. Die Menge eine dicht geknüpfte Ellbogenkette, die sich die Stadt umgelegt hatte.

Sie riss mir den Reißverschluss wieder aus dem Kinn, nahm mir die Jacke ab, damit man meinen Radmantel gut sah und schob mich mit einem leeren Beutel in die vorderste Reihe. Meine Brüder stellte sie links und rechts von mir auf. Wir würden lange hier stehen. Ich fror und blickte mich nach ihr um, aber sie ließ sich von den bunten Uniformen wieder in den Hintergrund schieben. Sie war ja ganz unverkleidet, die falsche Märchenerzählerin, und die Männer zwischen uns meinten es ernst mit ihrem Karneval.

Amüsiert begann ein ununterscheidbares Lappenclownpaar hinter mir an meinem Kostüm zu ziehen. „Dürfen wir da mal naschen?“, lachte der Rechte. An meinem Radmantel hingen mindestens dreißig weiße Schaumzuckermäuse, die sie mit rotem Garn festgenäht hatte. Die beiden angetrunkenen Clowns begannen mir die Mäuse vom Körper zu zupfen, um sie mit Kölsch verdünnt runterzuschlucken.

Mit dem ersten Kreischen der Piccoloflöten und Xylophone ließen sie von mir ab, der rechte Lappenclown spannte einen regenbogenfarbenen Schirm auf, drehte ihn um und hielt ihn über unsere Köpfe. Ich schaute nach oben in den verkehrten Schirm und hörte bald den süßen Regen prasseln. Der Februar fuhr an mir vorbei und ich sah meinen Brüdern dabei zu, wie sie die billigsten Süßigkeiten  aus den Furchen der Pflastersteine kratzten. Manche Kaubonbons hatten schon ihr Papier verloren. Sie steckten trotzdem alles zuversichtlich in ihre Beutel und ich war ein bisschen gerührt. Fleißige kleine Gastarbeiterkinder.

Zitternd drehte ich mich um, suchte nach dem Mantel auf dem Arm meiner Mutter. Ich fand sie nicht in dem Kostümwald, der mit schunkelnden Kronen in den Kamellehimmel griff. Bis zum Hals stand ich in oberschenkelhohen Stiefeln und sammelte nun selbst plattgestampfte Kaubonbons aus den Schatten der Ellbogenäste, die im Takt der Trommeln um sich stießen. Die Xylophone klirrten, die Piccoloflöten schrien, dass ich meine Zähne fest aufeinanderpressen musste, als könnte ich so mein Trommelfell verschließen. Die zwei Lappenclowns schoben sich ein wenig nach rechts. Der Linke schlug unermüdlich seine pinken Plastikkastagnetten in die Hände und als ich mich wieder bückte, um nach einem Topfschwamm zu greifen, die dutzendfach über die Menge geflogen kamen, sah ich meine Jacke an der Bordsteinkante kleben. 

Der rechte Clown stampfte zum Paukenschlag auf ihr herum. Statt nach dem Schwamm griff ich nach seiner fetzigen Haut und riss die erste stoffene Schuppe von seinem Knie, dann eine weitere und noch eine. Ich riss und riss bis der mit schwitzendem Weiß umrahmte Mund zu fluchen begann und mich mit dem freigezupften Knie noch vorne stieß. Rücklings fiel ich in den mausenen Körper meines Bruders und er war wohl gleich tot als das erste Rad über ihn fuhr.

Feivel, der Mauswanderer.

Die Stiefel stoben auseinander, die Ellbogenkette riss, die beiden Lappenclowns waren verschwunden, ihr buntes Sammelinstrument lag noch da. Ich griff in die schirmgefangenen Kamellen und stopfte so viele ich konnte in meinen Beutel. Dann zog ich meine Jacke aus der Bordsteinkante und begann sie mit einem der geworfenen Topfschwämme von den Tritten zu befreien.

 

+

 

Ich träumte immer wieder von den beiden Lappenclowns, wie sie an mir hingen und mir die Schaummäuse vom Körper fraßen. Aber es war nicht ihre verlaufene Schminke, die mich aufwachen ließ, nicht das Schmatzen, wenn sie einen Bissen von meinem Kostüm rissen und zerkauten, nicht das enervierende Kastagnettengeklapper. Bei all dem starrte ich sie unentwegt an und versuchte zu erkennen, ob sie Männer oder Frauen waren. Aber ihre Kostümköpfe, ihre ganzkörperne, unförmige Verkleidung verriet sie nicht. Und so schüttelte ich sie, bis alle Lumpenquadrate von ihnen gefallen waren und das bunte Stofflaub mir weich um die Beine lag. Ich sank immer tiefer in die sumpfende Kleidung ein und sah noch, dass da, wo ihr Geschlecht sein sollte, ein Topfschwamm hing, ein nie benutzter gelber Topfschwamm. Dann ertrank ich und trat mich wach.

 

+

 

Bis zum Ende der zweiten Pause hatte ich neunzehn Mädchen die Schönheit geschenkt. Die Latzhose zog mir an den Schultern, schwer von den Taschengeldern, die die Mädchen mir hastig in die Hand drückten, bevor sie den Maulwurf aus seinem Wattebett hoben.

Von dem Gewicht meiner Tat nun selbst überzeugt, nahm ich gerade das Tier in die Hand, um den Brauch zu erfüllen, da stürmten zwei Jungen aus der Vierten auf mich zu, drückten mich zu Boden, dass ich in den kartonen Sarg fiel, rissen mir das Tier aus der Hand und hielten es sich abwechselnd vor die dünnen Becken. So standen sie über mich gebeugt. Ich presste meine Hände auf die Tasche meiner Latzhose. Ich fühlte meinen Atem durch die Pfennigstücke im Brustkorb gestaut. Ich starrte in die Becken der beiden und wartete bis die Freude der Jungen erschlaffte und sie das Säugetier mit einem Wurf gegen die Kacheln der Toilettenwand schleuderten. Dann griff ich nach der Schaufel, fühlte die winzige Tunnelkarte an meinen Fingern und zog das schwarze Knäuel zu mir. Mit der linken Hand griff ich nach der pfennigverbeulten Streichholzschachtel. Dann legte ich den Maulwurf zurück auf seinen Watteberg, die Wände des Kartons waren zur Seite weggebrochen. Mit zitternden Händen schob ich die Schublade auf, griff in die oberste Reihe und stieß den Zündkopf wieder und wieder gegen die schmale Reibefläche der Schachtel.

Ein roter Fleck klebte noch Wochen dort an den Kacheln und die Jungen rotzten ihre milchigsten Schleimklumpen auf den Boden davor. Die Mädchen aber gingen ehrfürchtig an dem Mahnmal vorbei, bevor sie sich über die niedrigen Becken beugten und so lange in die Spiegel schauten, bis ihnen die angelehnten Hüftknochen schmerzten und die dünne Haut dazwischen zu frieren begann.

 

 

Sonja Lewandowski lebt und arbeitet in Köln.

Fixpoetry – Ein Nachruf, den es nicht geben sollte

von Gerrit Wustmann

 

Das Literaturmagazin Fixpoetry.com gibt auf – zum Jahreswechsel wird die Redaktion eingestellt. Das ist eine traurige Nachricht für die Literaturszene. Und es wirft ein Schlaglicht auf das völlige Versagen einer Kulturpolitik, die nicht erkennt, welche Projekte unterstützenswert und wichtig sind. Ein Rückblick.

„Hamburg hat eine lebendige und vielfältige Kultur- und Literaturszene – und Hamburg hat Julietta Fix.“ Das schrieb ich 2016 als Einstieg für ein Portrait, das im Stadtmagazin Szene Hamburg erschienen ist. Zu lokal gedacht natürlich, aber das war offensichtlich dem Medium geschuldet. Korrekt wäre gewesen: Die Literaturszene hat Julietta Fix – die deutschsprachige und auch die darüber hinausreichenden Szenen. Ganz besonders aber die Lyrikszene hat Julietta Fix.

„Als ich Fixpoetry 2007 gründete, geschah das aus rein persönlichen Gründen. Ich hatte begonnen zu schreiben, einen Roman veröffentlicht und erste zaghafte Schritte in Gedichten geübt. Mir schien rein intuitiv das Netz die beste Möglichkeit, Lyrik einem breiterem Lesepublikum bekannt zu machen“, erzählt sie über die Anfangszeit. „Über die Jahre habe ich mich intensiv mit Literatur, dem literarischen Leben, der Literaturszene und der Vermarktung von Büchern beschäftigt. Heute geht es längst nicht mehr um mich und nicht mehr ‘nur’ um Lyrik. Ich habe gelernt, Autorinnen und Autoren erzählen zu lassen, Kontexte herzustellen und versuche mit Fixpoetry die Komplexität der Literaturszene auf einen Punkt zu bringen.“ 

Und das ist ihr in den vergangenen dreizehn Jahren auf zahlreichen Ebenen ziemlich gut gelungen. Was als kleines Lyrikportal im Netz begann ist heute, kann man sagen, für die Literatur unverzichtbar geworden. Hunderte Dichter*innen und Künstler*innen stellt das Portal vor, präsentiert ihre Arbeit, in einem Newsbereich werden Events, Lesungen, Publikationen angekündigt, im Feuilleton sind tausende Rezensionen, Essays, Interviews zusammengekommen und das „Gedicht des Tages“ ist sicher für viele der regelmäßigen Leser*innen so elementar geworden wie der morgendliche Kaffee. 

2019 wurde auf Juliettas Initiative hin erstmals der mit 10.000 Euro dotierte Gertrud Kolmar-Preis verliehen, ein Preis für herausragende Autorinnen. Ausgezeichnet wurde Ulrike Draesner, den zweiten Platz (4000 Euro) belegte Pega Mund, den Förderpreis (2500 Euro) erhielt Ronya Othmann.

Fixpoetry ist zu einer festen Anlaufstelle im Netz geworden für alle, die sich für die Gegenwartslyrik interessieren, die auf der Suche nach Lesestoff und kritischem Diskurs sind. Auch für mich selbst war Fixpoetry in all diesen Jahren eine Konstante. Rund 250 Beiträge habe ich dort publiziert, im (leider kurzlebigen) Fixpoetry Verlag erschien 2011 mein Buch Beyoğlu Blues, das der Auftakt für eine Istanbul-Trilogie wurde, vom ersten Band an zweisprachig, inzwischen auch in der Türkei erschienen. Es erschien Brigitte Struzyks Roman Drachen über der Leninallee, und Nähekurs von Judith Sombray und Herbert Hindringer ist einer jener Lieblingslyrikbände, die ich immer wieder zur Hand nehme – und das ist nur ein winziger Ausschnitt.

Ich erinnere mich an die Tage mit Julietta und Korinna Feierabend, mit Brigitte Struzyk, Oya Erdoğan, Peter Wawerzinek und vielen weiteren auf der Leipziger Buchmesse im März 2012, an Lesungen dort, in Berlin, in Köln. Julietta hat sich mächtig reingehängt damals, hat aus dem Nichts etwas auf die Beine gestellt. So schön das war, so frustrierend war es auch, zu erleben, wie schwierig es ist, gute Literatur an ein Publikum zu vermitteln, das über den engeren Kreis der Szene hinausgeht. Die Lesungen waren oft nicht gut besucht, bis zu einer Etablierung wäre es ein langer – und teurer – Weg gewesen, weswegen der Verlag nur kurz existierte. Ein Weg, den Julietta weitgehend aus eigener Tasche finanziert hat, und das über Jahre hinweg. Hosting, Webdesign, Autor*innenhonorare, Marketing, all das kostet Geld. Eine Menge Geld. Und Zeit. Und Nerven.

Aber wenn es am Ende funktioniert, wenn auch etwas zurückkommt, dann macht man es gern. Und das ist der Eindruck, den ich stets hatte – Julietta hätte nicht all die Zeit und Energie investiert, wenn sie es nicht gerne getan hätte. Das Projekt war ihr wichtig und, so vermute ich, es wird ihr immer wichtig sein. Aber mir ist auch in den letzten Jahren während unserer gelegentlichen Brunch-Gespräche in Hamburg eine gewisse Ermüdung nicht entgangen. Eine Ermüdung, die ich gut nachvollziehen konnte. Und die kam nicht aus dem Projekt selbst, sondern aus den Umständen. Dass eine Person allein solch ein doch ziemlich groß gewordenes Schiff auf Dauer nicht Steuern kann, dürfte sich von selbst verstehen. Die Klickzahlen waren gut, ebenso der Zuspruch des Publikums, und bisweilen haben freie Autor*innen, soweit ich weiß, gerne auch ohne Honorar gearbeitet, um Fixpoetry zu unterstützen.

„2017 wird die Webseite zehn Jahre und ich sechzig Jahre alt“, sagte Julietta bei unserem Interview 2016. „Wenn ich einen Blick in die Zukunft wagen darf, dann vielleicht mit den Wünschen, Fixpoetry auf finanziell stabilere Füße zu stellen, mit all den Autorinnen und Künstlerinnen kontinuierlich weiter zu arbeiten und neue Ideen zu entwickeln, die Literatur an die Leserinnen und Leser zu bringen.“

Aber das mit den finanziell stabilen Füßen hat letztlich nicht funktioniert. Gelegentliche Anzeigenschaltungen durch Verlage blieben ein Tropfen auf den heißen Stein. Zwar fanden sich täglich im Schnitt über 1500 Leser*innen, aber nur eine kleine Minderheit war auch bereit, via Steady ein paar Euro zu bezahlen. Das ist ein Grundproblem von Journalismus und Kultur im Netz: Zu lange wurde eine Kostenloskultur gepflegt; während man für Printpublikationen ganz selbstverständlich Geld bezahlt, erwartet man, dass im Netz alles nichts kostet und entzieht den Redaktionen und Verlagen dann auch noch die dringend benötigten Werbeeinnahmen, indem man mit Adblocker surft. Das kann auf Dauer nicht gutgehen.

Und dann gibt es da noch die Kulturämter und Kulturbehörden der Stadt Hamburg, der Länder, des Bundes, die Stiftungen, die große Töpfe mit Stipendien und Fördermitteln zu vergeben haben. Über Jahre hat Julietta Anträge gestellt. Und während der Gertrud Kolmar-Preis zwar mit öffentlichen Mitteln unterstützt wurde, bekam das Projekt Fixpoetry meines Wissens nie eine nennenswerte Förderung.

„Es ist eine Riesenkrux, dass die Kultur-/Literaturförderung – und ich meine hier besonders den Bund – immer wieder auf das scheinbar ganz Neue setzt, auf frische Ideen oder solche, die nur so aussehen. Auf der Strecke bleiben strukturelle Förderungen. fixpoetry ist ein wichtiges strukturelles Element der Lyrikszene gewesen. Herausragend wichtig war und ist eine Ergänzung des Feuilletons in Sachen Lyrik. Ein trauriger Novembertag, ein großer Verlust!“ schrieb Monika Littau, Vorsitzende der Gesellschaft für Literatur NRW, in einer ersten Reaktion auf Facebook, und sehr ähnlich äußerten sich viele Kolleg*innen in den letzten Tagen, seit Julietta Fix am Montag das Aus für Fixpoetry zum Jahresende verkündete.

Dass Fixpoetry nun die Pforten schließt, macht mich traurig und betroffen. Es wird eine Leerstelle entstehen, die sich so bald nicht füllen lassen wird. In der Vernetzung von Autor*innen und Publikum, in der Literaturvermittlung, ganz besonders in Bezug auf die Lyrik, gibt es aktuell nichts Vergleichbares. Es ist ein herber Verlust – und dass es ein Verlust aus den völlig falschen Gründen, nämlich ganz zentral der fehlenden Finanzierung, ist, ist unentschuldbar und eine kulturpolitische Bankrotterklärung.

 

Sokratische Monologe – Über ein philosophisches Interview

von Philip Schwarz

 

Das von der Pandemie verstärkte Bedürfnis nach öffentlich vollzogener, vorgestellter und diskutierter Wissenschaft beschränkt sich nicht allein auf die medizinische Forschung zum Coronavirus. Viele erleben zum ersten Mal eine Situation, in der sie genötigt sind, ihre eigenen Bedürfnisse und Gewohnheiten in der Weise hintanzustellen und auf andere Rücksicht zu nehmen. Nicht von ungefähr wurde der Mund-Nasen-Schutz zum Symbol, dem die verschiedene Seiten jeweilige politische Bedeutung verliehen. Für die einen wird er zum Zeichen der staatlichen Unterdrückung erklärt und in geschichtsvergessener Geschmacklosigkeit mit dem gelben Stern verglichen, den Jüd:innen im Dritten Reich tragen mussten. Für die anderen ist er das sichtbare Bekenntnis zum Zusammen- und Durchhalten. Aus dem Podcast mit Christian Drosten wissen wir, dass der MNS primär die anderen davor schützt, von der Träger:in angesteckt zu werden. Einen MNS zu tragen ist also in diesem Sinne ein Akt der Selbstlosigkeit und Solidarität. Dieser hat aber nur seinen Sinn, wenn ich mich darauf verlassen kann, dass die anderen sich ebenfalls solidarisch verhalten. An der einfachen Frage “MNS tragen oder nicht” zeigt sich, wie die Pandemie uns zwingt, unser Zusammenleben sehr grundsätzlich zu überdenken.

Für Zusammenleben und Grundsätzliches sieht sich seit jeher die Philosophie zuständig, und auch dieses Mal fanden sich schnell Philosoph:innen, die bereit waren, sich über die existentiellen und moralischen (eben grundsätzlichen) Implikationen der Pandemie zu äußern. Slavoj Žižek legte bereits im Mai ein Buch mit dem Titel “Pandemic! Covid-19 shakes the world” vor. In der Juni-Ausgabe der Information Philosophie schrieb die Erfurter Philosophiehistorikerin Bärbel Frischmann über das Virus und den Angstbegriff bei Kierkegaard. Der Bonner Philosoph Markus Gabriel gab am 13. April 2020 (also etwa 5 Wochen bevor Žižeks Buch erschien) dem Sender Russia Today Deutsch ein Interview, in dem er sich unter anderem über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie äußerte. 

Zum Zeitpunkt des Interviews hatte Gabriel sich bereits als öffentlicher Philosoph in Stellung gebracht. Sein Buch “Warum es die Welt nicht gibt” war vor einigen Jahren ein Bestseller. Darin erklärt er seine Position, den sogenannten Neuen Realismus und seine Ontologie der “Sinnfelder”. 2015 folgte “Ich ist nicht Gehirn”, in dem er erklärte, eine “Philosophie des Geistes für das 21. Jh.” (so der Untertitel)  entwickeln zu wollen. Sein neuestes Werk “Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten” will einen “starken Moralischen Realismus” verteidigen, folgt also der These, dass moralische Urteile wahr oder falsch sein können und die Bedingungen ihres Wahr- oder Falschseins unabhängig davon sind, was die Menschen für wahr oder falsch halten. Sein Gegner ist dabei der “postmoderne Unsinn”, demzufolge moralische Überzeugungen Produkte historisch gewachsener Kulturen und Machtstrukturen sind, die nicht sinnvoll kritisiert, sondern nur hingenommen werden können.

Da dieser “postmoderne Unsinn” gegenwärtig ein bevorzugtes Schreckgespenst des rechtsliberalen Feuilletons darstellt, überrascht es vielleicht nicht allzu sehr, dass Gabriel der NZZ mehrere Interviews zum Thema gab. Eines dieser Gespräche zeigt einen repräsentativen intellektuellen parforce-Ritt durch alles, was Gabriel und sein Interviewpartner René Scheu für schlecht halten, sowie Lösungen für die angesprochenen Probleme. Cancel Culture, Rassismus, Donald Trump, die Zukunft der Demokratie, Analsex – der Philosoph hat auf alles eine Antwort.

Es ist ein wiederkehrender Witz in der Philosophie, dass Sokrates es in seinen Dialogen häufig mit Gesprächspartnern zu tun hat, die ihm zwar zu Anfang widersprechen, später aber stumm an seinen Lippen hängen oder kritiklos seinen rhetorischen Fragen zustimmen und ihm Stichwörter liefern. Während dies für die Sokratischen Dialoge nur stellenweise zutrifft, liest sich das Interview mit Gabriel wie eine Parodie eines solchen Dialogs, die diesen Aspekt überbetont. Das Gespräch beginnt damit, dass Scheu eine These formuliert, die von Gabriel zurückgewiesen wird, um dann im weiteren Gesprächsverlauf Gabriel zuzustimmen, dessen Ausführungen aufzugreifen und Stichworte zu geben. Die These, mit der das Gespräch beginnt ist ein “Leitsatz” aus einer “journalistischen Initiative” der NZZ und lautet “Keine Wahrheit ist unangreifbar.” Gabriel weist den Satz entschieden zurück. Scheu hakt nach, es sei doch Common Sense, dass es keine “alleinseligmachende Wahrheit” in der Demokratie gebe. Gabriel erwidert, das sei eine Verwechslung von Meinung und Wahrheit, und Konsens sei kein Kriterium für Wahrheit. 

Damit ist das Thema für das ganze Gespräch gesetzt. In verschiedenen Zusammenhängen wird der Gegensatz von Realismus und objektiver Wahrheit gegen Postmoderne und Relativismus durchexerziert, wobei die wiederholte Feststellung lautet, dass nur die Akzeptanz einer objektiven Wahrheit die Demokratie retten könne. Die “Postmodernen Linken” hätten den Geist des Relativismus aus der Flasche gelassen und sähen sich jetzt mit der Erosion der Demokratie konfrontiert. Phänomene dieser Erosion sieht Gabriel in Donald Trump, aber auch in der sogenannten Cancel Culture. Nur auf Machtzuwachs bedacht betreibe sie online-Mobbing in Form von umgekehrtem Rassismus und bedrohe weiße, heterosexuelle Männer mit dem “sozialen Tod”. Scheu springt ihm ganz in “Du sagst es, o Sokrates”-Manier bei und sieht in der sogenannten Cancel Culture “angewandte poststrukturalistische Theorie”, deren “pseudomoralische Hierarchie“ Autorität anhand von “Opferpunkte[n]” verteile.

Später geht es um die Gefährlichkeit des Coronavirus und die bestmöglichen wirtschaftlichen Maßnahmen, die der Staat treffen könne. Gabriel verweist hier auf die Ungewissheit der Zukunft, aus der sich die Bedeutung der deliberativen Demokratie ergebe, die den Raum zur Konsensfindung biete. Er kontrastiert dieses Bild mit den Wissenschaften, die als “Orakel” wahrgenommen würden, dabei aber die Zukunft gar nicht vorhersagen könnten, weil die Zukunft ja auch auf Grund dieser Vorhersagen gestaltet werde. Durch eine inhaltlich schwer nachvollziehbare, aber rhetorisch meisterlich ausgeführte Überleitung (“Pharma-Konzerne” und “Fama-Konzerne”) geht es im Folgenden um die Sozialen Medien, die Gabriel als Brutstätte des Relativismus ausmacht. Da wir im Internet mit zu vielen widersprüchlichen Meinungen konfrontiert seien, würden wir aufgeben, nur noch glauben, was unser Weltbild bestätigt, und den anderen ihre Meinung zugestehen. Da könne man nichts machen, confirmation bias sei nun einmal Evolutionsbiologie. Die Lösung könne daher nicht “technisch” sondern müsse “menschlich” sein – Bildung.

Von da aus holt Gabriel zum Schlag gegen die Wissenschaftler:innen aus, die wahlweise ebenfalls postmoderne Relativist:innen seien oder “Neurozentrist:innen”, also die These verträten, dass unser Handeln vollständig durch die Hirnstrukturen vorgegeben sei. Für beide gebe es keine objektive Moral – für die Relativist:innen nicht, weil es ja nur um Machtstrukturen gehe, für die Neurozentrist:innen nicht, weil die Menschen ja nur als Maschinen sähen. Solchen Figuren stellt Gabriel den “Schweizer Uhrmacher” gegenüber, der ohne jede philosophische Reflexion klar wisse, dass es Realität und Wahrheit und objektive moralische Grundsätze gebe.

Es folgen einige allgemeine Ausführungen darüber, was Moralphilosophie ist, warum moralische Wahrheiten kulturunabhängig sind, und dass wir als Menschen in gewissem Sinne nicht darauf verzichten können, moralisch zu sein. Das Gespräch endet damit, dass Gabriel Gelegenheit erhält, seine Einschätzung zu einer Reihe von moralischen Tatbeständen abzugeben. Scheu liefert ihm dazu Stichwörter (“Demokratie” – “Monarchie” – “Legalisierung weicher Drogen”) und Gabriel ordnet sie moralisch ein (“gut” – “böse” – “neutral”). Gelegentlich wird nachgehakt, und er begründet seine Antwort. Das Gespräch endet damit, dass es “Natürlich gut” sei, ein Buch von Markus Gabriel zu lesen.

Es gibt eine Reihe von Aspekten, die dieses Interview zu einem schlechten Beispiel für öffentliche Philosophie machen. Da wäre zunächst der Duktus der Selbstbestätigung durch das Abarbeiten an den immer gleichen Themen mit den immer gleichen Ergebnissen – Erschöpfungsfeuilleton par excellence. Ein Philosoph spricht in einer Zeitung darüber, was moralisch richtig und falsch ist, und über die Gefahren, die darin liegen, diese Unterscheidung nicht zu machen. Das Ergebnis ist, dass all das, was die Zeitung im Wochenrhythmus verkündet, ohnehin richtig ist. Dieser Selbstbestätigungs-Loop geht dabei so weit, dass Gabriel eine ganze Reihe culture wars-Klischees bedient. Die Universitäten erscheinen als Hochburgen der postmodernen Theorie, Wissenschaftler:innen haben die Objektivität aufgegeben. Der “postmodernen Linken” geht es letztlich nur um Macht, und Kritik an Rassismus ist irgendwie auch Rassismus.

Auch kommt man nicht umhin sich zu fragen, wie Gabriels Besorgnis um die Demokratie angesichts der Erosion des Glaubens an eine objektive Wahrheit mit seinem Auftritt bei Russia Today Deutsch zu vereinbaren ist. Dies mag wie eine sachfremde Ad-Hominem-Anschuldigung wirken, aber so einfach ist es nicht. Wer Wahrheit und Demokratie gegen Propaganda und Relativismus verteidigen will, sollte sich zumindest gut überlegen, ob er in einem Sender auftreten will, der als Sprachrohr einer Regierung gilt.

Von diesen diskursdynamischen Aspekten abgesehen, lassen Gabriels Ausführungen auch an philosophischer Substanz vermissen. Das macht sich bereits am Anfang bemerkbar, als er den Slogan “Keine Wahrheit ist unangreifbar” zurückweist, den Unterschied zwischen Meinung und Wahrheit betont und die Meinungsfreiheit in der Demokratie anspricht. Die Erkenntnistheorie als philosophische Disziplin beschäftigt sich mit dem Unterschied zwischen Meinung und Wissen. Wenn beide nicht dasselbe sind, was unterscheidet sie voneinander? Warum sind sie so leicht zu verwechseln? Woran erkennen wir, ob wir wissen oder nur meinen? Gabriels Beispiel gegen die Konsenstheorie der Wahrheit ist, dass eine Gruppe Physikstudent:innen nicht einfach die Schrödinger-Gleichung umschreiben könne. Aber warum nicht? Wenn ein paar Dutzend habilitierter Physiker:innen am Ende eines Kongresses verkünden, die Schrödinger-Gleichung müsse umgeschrieben werden, wäre das etwas anderes? Was würde diese Fälle voneinander unterscheiden? An keiner Stelle wird darauf eingegangen, welche Argumente die Vertreter:innen der Positionen vorbringen, die Gabriel kritisiert – nicht einmal, um sie zu widerlegen.

Diese Nachlässigkeit zieht sich durch das gesamte Gespräch. Gabriel ist sehr überzeugt davon, dass die Aussagen der “postmodernen Linken” falsch sind.  Eine echte Auseinandersetzung mit den Critical Studies und ihren begrifflichen Voraussetzungen findet dabei nicht statt. Über eine klischeehafte Darstellung hinaus macht er keine Angaben darüber, was diese Aussagen sind, wie sie begründet werden, und warum diese Gründe keine guten Gründe sind. Damit verletzt er das Prinzip der wohlwollenden Interpretation. Wer die Thesen und Argumente einer Position kritisieren will, muss sie erst einmal als Aussagen sehen, die Anspruch auf inhaltlichen Sinn, logische Stringenz und Richtigkeit erheben. Warum kann es entgegen der These der Critical Race Studies sehr wohl Rassismus gegen Weiße geben? Welchen Fehler machen jene, die das behaupten? Was heißt es zu sagen, dass Wahrheit ein Produkt von Machtverhältnissen sei? Unter welchen Bedingungen könnte man das sinnvoll sagen? 

Wenn sich herausstellt, dass diese Bedingungen nicht erfüllt sein können, wäre Gabriels Kritik berechtigt. Aber auf diese Ebene der Analyse dringt das Gespräch an keiner Stelle vor. Die Ungewissheit der Zukunft soll die Bedeutung des demokratischen Diskurses begründen, der das Ergebnis offen lässt. Aber wenn die Zukunft nicht vorhersehbar ist, woran soll sich dieser Diskurs dann orientieren? Gabriel sagt zu Beginn des Gesprächs selbst, dass der Erfolg einer Meinung in der Demokratie kein Anhaltspunkt für ihre Wahrheit ist. Aber wie ist dann garantiert, dass der demokratische Prozess die objektiv richtige Meinung darüber, wie die Zukunft sein wird, bevorzugt? Dasselbe sehen wir bei seiner Kritik des “Neurozentrismus”. Natürlich könnte eine Person mit einem neurozentrischen Menschenbild zu dem Schluss kommen, es sei moralisch unproblematisch, einer anderen Person Hormone unterzujubeln, um sie “rumzukriegen”.

Diese Folgerung wird aber von einem Neurodeterminismus nicht zwingend nahegelegt. Es ist ebenso möglich zu sagen, wenn die andere Person keine Lust habe, sei es falsch, hier in den biologischen Ablauf einzugreifen. Welche Konsequenz man hier zieht, ist von einer ganzen Reihe Zusatzannahmen abhängig, die anzusprechen und zu analysieren Gabriel nicht für nötig hält. Auch ist nicht klar, wie die Ablehnung eines im Gehirn verorteten Determinismus mit der These vereinbar ist, wir seien evolutionär auf eine bestimmte Verhaltensweise im Internet festgelegt. Ist dies nicht genau der biologistische Determinismus, den Gabriel kurz zuvor noch entschieden zurückgewiesen hat? Und wie verhält sich die biologische Bestimmtheit unserer fehlenden Medienkompetenz zu der Forderung nach Bildung, die genau hier abhelfen soll? Diese Thesen sind nicht grundsätzlich unvereinbar, aber für ihre Vereinbarkeit müsste auch wieder argumentiert werden, und das geschieht einfach nicht.

Es ist ein Klischee, dass die philosophische Arbeit darin besteht, vorgefasste Meinungen zu hinterfragen und zu revidieren, wenn sie sich als unzureichend begründet herausstellen, aber es ist ein zutreffendes Klischee. Die Sokratischen Dialoge geben ein Beispiel dafür. Sokrates ist immer bereit, die in seinem gesellschaftlichen Umfeld etablierten sozialen Selbstverständlichkeiten ins Wanken zu bringen (so kritisiert er im Eutyphro etwa die Idee einer religiös fundierten Moral, und in der Politeia argumentiert er für die natürliche Gleichheit von Frauen und Männern). Wenn seine Gesprächspartner irgendwann verstummen, dann weil er sie überzeugt hat. Gabriel lässt die Bereitschaft vermissen, den Boden des für die Gesprächspartner Selbstverständlichen zu verlassen. In diesem Gespräch findet keine Philosophie im relevanten Sinne des Wortes statt. Dies wird noch einmal am Ende deutlich, als Gabriel im Schnelldurchlauf seine moralische Einschätzung abgeben kann. Die Ironie, dass Gabriel kurz zuvor noch ein falsches Verständnis der Wissenschaften als “Orakel” beklagt hat und nun seinerseits als moralisches Orakel auftreten darf, scheint keinem der beiden Gesprächspartner bewusst zu sein.

Es ist nicht Aufgabe der Moralphilosophie eine Liste zu erstellen, was richtig und was falsch ist. Die Philosophie verkündet keine Wahrheiten, sie stellt ein logisch-begriffliches Instrumentarium zur Verfügung, mit dessen Hilfe wir überprüfen können, warum wir für wahr halten, was wir für wahr halten, und ob wir darin gerechtfertigt sind. Natürlich ist ein Zeitungsinterview kein Vortrag auf einer Tagung oder ein Aufsatz in einem Magazin mit peer review. Aber: Auch für öffentliche Philosophie gelten die Maßstäbe des Philosophierens. Es ist bedauerlich, dass hier eine Gelegenheit verpasst wird, ein Beispiel für öffentliche Philosophie in unsicheren Zeiten zu geben. Die Philosophie hat zur Coronakrise viel zu sagen (sie hat immer viel zu sagen). Es wäre wünschenswert, wenn sie die Ansprüche an sich selbst erfüllen würde.

 

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Wenn das Lachen vergeht – Abbas Khider schreibt den modernen Irak

von Maryam Aras

 

In der britischen TV-Serie Baghdad Central kämpft der ehemalige Polizei-Kommissar Muhsin al Khafaji (gespielt von Waleed Zuaiter) sich mit seinen Töchtern durch die Hölle der von US-Amerikanern und Briten besetzten irakischen Metropole. Weil er unter Saddam Hussein gedient hatte, ist er im post-baathistischen Irak in Ungnade gefallen. Nun wirbt ihn ein britischer Regierungsbeamter an, der – aus politisch aufrichtigen Motiven scheint es – eine irakisch geführte Polizei wiederaufbauen will. Doch Khafaji verfolgt seine eigene Agenda: Seine ältere Tochter Sausan (Leem Lubany) ist verschwunden und die jüngere Mrouj (July Namir) ist schwer krank und kommt ohne Hilfe von außen nicht an die lebensnotwendige Dialyse-Behandlung. Kommissar Khafaji macht sich jeden Tag aus seinem halbzerstörten Viertel, in dem mittlerweile die Jungen der Nachbarschaft bewaffnet mit ein paar Maschinengewehren und islamistischen Sprüchen das Sagen haben, auf in die „Green Zone“, in das Hochsicherheitsgebiet der Besatzer. Doch auch die scheinen verstrickt in Sausans Verschwinden. Sobald beide Töchter zurück und gesund sind, will Khafaji nur eins – raus aus Irak.

Die bisher sechsteilige Serie, produziert für Channel Four, ist sehr gut gemachte Krimi-Noir Unterhaltung, die sich nicht scheut, das neokoloniale Gebaren der westlichen Alliierten vom einfachen Soldaten bis zum Entscheidungsträger in Anzug und Krawatte darzustellen. Das „dual-language Drama“ wird dabei von einem überzeugenden trans-arabischen Cast getragen, dessen Darsteller*innen sicher dankbar waren, in einer englischsprachigen Produktion einmal nicht eine*n Terrorist*in, dessen Schwester oder Geliebte*n spielen zu müssen. Ein arabischsprachiges Publikum wird während der untertitelten Dialoge die unterschiedlichen Akzente der amerikanisch-kuwaitischen, britisch-ägyptischen, -irakischen oder palästinensisch-israelischen Schauspieler*innen erkennen.

Neben viel Lob für die Repräsentation arabischer Darsteller*innen on-screen gab es aber auch kritische Stimmen, die bemängelten, die Gelegenheit, irakische Stimmen ihre eigenen Geschichten erzählen zu lassen, sei vertan worden. Unbegründet sind diese Vorwürfe nicht. Als Script-Vorlage diente dem englischen Drehbuchautor Stephen Butchard der gleichnamige Roman des amerikanischen Arabisten und Literaturwissenschaftlers Elliott Colla. Auch hinter der Kamera war kein*e Iraker*in Teil des engeren Produktionsteams (lediglich eine der Associate Producerinnen, Arij al-Soltan, ist Britin irakischer Herkunft). Diese Diskussionen zu führen ist wichtig, gerade weil diese Produktion trotz der abermals weißen Agency des Autor*innenteams (wer darf erzählen?) allem, was das deutsche Fernsehen je an Vergleichbarem hervorgebracht hat (eine Handvoll Filme um den deutschen Bundeswehreinsatz in Afghanistan herumerzählt: Auslandseinsatz (2012), Willkommen im Krieg (2012) und Zwischen Welten (2013)) um viele Längen voraus ist.

Auch in der deutschen Gegenwartsliteratur fällt eine Bestandsaufnahme irakischer Stimmen zahlenmäßig bescheiden aus – Karosh Taha erzählt vielbeachtet aus post-kurdischer Perspektive. Der in Köln lebende Bakhtyar Ali schreibt auf Sorani und lebte lange eine literarisches Nischenexistenz – das Schicksal der meisten übersetzten Autor*innen bei deutschsprachigen Verlagen. Seit seinem Roman von 2017, Der letzte Granatapfel, gilt er auch hier als die wichtigste Stimme der zeitgenössischen irakisch-kurdischen Literatur. Sherko Fatah, der ebenfalls aus post-irakisch-kurdischer Sicht schreibt, seine Romane jedoch auch in Kurdistan spielen lässt, erfuhr mit seinem letzten Roman leider keinen großen öffentlichen Widerhall. Und dann ist da noch Abbas Khider. Mit ihm hat die deutschsprachige Literaturszene einen Autor, der Geschichten über seinen Irak erzählt, und damit auf dem deutschen Buchmarkt erfolgreich ist (seine Romane Ohrfeige, 2016, und Der falsche Inder, 2008, müssen in diesem Text außen vor bleiben).

In vielen seiner Interviews wiederholt Khider die Rolle, die die deutsche Sprache für ihn als irakischer Exilautor spielt: Sie verschaffe ihm die nötige Distanz, um über den erlebten Schrecken unter Saddam Husseins Regime schreiben zu können. Dabei hilft ihm oft sein Humor. Den Verbrechern ihre Lächerlichkeit zu schenken, mache vieles erträglicher, sagt er.

Mesopotamische Geschichten

Khiders Humor ist so einer seiner markantesten Erzählelemente in den Romanen Orangen für den Präsidenten (2011) und Brief aus der Auberginenrepublik (2013). Diesen beiden Werken lassen sich als „mesopotamische Geschichten“ zusammenfassen, wie es am Ende von Brief aus der Auberginenrepublik auf dem letzten Schnipsel des namensgebenden Briefes kurz vor dessen Verbrennen heißt: „Die Glaubwürdigkeit unserer Geschichte besteht vermutlich darin, dass sie weder glaubwürdig noch unglaubwürdig ist. Sie ist eben nur eine mesopotamische Geschichte…“

In Orangen für den Präsidenten erzählt Khider die Geschichte des jungen Taubenzüchters Mahdi, der, 1989 am Tag seiner Abiturprüfungen ins Gefängnis geworfen, abwechselnd von seinem Leben in Babylon und Nasiriya, und seinem späteren Alltag im Gefängnis berichtet. Auf drei Seiten, die der Haupterzählung vorangestellt sind, erzählt das lyrische Ich von seinem „Trauerlachen“ – einer scheinbar ungesteuerten jedoch sehr effektiven Abwehrstrategie gegen die ihn folternden Gefängniswärter. Der prologartige Abschnitt beschließt die erzählerische Schleife des Romans, den Khider in einem Flüchtlingslager in Kuwait enden lässt. Neben dem Lachen als eigenem Motiv kreiert Khider immer wieder abgründig-witzige Situationen – wie die der titelgebenden Episode, in der die Gefängnisinsassen an Saddam Husseins Geburtstag auf eine Amnestie hoffen und sich das sehnsüchtig erwartete „Geschenk“ als eine Kiste voller Orangen entpuppt.

Khiders Sprache ist in beiden Romanen geprägt von humoristischen, manchmal flapsigen Elementen. Diese durchbrechen einen sonst eher romantisch-narrativen Stil, der sich in seiner Misch-Art zwar angenehm liest, aber nicht unbedingt bleibenden Eindruck hinterlässt. Interessanterweise deutet sich Abbas Khiders stilistische Entwicklung bereits in dem eindrücklichsten Kapitel des darauffolgenden Brief in die Auberginenrepublik an. Der geschickt konzipierte Episodenroman wird durch die Irrfahrt eines Briefes, den der politische Flüchtling Salim aus Bengasi in Libyen an seine Geliebte Samia in Bagdad schreibt, zusammengehalten. Im vierten Kapitel erzählt der Lastwagenfahrer Latif Mohamed, der den Brief ein Stück des Weges transportieren wird, wie er zu seinem Rufnamen Abu Samira kam. Die etwas ungewöhnliche Konstruktion „Vater von Samira“ bürgerte sich ein nachdem der geliebte Sohn Nori halbtot und verbrannt aus dem Iran-Irak-Krieg zurückkehrte und er die Ansprache als Abu Nori nach dessen Tod nicht mehr ertrug. Es veränderte sich auch die Art, wie das Ehepaar mit einander redet

Nach Noris Tod lief ich als traurige Gestalt durch die Gegend. Oftmals, wenn ich wie gewohnt meine Frau Om Nori rufen wollte, stolperte meine Zunge über den Namen meines Kindes. Noris Namen konnte ich nicht mehr aussprechen. Es schnitt scharf in mein Inneres, und das schmerzte mich. Seitdem rief ich meine Frau bei ihrem Vornamen Halima und sie mich Latif. Das ergab sich unvermeidlich, ohne Absprache verwendeten wir unsere Vornamen und wurden auf einmal wieder fremde Menschen, die sich erst langsam kennenlernen mussten. 

Letztlich ist der polyphone Roman selbst ein Brief an die alte Heimat das Autors, den er mit seinen deutschsprachigen Leser*innen teilt. In seiner Widmung schreibt er: „Fast ein Jahrzehnt, von den letzten Jahren des 20. bis in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts, hast Du kaum Briefe von mir erhalten, und ich ebenso wenige von Dir. Für Dich und für die anderen wartende, traurigen und dennoch hoffnungsvollen Seelen ist dieses Buch.“

Leben unter Sanktionen

Die Auberginenrepublik, das ist der Irak in der Phase des totalen Wirtschaftsembargos 1991-2003, als die normale Bevölkerung Iraks kaum mehr etwas zu essen hatte, außer eben den Auberginen, aus denen die Mütter in Abbas Khiders mesopotamischen Geschichten immer neue Gerichte kreieren. So auch in seinem neusten Roman Palast der Miserablen. Fast ließen sich die hier besprochenen Erzählungen als „Mesopotamische Trilogie“ zusammenfassen. Dem steht nur die stilistische Andersartigkeit des im Frühjahr erschienen Neulings entgegen. Das Lachen ist Khider vergangen, so scheint es. Das mag düster klingen, es muss für seine Leser*innen nicht schlecht sein. In seinem bisher umfangreichsten Roman erzählt er aus der Perspektive des Jungen Shams Hussein, wie es war, in einem Armenviertel zur Zeit der Sanktionen heranzuwachsen. Eingeleitet und immer wieder unterbrochen wird die chronologische Narration Shams‘ Jugend durch kurze Zustandsbeschreibungen aus dem Gefängnis.

Die chronologische Erzählung beginnt noch in der südirakischen Heimat der Familie Hussein, in dem Dorf Ahlan Dschahannam, „Herzliche Hölle“. Dieser Name, der aus den zwei Namen besteht, die jeweils die osmanischen und englischen Herrscher dem Ort gaben, entwickelt Khider als einen grotesken Running Gag, der die historischen Spuren der Kolonialherren versinnbildlicht. Shams‘ trotz bescheidener Lebensumstände und geographisch nahem Iran-Irak-Krieg harmonische Kindheit endet jäh, als die Repression des Baath-Regimes den schiitischen Aufstand nach dem zweiten Golfkrieg 1991 brutal niederschlägt. Mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester Qamer, die die heimliche zweite Hauptfigur des Romans ist, zieht er nach Bagdad, oder besser gesagt – in einen von Bagdads Vorstadt-Slums.

Und jenes „Blechviertel“ beschreibt Khider bildstark und vielschichtig. Es ist Moloch und Armut, Zuhause und Lebensgrundlage zugleich. Es ringt seinen Bewohner*innen unendlich viel ab, aber es gibt auch zurück. Das Geschwisterpaar Shams und Qamer (die Namen bedeuten Sonne und Mond) finden sich zurecht und müssen neben der Schule zum Unterhalt der Familie beitragen. Der starken Qamer fällt dies leichter als dem passiven und zurückhaltenden Erzähler. Auch in der Beziehung der Eltern verschiebt Khider die Geschlechterrollen: die zunächst irrational scheinende Frömmigkeit der Mutter wird, nachdem der Vater nicht mehr körperlich arbeiten kann, zur Haupteinnahmequelle der Familie. Die Mutter (die der Vater bei ihrem Vornamen Zahra, und nicht Om Shams nennt) wird zu einer religiösen Mittlerin, die es sie in der schiitischen Volksreligiosität häufig gibt. Sie organisiert Reisen zu Schreinen und gibt Ratschläge in Liebesdingen.

Die Erzählung des Blechviertels hält vor allem die unmenschliche Armut der Embargo-Jahre auf beeindruckende Weise fest. Abbas Khiders dritte mesopotamische Geschichte beschreibt weit mehr als „nur“ eine Dekade unter Saddam Hussein’s Regime. Er beschreibt die konkreten Auswirkungen eines Machtgefälles zwischen dem Westen und Westasien, das sich bis heute fortsetzt. Er beschreibt die Lebensumstände der Leidtragenden von neokolonialen Macht- und Wirtschaftsinteressen, die bis heute die Außenpolitik der Vereinigten Staaten und Europas bestimmen. Vielleicht wird in einigen Jahren eine deutsch-iranische Autor*in eine Erzählung vorlegen, die die konkreten Auswirkungen der auch von Deutschland und Europa eingehaltenen US-Sanktionen auf die iranische Bevölkerung schildern wird. Vielleicht bleiben wir auch mit Abbas Khiders mesopotamischer Erzählung zurück und somit gut in der Lage, unsere Fantasie im sogenannten Globalen Süden schweifen zu lassen. Denn auch wenn Khider natürlich für ein deutschsprachiges Publikum schreibt – er tut es ohne einen „das Andere“ erklärenden Blick von außen. Khiders mesopotamische Realitäten sind so selbstverständlich und authentisch unauthentisch, wie Literatur es eben sein kann.

Eine starke Figur und eine Metapher für diese Realitäten hat Khider in Qamer geschaffen. Die kluge und schöne große Schwester arbeitet sich hoch und kommt durch eine günstige Eheschließung aus dem Blechviertel heraus. Sie wird zur Haupternährerin der Familie. Wie so oft in dem Roman scheint es aufwärts zu gehen für die Husseins. Doch ebenso oft lässt der Fall nicht lange auf sich warten. Qamer verkörpert auch die irakische Elite, die aus Eigennutz die Augen vor dem Offensichtlichen verschließt. Ihr Absturz ist unvermeidlich.

Realität der Miserablen

Eine Insel in seinem Alltag ist für Shams ein geheimer Literaturzirkel, in den er von einem Verwandten eingeführt wird. Die Wohnung des Gastgebers ist der „Palast der Miserablen“, in dem sich eine Runde aus älteren Intellektuellen und einem Schwesterpaar aus gutem Haus trifft. Shams ist das einzige Mitglied aus dem Blechviertel. Und obwohl er die literarischen und politischen Diskussionen sehr genießt, und lernt seinen intellektuellen Horizont weit über den des Blechviertels auszudehnen, wird er doch nie als gleichwertiges Mitglied des Zirkels wahrgenommen. In ihrer Kritik für Kulturzeit sieht Insa Wilke hier einen möglichen metaphorischen Fingerzeig Khiders auf den deutschen Literaturbetrieb, der ihn als Schriftsteller aus dem Irak zwar wie ein Maskottchen empfängt, ihm (bis her) aber die Anerkennung als gleichberechtigter Autor, den Zugang zu den großen Literaturpreisen nämlich, verwehrt.

Eine direktere Ansprache an sein deutsches Publikum verpackt der Autor in eine Diskussion im Palast der Miserablen, in der ein erstes Mitglied verkündet, dass er ins Exil gehen werde. Ein anderer bittet ihn, die Zustände im Irak aufzuschreiben, damit die Welt erfahre, was wirklich in ihrem Land vor sich ginge. Darauf antwortet der künftige Exilant: „Glaubst du ernsthaft, dass sich irgendwer da draußen für unsere Probleme interessiert? Wir sind doch nur eine schnelle Zeitungsschlagzeile oder eine Kurzmeldung in den Nachrichten wert. […] Wieso sollte unsere Geschichte irgendwen jucken, der gerade gemütlich im warmen Kaffeehaus in Wien oder Zürich sitzt und seine fette Torte mit einem Kaffee runterspült? Der schlägt die Zeitung zu und hat uns vergessen.“ 

Khiders Roman ist ein Plädoyer dafür, den Irak und seine Geschichten nicht zu vergessen. Auch das Ende seiner Gefängniserzählung, dessen Texte im Verlauf des Buches mit dem sich verschlimmerten Gesundheitszustand von Shams immer kürzer werden, verdeutlicht die politischen Verstrickungen, dessen Opfer normale Menschen wie Shams sind. Er ist den Herrschenden beider Seiten ausgeliefert. Sprachlich ist „Palast der Miserablen“ Khiders ausgereiftester Roman, seine stilistische Melange ist einer – überwiegenden – Ernsthaftigkeit gewichen. Seine Sprache hat an Gewicht gewonnen.

Abbas Khiders mesopotamische Geschichten sind ein Glücksfall für die deutsche Gegenwartsliteratur. In Palast der Miserablen erzählt er eindringlicher als je zuvor, was Armut und Diktatur für normale Menschen bedeutet. Er erzählt sowohl von der Wirkmacht der Literatur, als auch deren Grenzen. Es wäre zu wünschen, dass auch Filmschaffende sich seines Werks annehmen. Seine Romane halten genug spannenden Stoff für Adaptionen bereit. Irakische Realitäten.

Bleibt anzumerken, dass die beispielhafte Laufbahn von Abbas Khider kein Einzelfall in der deutschsprachigen Literaturszene bleiben darf. Auch einschließlich postmigrantischer Perspektiven, wie der von Olivia Wenzel, Ronya Othmann, Deniz Utlu oder Nava Ebrahimi, gibt es keine gleichberechtigte Präsenz, keinen fairen Zugang für Autor*innen aus Asien, Afrika, Lateinamerika und deren Diaspora auf dem deutschen Buchmarkt. Auf diese Weise wird eine künstliche Schieflage stabilisiert, die die einigen wenigen Schwarzen und Autor*innen of Color dazu verpflichtet, zu Sprecher*innen ihrer Herkunftskulturen zu werden. Wir Leser*innen mögen es uns nicht wünschen, aber wer weiß, vielleicht möchte Abbas Khider eines Tages etwas ganz anderes schreiben.

Kanon-Wrestling bei den 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur #tddlKanon

von Daniel Stähr

 

Vieles war anders, vieles war neu bei den 44. (digitalen) Tagen der deutschsprachigen Literatur, aber eine Sache hat sich auch 2020 nicht verändert: Auch dieses Jahr griff die Jury in der Diskussion auf einen impliziten „Bachmannpreis-Kanon“ zurück, der die vorgetragenen Texte in einen Bezugsrahmen setzt. Nachdem Berit Glanz im letzten Jahr angeregt  hatte, diesen Kanon festzuhalten und somit abzubilden, welche Werke, Künstler*innen, Schriftsteller*innen und generell kulturellen Erzeugnisse als Referenzen verwendet werden, haben wir auch beim diesjährigen Bachmannpreis auf Twitter unter #tddlkanon die Bezüge der Juror*innen gesammelt.

Dabei bleibt eine Sache deutlich: Der #tddlkanon ist vor allem weiß und cis männlich. Ein Drittel der explizit genannten Personen waren Frauen, zwei Drittel Männer. Werden davon noch die über ein Dutzend Autor*innen und Herausgeber*innen abgezogen, die Sharon Dodua Otoo in ihrer Rede Dürfen Schwarze Blumen Malen? nannte, sieht es noch dürftiger aus.

Auffällig war auch, wie Marcel Inhoff (@sibaerisch) auf Twitter festgestellt hat, dass 2019 die Rede von Clemens Setz noch allgegenwärtig war in der Diskussion über die Texte, jene von Sharon Dodua Otoo aber von der Jury vollständig ignoriert wurde.

 

 

Bei allen Streitigkeiten innerhalb der Jury, wer denn jetzt ein konservatives Bild von Literatur(-kritik) und dem Feuilleton habe und wer nicht, kann festgehalten werden: Alle sieben Juror*innen bewegen sich in denselben, eng gesteckten Vorstellungen von relevanter Literatur und Kultur und die sind eben selbst Weiß. Das ist unter anderem der Hintergrund, vor dem die Preise verhandelt werden, ob das ausreichend oder angemessen ist, darf zumindest hinterfragt werden. Eine Abbildung der gesellschaftlich existierenden Diversität findet im Sprechen über die Texte jedenfalls nicht statt. Wie das behoben werden kann, dafür gibt Otoos Rede die Antwort. Bei der nächsten Neubesetzung der Jury könnte die gesellschaftliche Vielfalt auch in die Jury gebracht werden. Denn eins zeigt Dürfen Schwarze Blumen Malen? ganz eindeutig: Representation matters und macht einen realen Unterschied.

(Hinweise auf Korrekturen und Ergänzungen können gerne kommentiert werden, auch unter dem Hashtag #tddlkanon.)

 

Tag 1: Mittwoch, 17. Juni 2020

Autor*innen literarischer Werke:

Charles Dickens, Homer, Geoffrey Chaucer, Heinrich Böll, Bertolt Brecht, Michael Götting, Chinua Achebe, Walter Jens

Jackie Thomae, May Ayim, Olivia Wenzel, Zoe Hagen, Melanie Raabe, SchwarzRund, Noah Sow, Toni Morrison

Autor*innen nicht literarische Werke:

Achille Mbembe, Ludwig Wittgenstein

Nivedita Prasad, Chris Lange, Ika Hügel-Marshall

Politische Organisationen:

Bla*Sh, ADEFRA, ISD, Pamoja

Sonstiges:

Michel Friedman, Marcel Reich-Ranicki, Waldorf und Statler, Albert Einstein, Arnold Schönberg, Philippa Ebéné

Tag 2: Donnerstag, 18. Juni 2020

Filme & Serien:

Magische Tierwesen und wo sie zu finden sind (Hubert Winkels bezieht sich explizit auf die Filme), Der Blaue Engel, Blade Runner, Systemsprenger

Literarische Quellen und ihre Autor*innen:

Don Juan (Gedicht von Lord Byron), Manhattan Transfer (John Don Passos), Metamorphosen (Ovid), Unruhig Bleiben, Cyborg Manifesto (beide Donna Haraway), Ultraromantik (Leonhard Hieronymi), Die Letzte Welt (Christoph Ransmayr), Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus (Christine Lavant), Die Gänsemagd (Märchen)

Autor*innen literarischer Werke:

Ingeborg Bachmann, J.K. Rowling,

Franz Kafka, Arthur Schnitzler, Thomas Mann,Thomas Bernhard, Peter Handke, Hermann Hesse, Hubert Fichte oder Gottlieb Fichte (Insa Wilke und Hubert Winkels sprachen wahrscheinlich über verschiedene Fichtes als sie den Bezug aus Leonhard Hieronymis Text diskutierten, was die Verwirrung um den Ort seines Grabes erklären könnte), Hans Henny Jahnn, Mircea Dinescu

Fiktive Figuren:

Linus und Charlie Brown (Peanuts), Leila und Madschnun, Robin Hood, Medusa, Pegasus

Sonstiges:

Marlene Dietrich

Peter Sellers, Donald Tusk, Diogenes, Theodor W. Adorno, das Ü-Ei, The Last of Us (Spiel), The Who – Quadrophenia, Nora Gomringer nennt einen US-Präsidenten, der mit Hilfe von Bots eine Wahl gewonnen hat, Hubert Winkels verweist auf die Historie des Psychatrietexts beim Bachmannpreis

 

Tag 3: Freitag, 19. Juni 2020

Figuren Literarischer Werke:

Yoda (Star Wars), Scheherazade, Eulenspiegel

Literarische Quellen:

Drehtür (Katja Lange-Müller), Die Wand (Marlen Haushofer)

Karl und das 20. Jahrhundert (Rudolf Brunngraber), avenidas (Eugen Gomringer, Nora Gomringer erwähnt bei der Lesung von Levin Westermann den Admirador des Gedichts in ihrer Kritik) Peri hypsous („Über das Erhabene“, Pseudo-Longinos), Statistischer Roman (Gert Zeising)

Autor*innen literarischer Werke:

Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Arno Geiger, David Wagner, Werner Liersch, Jorge Semprún, Johann Wolfgang von Goethe, Leonhard Hieronymi und Jörg Piringer (immer wieder nutzt die Jury Verweise zu vorherigen Texten)

Katja Petrowskaja, Emily Dickinson, Natascha Wodin

Autor*innen nicht literarischer Werke:

Paul Gerhardt, Albrecht Schöne, Matthias Claudius, Erich Fromm, Meister Eckhart, Otto Neurath, Ernst Schubert, Oswald Spengler (Wiederstein nutzt das Zitat “Müde legt der Europäer das Buch aus der Hand”), Walter Benjamin

Sonstiges:

Pop-Literatur, Landschaft mit Eremit (Bild von Carl Blechen), Jesus, Maria Sibylla Merian

 

Tag 4: Samstag, 20. Juni 2020

Filme & Serien:

Lindenstraße (mit Bezug auf Else Kling), Hunde wollt ihr ewig leben

Regisseur*innen:

David Lynch, Éric Rohmer

Literarische Quellen:

Die Wand (Marlen Haushofer), Malina (Ingeborg Bachmann)

Insa Wilke bezieht sich wieder auf das Kafka-Zitat “Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns”, Die Blendung (Elias Canetti), Die Strudlhofstiege (Heimito von Doderer), Mann im Zoo (David Garnett), Meßmers Reisen (Martin Walser)

Autor*innen literarischer Werke:

Dorothee Elmiger, Lydia Haider, Teresa Präauer

Bov Bjerg, Ephraim Kishon

Autor*innen nicht literarischer Werke:

Theodor W. Adorno,

Sonstiges:

Joseph Goebbels, Paul Klee, Nicolas Sarkozy, Urs Fischer

Marina Abramović

Wiener Aktionismus, Schwarze Romantik, Nouvelle Vague, Monty Python,

Videoentscheid – Alle Vorstellungsfilme beim Bachmannpreis 2020

von Martin Lechner

 

Ehrlich gesagt haben mich die Videoportraits beim Bachmannpreis schon immer mehr interessiert als die Lesungen. Vor allem, seit die Autorinnen und Autoren vor einigen Jahren angefangen haben, sich selbst zu filmen. Statt sich weiter dem Wettkampf zu stellen, wer das Fernsehformat der Vorstellungsfilmchen am unlädiertesten überlebt. Natürlich geht es auch bei den Selbstportraits nicht immer ohne Selbstsabotage zu. Zumal die Darstellung hier nicht in der eigenen Ausdrucksform erfolgt. Aber manchmal wirft so eine Performance auf ästhetischen Seitenpfaden ein interessantes Schlaglicht auf die Hauptkunst. Manchmal natürlich auch nicht. Aber wie dem auch sei. In jedem Fall ist es ein erhellendes Vergnügen, Nebensächlichkeiten wichtiger zu nehmen als die Hauptsache. Glotzen wir los!

Gleich die erste Autorin strapaziert unsere schnittgewohnten Flimmeraugen mit dem Minimalismus einer handlungsarmen Plansequenz. Ein Blick in einen Hinterhof. Lichtspiele auf einer Mauer. Links auf dem Tisch eine Orange. Rechts neben der Mitte ein leerer Aschenbecher. Wie lange sollen wir das aushalten, Laura Freudenthaler? Doch da, in Minute 00.25, passiert etwas. Es wird ein Glas Wasser hingestellt. Womöglich ein Hinweis auf die gleich folgende Wasserglaslesung? Zu hören ist dazu ein homöopathisch verdünntes Verkehrsströmen. Eigentlich mag ich so etwas ja. Aber Wasserglas, Aschenbecher, später noch ein Streichholz, da fehlt nur noch irgendein Schreibinstrument, um alle erwartbaren Requisiten beisammen zu haben. Vielleicht ist das wie mit den Adjektiven. Je weniger sie knistern, desto überflüssiger wirken sie. Auf ihren Text bin ich trotzdem sehr gespannt.

Klick, und weiter geht’s. Lydia Haiders Video lehrt uns die Unberechenbarkeit des Vergleichs. Denn während des knapp dreiminütigen Stroms an Lydiahaiderportraits, die auf einem bordeauxroten Pixelteppich schweben, meldet sich der ungeahnte Wunsch nach dem gesichterfreien Hinterhofminimalismus von Laura Freudenthaler. Eine Aufnahme springt heraus aus dieser Diaschau der coolen Posen mit Zigaretten oder Fackeln der Burschenschaft Hysteria. In Minute 01.20 sieht man die Autorin mit schwarzer Arbeitermütze neben einem professionell lächelnden Schlippsmännchen stehen, in den Händen eine Urkunde. Plötzlich ist der Punk wie weggeblasen. Schade eigentlich, wo ist er hin? Und wofür gab’s die Urkunde? Etwa für ihren Roman Kongregation, von dem ich schon soviel Gutes gehört habe? Niemand weiß es. Also schauen wir weiter.

Auftritt Hanna Herbst. Noch bevor das Video startet, ist schon eine Schreibmaschine zu sehen. Und daneben auch noch ein Bleistift. Etwa, damit wir nicht vergessen, dass Hanna Herbst eine Schriftstellerin ist? Klick. Hoffentlich sagt sie nicht gleich etwas Kluges über das Schreiben. Aber nein, sie singt! Wär ich doch nur eine Schriftstellerin, singt die Schriftstellerin, als wäre sie Funny van Dannen, die Republik läse mich auf dem Klo. Eigentlich gar nicht schlecht, so ein ironisches Selbstportrait. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, ich würde mehr über die Schriftstellerin Hanna Herbst erfahren, wenn es nicht darum ginge, dass sie Schriftstellerin ist. Aber vielleicht täusche ich mich auch.

Als Nächstes ragt kurz das Radission Blu in den Hamburger Himmel. Dann sehen wir eine Grünpflanze, die sich in einer leeren Lobby aus einem erbarmungslosen Blechtopf reckt und dabei heimlich die Hoffnung weckt, dass sich Leonhard Hieronymi vielleicht allein durch Bilder portraitieren wird. Menschenlose Hotelansichten, ohne etwas draufzutexten, wie wäre das? Doch schon in Minute 00.16 springt er eine Treppe herab und erklärt, dass er sich in letzter Zeit sehr für den Stunt interessiere. In der Folge sieht man ihn durch das ganze Hotel turnen. Mal macht er eine Aerobicübung auf dem Dach, mal kommt er Purzelbäume schlagend aus einem davidlynchartig dunklen Gang hervor, mal gibt er einem Glastisch, auf dem womöglich Viren wimmeln, ein lebensgefährliches Küsschen, dann macht er einen Handstand in weißer Hose und schwarzen Socken, was zumindest ein Modestunt ist. Nur was hat man sich unter den erwähnten Textstunts vorzustellen? Gar nicht leicht zu sagen. Eine Aneinanderreihung von Albernheiten vielleicht? Dem widerspricht allerdings die aus dem Hintergrund knarzende Rede von Gefahr, Mut und Verletzungen. Vielleicht Texte, die sich auf fahrenden Zügen boxen oder die mit Drachenfliegern in Schafherden landen. Dafür könnte man ihm auf jeden Fall einen Colt-Seavers-Preis verleihen, oder?

Lisa Krusche, die ein schwarzes Kleid trägt, sitzt in falloutgrünen Wastelands und erklärt, dass das Einzige, was sie mit Sicherheit sagen könne, sei, dass sie schreibe, weil sie es anders nicht aushalte. Na gut, kann ich verstehen. Wieso stört mich das meiste Schreibgerede eigentlich so schrecklich? Vielleicht, weil es oft so platt und penetrant und, huch, jetzt bricht Musik ins Bild, Midas Touch von Zaceri, und die Autorin, immer noch im Kleid, taucht sehr schnell durch einen sehr blauen Pool, spaziert durch leere Antonionilandschaften, tanzt im Nachthemd auf Betonmauern, liegt mit Hoodie und Hund auf vollgesprayten Tischtennisplatten und sagt nichts, nichts, gar nichts mehr. Umgehung aller Selbstportraitpeinlichkeiten qua Musikvideo. Na klar, eine leichte Lösung, aber sehr elegant ausgeführt.

Dass Meral Kureyshi nach dieser Popnummer mit der jugendschweren Frage „Wer ich bin?“ einsetzt – Respekt. „Deutsch ist meine Muttersprache, meine Mutter spricht kein Deutsch“, sagt sie, doch der Film zeigt nicht ihre Mutter oder Prizren im Süden des Kosovo, wo sie geboren ist, sondern abrupt hintereinander gesetzte Eindrücke, tanzende Kinder in der Küche, einen von Silvesterraketen golden zerplatzenden Nachthimmel, graugrüne, im Regen sich wiegende Baumwipfel. Diese Bilder müssen nicht wie Hündchen angeleint werden an den Text. Sie dürfen streunen. Wie Katzen, die die Berührung von alleine suchen. In Videos bin ich mir fremd, sagt sie und zeigt bloß einen Fuß. In der Folge sieht sie tanzen, vorlesen, lachen. Vor diesen gleichberechtigten Bildern werden sogar die Schriftstellerinnenworte (schreiben, Einsamkeit) erträglich, gelegentlich sogar schön: Manchmal beobachte ich so lange, bis ich glaube, unsichtbar zu sein, ich bewege mich nicht. Auch wenn sich Vergleiche an den Hals hängen können wie Mühlsteine, fühle ich mich von Ferne an das Erzählen aus Sans Soleil erinnert: If they don’t see happiness in the picture, unleast they’ll see the black. Und dann ist es schon wieder vorbei: Ich will nicht, dass die Zeit schnell vergeht, sagt sie zum Schluss. Ich auch nicht, rufe ich und will sofort eins ihrer Bücher lesen. Geht aber nicht, denn es gibt noch weitere Videos zu schauen.

Also los, Herr Leitner. Vorstellen soll ich mich, hören wir die Stimme des Autors heiser aus dem Off, sollten Sie das wirklich wünschen, dann hiermit wie folgt. Ausweisdokument sei sein Sozialstaatsroman, was aber nicht als Werbung zu verstehen sei. Nun, wenn er meint. Aber was sehen wir eigentlich? Den Wichtltreff, Egon Christian Leitners bärtiges Kinn, ermüdete Rosen, ermüdete Menschen, den schlafenden Autor, der noch dazu erklärt, er schlafe gern und gut. Da muss man aufpassen, dass man nicht selbst gleich einschläft. Zu Bildern von wippenden Gräsern erzählt der schlummernde Leitner jetzt einen vom Pferd, nein, Quatsch, Klee, vom Maler Paul Klee, den der Krieg innerlich nichts angegangen sei. Es ist vielleicht gar nicht so uninteressant, was er sagt, aber diese Mischung aus schlurfender Stimme und achselzuckend an die Worte gehängten Bildern, verdünnt allen Text über Aristoteles, Hühnereier und Menschenherzen zu einem bewusstseinsdrosselnden Rauschen. Als Ursinn den Tastsinn als Hauptsinn, höre ich ihn abschließend sagen. Ziemlich viel Sinn. Nur fehlt da nicht der Unsinn? Am Ende geht er die müde grüne Wiese hinab, und ich reibe meine Ohren wach für Jörg Piringer.

Beim ersten Bild muss ich mich leider am Stuhl festhalten, um nicht davonzurennen. Gezeigt wird nämlich ein weißer Buchstabenurknall auf einer weltallschwarzen Fläche. Aber das ist dem Autor zum Glück selbst zu viel, und er nimmt es wieder zurück. Im zweiten Anlauf zeigt er uns sein Portrait, zusammengesetzt aus unterschiedlich eingefärbten Buchstaben, seinen genetischen Code als Buchstabenkette, vom oberen Bildrand herunterrieselnde Buchstaben, zusammenbrechende Buchstabentürme. Wir lernen: Buchstaben sind sehr wichtig für diesen Schriftsteller. Und was noch? Der richtige Satz, gut durchgestrichen, verbessert die Welt, heißt es nun. Ein kleines Paradox, das den Zuschauer kurz aus dem Staunen über die graphische Kunstfertigkeit befreit. Denn gelingt nicht die Weltverbesserung im Gegenteil durch das Stehenlassen des richtigen Satzes? Oder gibt es vielleicht gar keine richtigen Sätze? Mensch, Herr Piringer, ich glaube, Sie haben recht! Wie schade, dass in der Folge wieder nur dienende Bilder zu sehen sind, Veranschaulichungen seiner Rede über Zeichen, Körper, Abstraktionen. Im O-Ton klingt das so: Ich strebe danach, Problemfelder im Kontinuum zwischen Text, Schrift, Laut, Form und Inhalt zu erschließen. Zitiert er da aus seiner Magisterarbeit?

Fast könnte man meinen, Jasmin Ramadan hätte meine Frage gehört. Sie lässt nämlich alles erklärende Off-Gerede weg und will uns, wie der kurz aufblitzende Titel lautet, Die Anatomie des Schreibens rein mit Bildern zeigen. Zunächst sieht man sie als erkennungsdienstlich behandelte Comicfigur, die das übliche Schildchen hochhält. Geburtsort und Geburtsjahr steht da, aber auch Verbrechen/Ermittlung wg.: Ü. Verweist der geheimnisvolle Umlaut womöglich auf einen Überfall? Doch statt Pistolenkugeln, die in Zeitlupe die Luft durchfauchen, zeigt sie uns einen von bunten Buchstaben umflirrten Kopf mit mechanisch auf einer Tastatur stochernden Forkenhänden. Die Eindrücke der Außenwelt werden in Form von Pfeilen, Kreisen und Punkten visualisiert, die von allen Seiten auf die Sinne einsausen. Einmal meldet sich das neben der Tastatur liegende Telefon. Sogleich verebbt die fröhlich fiedelnde Fahrstuhlmusik und ein bedrohlicher Klingelton erobert das Bild. Doch die Störung aus der Außenwelt, vielleicht war es die Polizei oder der Partner in crime, wird weggedrückt und weiter geht es mit der graphischen Reise ins Ich. Umrahmt wird das abstrakte Inspirationstheater vom Schneegestöber einer alten Fernsehkiste, das einmal eingangs und am Ende gleich mehrfach zu sehen ist. Leider, ohne dass sich daraus die schönen drei Buchstaben HBO erheben und eine neue Serie von David Simon ankündigen.

Apropos, kann ich schon Feierabend machen? Nein, kannst du nicht. Also weiter mit Matthias Senkel, dem ersten von dreien bei den 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur, der noch mutig oder mutlos auf das Fernsehformat vertraut. Früher hat den Wettbewerb ja immer auch die Frage begleitet, wer durch die professionelle Portraitierung am wenigsten lächerlich gemacht wird. Doch Senkel hat sich nicht etwa in ein Aquarium locken lassen, um sich dort etwas zur Ähnlichkeit von Fischen und Schreiben aus der Nase ziehen zu lassen, er sitzt auch nicht mit kompliziert zerknitterter Stirn vor der hauseigenen Bücherwand, stattdessen lässt er sich zeichnen. Stephanie Dost, die bei Neo Rauch studiert hat, zeichnet mit Kohle und Bleistift einen relativ wiedererkennbaren Senkelkopf. Verglichen mit anderen Bildern von ihr, die auf ihrer Homepage zu sehen sind, wirkt das Autorenportrait ein bisschen, sagen wir, technisch. Aber noch etwas anderes: Wer hat eigentlich gesagt, dass Portraits ähnlich sein müssen? Lewis Trondheim, an den ich gerade denken muss, weil, ach, weil gern mal wieder Approximate Continuum Comics lesen würde, stellt sich ja oft als dickschnabligen Vogel mit Anspruchslosigkeitsneurose dar. Übrigens, über Matthias Senkel erfahren wir in dem Portraitfilm, in dem er sich portraitieren lässt, fast nichts. Was im Grunde ja wunderbar ist.

Um Zeit zu sparen, schaue ich das nächste Video, das gleichfalls nicht von der Autorin selbst gestaltet wurde, unterwegs auf dem Handy. Der Einstieg, ein schläfriges Entenpärchen am Ufer, wirkt gleich sehr fernsehformatig. Jetzt kommt Katja Schönherr über den Steg. Der See bedeutet ihr, sagt sie, doch da hupt es neben mir. Ich verstehe gar nichts mehr und konzentriere mich auf das Bild. Der Zürichsee schimmert wirklich betörend. Wenn das überhaupt der Zürichsee ist. Anschließend wird eine besprühte Industrieruine gezeigt. An einem Stahlträger stehen die Worte Uwe und Atmo. Einsamkeit innerhalb von Zweisamkeiten, ist die Autorin wieder zu hören, weil man doch so selten einen Seelenverwandten tritt. Hat sie wirklich tritt gesagt? Mein Gott, ist das laut hier. Noch mal zurück. Ach so, nein, trifft, natürlich hat sie trifft gesagt. Schade eigentlich. Im Bild sind zwei gemeinsam einsame Enten zu sehen. Die Entendame schmachtet den Bürzel des Enterichs an, der maulfaul den Schnabel ins Gefieder schiebt. Vermutlich ein Fall von fortgeschrittener Uwe-Atmo. Die Autorin, der es wichtig ist, zu zeigen, dass am Ende jeder mit sich alleine kämpft, setzt einen Plastik-Orang-Utan an den See, und ich starte, obwohl mich bereits eine affenartige Müdigkeit beschleicht, das nächste Video.

Film ab für das dritte Fernsehformat: Helga Schubert kommt aus ihrem Haus und erklärt, dass sie die geschätzten Zuschauer mit ihrem Alter überraschen werde. Weil sie doch schon Achtzig ist. Was danach kommt, ist aber viel interessanter. Wie Matthias Senkel ist Helga Schubert Wiederholungstäterin. Anders als der junge Mann jedoch konnte die aus der DDR stammende Autorin beim ersten Mal 1980 nicht teilnehmen, da ihr Ausreiseantrag abgewiesen wurde. Während sie das erzählt, wechselt das Bild in die subjektive Kamera. Was damit gesagt werden soll, ist mir nicht ganz klar, aber das von Lichttupfern blinkende Grün, in dem ihr Blick hin und herschweift, wirkt, als hätte Martin Šulík hier Der Garten gedreht. Ich kann da einfach mitmachen, sagt Helga Schubert jetzt, und das ist wirklich für mich, zumal alle, die mir das verboten haben, schon tot sind, ein kleiner Sieg über die Diktatur. Von mir aus kann sie den Bachmannpreis sehr gerne gewinnen.

Schaffen wir noch eins? Oder ist Schluss? Na gut, ein letztes. Es beginnt mit einer Kamerafahrt durch Bäume hindurch. Man fragt sich: Wohin geht die Reise? Was für ein Geheimnis birgt dieser funkelnde Wald? Doch dann müssen wir sehen, wie Carolina Schutti auf einer braunen Bank sitzt und zu elegischen Trompetentönen auf ihrem Laptop herumtippt. Im nächsten Bild sitzt sie auf einer grünen Bank und schreibt schon wieder, diesmal auf Papier. Nach einer weiteren Kamerafahrt sitzt sie auf einer dritten Bank und schreibt immer noch. Da fällt mir wieder dieses schöne Bild von Shostakovich ein, das ich leider nicht mehr finden kann. Er sitzt auch auf einer Bank. Er hat die Ellenbogen über die Lehne geschoben und lächelnd ein Bein über das andere gelegt. Shostakovich beim Komponieren der fünften Sinfonie, lautete die Unterzeile. Warum hat mir dieses Bild nur so gut gefallen? Vielleicht, weil es zeigt, dass man nicht nur beim Schreiben schreibt? Sondern auch beim Sitzen und Lächeln auf Bänken? In einer Haltung, die keine Arbeitshaltung ist? Muss ich noch mal drüber nachdenken. Meinen Sie nicht, dass jetzt genug ist?, so lautet die Frage, die wir die Autorin zum Schluss notieren sehen. Nun, besser spät als nie. Und da ist das Video auch schon vorbei und ich kann endlich den Computer zuklappen.

Nein, verflixt, eins fehlt noch. Auch der letzte Beitrag beginnt mit der Kamerafahrt durch einen Wald. Allerdings scheinen wir uns nun im Süden zu befinden. Der swimmingpoolfarbene Himmel, das sizilianische Licht und die knorrige Pflanzenwelt, alles deutet darauf hin. Der Autor selbst bleibt unsichtbar. Wir hören das Knirschen seiner Schritte im Kies. Er geht einen dürren Pfad hinab, über verfallene Steintreppen, bis schließlich neben einer Feuerstelle – eine Bank auftaucht, nein, sogar zwei! Setzt sich etwa auch Levin Westermann  gleich hin und führt uns vor, wie er – schreibt? Nein, er zeigt den verlockenden Bänken die kalte Schulter und geht vorbei. Dann, genau nach der Hälfte, beginnt der Film rückwärts zu laufen. Wo immer der Weg hingeführt haben mochte, das Ziel wird nicht erreicht. Oder nicht verraten. Die Idee ist einfach, aber der Effekt charmant. Vor allem das Geräusch der rückwärts schlürfenden Schritte schmiegt sich schön in die Ohren. Zum Schluss ist abrupt ein in einen Stamm geschnitzter Waldschrat zu sehen. Das gibt Abzug in der B-Note. Welcher B-Note? Ach, was weiß ich. Jetzt ist wirklich Feierabend.

Und wer hat gewonnen? Oder muss überhaupt niemand gewinnen? Vielleicht sind ja Siege und Niederlagen gar nicht das richtige Maß für die Güte von Portraits von Literatinnen und Literaten. Oder überhaupt von Literatur? Vielleicht wäre der Bachmannpreis viel schöner, wenn nur gelesen und diskutiert würde, aber niemand gekürt. Andererseits, ganz ohne geht’s halt auch wieder nicht. Also machen wir es kurz, the Gewinnerin is: Meral Kureyshi! Aber, Überraschung, Lisa Krusche auch!  Fünfundzwanzigtausend Euro, das muss ich noch schnell sagen, habe ich leider nicht. Aber ich lade euch gern mal auf ein kompliziertes Triumphgetränk ein.

 

 

Martin Lechner ist Autor. 2014 erschien sein Debütroman Kleine Kassa zu dem es hier ein Video gibt, an dem man sich schadlos halten kann.

Privilegien und Effekthascherei – Der Zeitgeistjournalismus des Magazins “Tempo”

von Simon Sahner

 

Ende des Jahres 2006 berichtete der Spiegel unter dem Titel Das Ich-ich-ich-Magazin über eine ungewöhnlich umfangreiche (fast 400 Seiten) Sonderausgabe des Magazins Tempo, das es zu diesem Zeitpunkt seit bereits zehn Jahren nicht mehr gab. Auf dem Cover dieser Sonderausgabe prangte ein Porträt von Kate Moss, auf dem sie mit laszivem Blick über die nackte Schulter in die Kamera schaut, eine Zigarette hängt zwischen den Lippen. Die langen Haare sind zerzaust. Der Titel kündigt an: “Endlich! Die Wahrheit”. Ich erinnere mich sehr genau an dieses Cover, zudem an eine kontrastreiche Fotostrecke von einem oberkörperfreien Lukas Podolski; außerdem an ein Bild, das über hunderttausend Zigaretten zeigte, die Helmut Schmidt in den letzten Jahren geraucht haben soll, und an eine aufsehenerregende Aktion, die zahlreiche Prominente hinters Licht führte.

Mit 17 Jahren fand ich das damals alles sehr spannend, es entsprach mehr oder weniger dem, was mich interessierte. Keine Ahnung hatte ich allerdings davon, dass es sich bei dem Heft um eine verspätete Sonderausgabe einer der legendärsten Zeitschriften der vergangenen Jahrzehnte handelte: Tempo, das Magazin, das von 1986 an für zehn Jahre den Zeitgeist der Bundesrepublik journalistisch nicht nur prägen, sondern bestimmen wollte. Es war das Magazin, bei dem nicht wenige heute bekannte Medienmacher*innen ihre Karriere begannen und bei dem Autor*innen, die heute für einen Teil der Gegenwartsliteratur prägend sind, ihre ersten Schritte machten: Christian Kracht, Sibylle Berg, Moritz von Uslar, Eckhart Nickel, Maxim Biller und Tom Kummer.

Die inhaltliche und stilistische Schlagrichtung des selbsterklärten Zeitgeist-Magazins Tempo lässt sich gut in den Worten des damals 27 Jahre alten ersten Chefredakteurs Markus Peichl erklären, der 1985 die Notwendigkeit einer Publikation wie Tempo zu begründen versuchte:

Weil der Wiener so schön war, aber nicht schön genug, Weil der Spiegel beeindruckend viel Gehirn hat, aber beängstigend wenig Gefühl. Weil der Stern mal toll war, es aber anscheinend nicht mehr sein will. Weil Cosmopolitan viel Sex hat, aber nicht genug Erotik.

Damit ist auch die Ausrichtung des Magazins grob benannt. Die Menschen, die diese Zeitschrift vorwiegend machten, und diejenigen, die sie lasen, dürften ungefähr der gleichen sozialen Gruppe angehört haben: junge Männer, meist ledig, mit gutem Schulabschluss und überdurchschnittlichem Einkommen, urban und viel auf Reisen, politisch eher nicht engagiert und vor allem auf den eigenen materiellen und sozialen Erfolg bedacht. Ihre Interessen lassen sich zusammenfassen mit: „private Zufriedenheit, beruflichen Erfolg, Freizeit, Fitness, soziales Umfeld und Konsum.“

So umreißt Kristin Steenbock die Tempo-Redaktion und ihr Publikum in ihrem Buch Zeitgeistjournalismus, das sich der Vorgeschichte deutscher Popliteratur widmet und insbesondere das Magazin Tempo, seine Leser*innenschaft und seinen Anspruch, eine Generation abzubilden, näher betrachtet. Das entscheidende Attribut lautet dabei postheroisch. Während der Popkultur der 60er/70er Jahre ein heroischer Selbstanspruch im Sinne eines Widerstands attestiert werden kann, zeichneten sich Tempo und die Popliteratur der 90er Jahre durch eine postheroische Haltung aus, die durch einen zunehmenden Bedeutungsverlust von Subkulturen und eine Verbindung von Popkultur und Konsum entstanden war. Dabei kam es zu einer „Lösung des Popdiskurses vom linksalternativen Deutungsmonopol“ und zu einer Ablehnung des linken ebenso wie des konservativen Kulturverständnisses. Daraus entstand ein Generationsgefühl, das nicht mehr durch das gemeinsame Erleben politischer Ereignisse erzeugt wurde, sondern durch kollektive Konsum- und Freizeiterfahrungen. Anhand der Kategorien Generation, Gender, Nation und Konsum zeigt Steenbock auf, wie Tempo durch Stil, Themensetzung und Darstellungsweise vor allem in Bezug zu den vier Bereichen einen Zeitgeist affirmierte und gleichzeitig erzeugte.

Nähert man sich diesem Zeitgeist über diese vier Kategorien, dringt man in ein Umfeld vor, das aus der Perspektive aktueller Diskurse anmutet wie der dunstig unangenehme Locker Room des Journalismus. Hier findet auch Steenbock das Kernproblem des verallgemeinernden Begriffs Zeitgeist mit Blick auf Magazine wie Tempo, die zwar für sich in Anspruch nehmen, die Grundhaltung einer Generation zu repräsentieren, und dabei auch vorgeben, wie man zu leben habe, aber eben in Wahrheit nur einen kleinen Teil dieser Generation repräsentieren können und vor allem auch wollen. Die Autorin stellt  fest: „[D]as Zeitgeistkonzept dient dazu, kulturelle Ausdrucksweisen eines Teils der westdeutschen Jugend als generationsspezifisch zu inszenieren.“

Dass die grundlegende Haltung, die durch Tempo vermittelt wurde, in der zweite Hälfte der 80er Jahre eben nicht repräsentativ für die Generation der damals 20- bis 40-jährigen war, machte 1989 Willi Winkler in der Zeit deutlich, der selbst nach Alter und Bildungsstand genau das Umfeld vertrat, über das Tempo eine Deutungshoheit beanspruchte:

Nichts kann so kompliziert sein, als daß es sich nicht im feinen Layout abbilden ließe, nichts zu kostbar, als daß man es nicht sofort zum letzten Schrei ausrufen konnte. Tempozeigt, wie lustig es ist, jung und dumm zu sein.

Winklers Kritik ist nicht zuletzt auch eine Abgrenzung von dem Generationsgefühl, das Tempo konstruieren wollte. Und das ist durchaus verständlich. Was nämlich angesichts der Kategorien Generation, Gender, Nation und Konsum sehr schnell deutlich wird, sind die Sicherheit und das unerschütterliche Selbstverständnis als Diskursbeherrscher, mit denen eine Gruppe junger Redakteur*innen hier eine äußerst privilegierte Lebensweise bewusst in Textform und Ästhetik gegossen hatte. Dabei steht eine perspektivische Norm im Mittelpunkt, die davon ausgeht, dass der Leser, der die Generation repräsentieren soll, männlich, heterosexuell, normschön und von der eigenen Intelligenz überzeugt ist. Das Andere, das die Ausnahme bilden soll, offenbart sich in den Titelzeilen, die auch Steenbock zitiert: „»Leben Schwule besser?« (August 1994), »Ficken Dumme besser?« (Juli 1986), »Warum Mädchen schlauer sind« (Juni 1995), »Dicke sind schärfer« (Oktober 1986).“ Was eine wissenschaftliche Arbeit nicht so deutlich sagen kann, lässt sich in Steenbocks Buch zwischen den Zeilen lesen: In diesen Formulierungen drücken sich nicht einfach eine andere Zeit und Gesellschaft aus, sondern vor allem ein grundsätzliches Überlegenheitsgefühl des weißen, gut situierten, heterosexuellen Mannes. Die meisten anderen Perspektiven werden vernachlässigt. Noch 2006 stellte Reinhard Mohr angesichts der Jubiläumsausgabe im Spiegel fest, das Team aus 63 Personen (davon 8 Frauen) hinter der Sondernummer wirke wie ein „einziger großer Männnerfreundeskreis.“ Es verwundert daher auch wenig, dass man über Journalismuskreise hinaus außer Sibylle Berg kaum eine Autorin des Magazins heute noch beim Namen kennt.

Kein Bock auf Konsequenzen

Diese Sicherheit über die eigene Diskursmacht lässt sich an die postheroische Haltung, die Steenbock in diesem Generationsverständnis ausmacht, zurückbinden. Der entscheidende Faktor dieser Haltung ist vor allem eine grundlegende Abkehr von allem, was sich die 68er-Bewegung auf die Fahnen geschrieben hatte. Das Resultat dieser Entwicklung zeigte sich schließlich in Florian Illies’ Generation Golf, seinem retrospektiven Manifest der 80er/90er Jahre: „Es wirkte befreiend, dass man endlich den gesamten Bestand an Werten und Worten der 68er-Generation, den man immer als albern befand, auch öffentlich albern nennen konnte.” Dabei ging es tatsächlich weniger darum, dass man die Ziele der vorangegangenen Student*innenbewegung prinzipiell abgelehnt hätte, sondern darum, dass man, salopp gesagt, keinen Bock mehr auf die damit verbundenen Konsequenzen hatte. Ein gutes Beispiel, um das zu illustrieren, ist die Haltung zum Feminismus, die sich nicht nur in der 1994 von Johanna Adorján, Rebecca Casati, Christian Kracht und Eckhart Nickel verantworteten Liste der „97 nettesten Mädchen Deutschlands” und Ratschlägen „wie man sie (vielleicht) kriegt”, ausdrückt.

Vor allem in einem Persönlichkeitstest in der Tempo-Ausgabe vom Mai 1987, den Steenbock mit Blick auf das darin vermittelte Frauenbild analysiert, offenbart sich eine problematische Perspektive auf Fragen der Geschlechtergerechtigkeit. Unter der Ausgangsfrage „Müssen Sie Ihr Leben ändern?“ kommen die nicht genannten Testentwickler*innen zu dem Schluss, dass alle Frauen, die sich weniger Softies wünschen, Pornographie toll finden, sich in erotischer Unterwäsche nicht lächerlich finden und Kinder wollen, ihr Leben möglichst nicht ändern sollten. Den anderen hingegen wird gesagt: „Der Feminismus ist ein Durchlauferhitzer. Wer ihn wirklich verstanden hat, braucht ihn nicht mehr.“ Der perfide Twist dieser Erkenntnis steckt in dem impliziten Vorwurf an Frauen, den Feminismus nicht verstanden zu haben, wenn sie der Ansicht sind, die Gleichberechtigung sei noch nicht erreicht. Die Haltung, die hier Ausdruck findet, ist also kein offener Antifeminismus, sondern vielmehr eine implizit antifeministische Unlust, die eigenen Privilegien infrage zu stellen, was unter anderem hieße, von einem bestimmten Frauenbild Abschied zu nehmen. Deswegen erklärt man die feministischen Ziele kurzerhand für erreicht.

In diesem vorauseilend erklärten Postfeminismus spiegelt sich auch die grundsätzliche Problematik einer postheroischen Haltung, die Steenbocks Arbeit leider nicht ganz auf den Punkt bringt, obgleich diese Erkenntnis durchaus erkennbar wird. Wenn man generell davon ausgeht, dass gesellschaftliche und politische Probleme überwunden sind, muss man sich auch nicht mehr damit aufhalten, die eigenen Privilegien kritisch zu betrachten und Konsequenzen daraus zu ziehen. Der Postheroismus führte in Tempo zu einem Grundtenor, in dem man grundsätzlich mit jedem Thema Spaß haben oder, wie Steenbock es in ihrem Fazit ausdrückt, alle Verbindlichkeiten vermeiden kann.

Das ist auch genau das Problem des New Journalism in der Ausformung, auf die sich auch große Teile der Tempo-Redaktion beriefen und die Bernhard Pörksen wie folgt beschreibt: „radikale Subjektivität, notfalls unter Verzicht auf thematische Relevanz, ein Aktualitätsbegriff, der sich nicht allein über die Zeitdimension definiert, die dominante Präsenz des Autors, des journalistischen Ichs.“ (Pörksen, 308) Der New Journalism hat nun durchaus die journalistische Landschaft bereichert, allerdings  legitimiert er auch eine Schreibweise, die sich vor allem aus Privilegien speist und Effekthascherei erzeugt. Gerade in der Tempo konnte man feststellen, wie schnell diese journalistische Vorgehensweise in Selbststilisierung kippen kann und dem meist männlichen Reporter vor allem die Möglichkeit bietet, eigene Devianz und Wagemut zur Schau zu stellen.

Überstolze Selbstauskünfte – New Journalism in der Tempo

So auch in der Tempo-Reportage Ballern wie blöd von Christian Kracht, für die er 1995 ins afghanisch-pakistanische Grenzland reist, dort in einer Waffenfabrik verschiedene Schusswaffen und Granaten ausprobiert und schließlich zu dem Fazit kommt, Schießen sei wie Kartoffelchips essen, man bekomme nicht genug davon (Dezember-Ausgabe 1995). Nicht allein der Titel des Textes offenbart, dass es hierbei weniger um eine informative Reportage aus einem volatilen Umfeld geht, sondern vor allem darum zu zeigen, wie mutig und spektakulär der Reporter des Magazins ist. Dafür spricht auch die Bildunterschrift, die stolz verkündet: „Der TEMPO-Reporter bläst alles weg.“ Eine ähnliche Fremdscham erzeugt die Begeisterung des Tempo-Reporters Helge Timmerberg für den Gonzo-Journalismus und dessen berühmtesten Vertreter Hunter S. Thompson (der zeitweise selbst für Tempo schrieb). Ein Gonzo-Journalist, schreibt Timmerberg 1987 in der Tempo, zeichne sich dadurch aus, dass er es ablehne so „zu tun […], als habe er noch nie ‘ne Nutte gefickt, wenn Prostitution sein Thema ist, als habe er noch nie seiner kleinen Schwester die Schokolade weggenommen, wenn er über Gewalt gegen Frauen berichtet.“ In seiner Autobiographie Die rote Olivetti (2016) berichtet Timmerberg dann unter anderem davon, dass er in den 90er Jahren von der Bunten 30.000 Mark für Reportagen bekam, die er unter Drogeneinfluss schrieb, und irgendwann wie sein Vorbild Thompson in Havannah im Hotel wohnte und dort weiter für die Bunte arbeitete. Neben einem ethisch auf mehreren Ebenen problematischen Verständnis von Journalismus, offenbart sich in diesen Beispielen auch das unangenehme Pathos, das mit einem Teil des New Journalism einhergeht. Dabei wird weniger einer subjektiv-teilnehmenden Beobachtung Ausdruck verliehen, sondern der Reporter ergeht sich vor allem in der Inszenierung eines bestimmten Männlichkeitskitsches.

Man könnte angesichts dieser Reportagen und überstolzen Selbstauskünfte auch sagen, dass junge, privilegierte Männer viel Geld dafür bekamen, dass sie unter dem Deckmantel des Journalismus über den eigenen Drogenkonsum und verantwortungsloses Verhalten schrieben und dafür auch noch zu Helden verklärt wurden. Dieser Eindruck verfestigt sich auch bei den Schilderungen der ehemaligen Tempo-Reporterin Bettina Röhl, die rückblickend berichtet, wie junge Reporter und Redakteure extra nach Hamburg eingeflogen und wie „kleine Stars“ behandelt wurden. Unter ihnen befand sich unter anderem Maxim Biller, dem man in Tempo regelmäßig Platz für 100 Zeilen Hass gewährte. Über Hunter S. Thompsons Arbeit für Tempo weiß Röhl zudem zu erzählen, dass manchmal Redakteurinnen in die USA fliegen mussten, um dem vermeintlich genialen Journalisten im Kokainrausch die Hand zu halten, damit er seine Kolumne schreiben konnte.

Der Weg von Tempo zu Popliteratur

All das findet in Kristin Steenbocks Arbeit höchstens am Rand oder zwischen den Zeilen Erwähnung, was angesichts der erklärten Perspektive und vor allem aufgrund der Standards einer wissenschaftlichen Arbeit auch kaum verwunderlich und per se kein Manko ist. Dennoch wünscht man sich, dass auf diverse Fragen, die sich bei der Lektüre ergeben, detaillierter eingegangen würde. Unter anderem irritiert die mehrfache, unkommentierte Erwähnung, dass die Tempo-Redaktion der Partei Die Grünen nahegestanden habe, was angesichts der dargelegten Inhalte und Haltungen mindestens verwunderlich ist. Auch ein ausführlicher Exkurs dazu, wie sich die Mitarbeiterinnen der Zeitschrift zu dem sexistischen Frauenbild verhielten, wäre angesichts des Fokus auf den Bereich Gender interessant gewesen. Hier wären an manchen Stellen ein paar kurze Abzweigungen vom eng gefassten Kernthema der Studie hilfreich, um diese Bereiche zusätzlich zu erhellen.

Steenbock legt ihren Schwerpunkt vor allem darauf herauszuarbeiten, wie aus der Verquickung von literarischem Journalismus, New Journalism, Pop(musik)journalismus und Boulevardpresse in der Tempo die Grundlagen für das entstanden, was in der zweiten Hälfte der 90er Jahre zur deutschen Popliteratur erklärt wurde. Und das gelingt sehr gut. Sie macht diese Bezüge unter anderem an zwei literaturkritischen Texten von Christian Kracht fest, in denen er Andreas Neumeisters Roman Ausdeutschen (1994) und Uwe Timms Kopfjäger (1986) rezensiert. An beiden Texten zeigt Steenbock, wie Kracht die üblichen Grenzen einer Rezension überschreitet und stattdessen beinahe selbst literarisch die Bücher, ihre Autoren und sich selbst in Szene setzt, wodurch bereits Anklänge an seine späteren Romane erkennbar sind. In ihrem Fazit kommt sie zu dem Schluss, dass die Popliteratur, die häufig „von der transatlantischen Übertragung der Beatliteratur im Deutschland der späten 1960er Jahre her rekonstruiert“ wird, zusätzlich noch aus einer anderen Quelle gespeist wurde: dem New Journalism in Zeitgeistmagazinen wie vor allem Tempo. Damit rekonstruiert sie in dieser informativen und gut recherchierten Studie einen wichtigen Bereich, der bisher in der Betrachtung der deutschen Popliteratur um 2000 häufig vernachlässigt wurde. Wie elementar die Geschichte des deutschen Zeitgeist-Journalismus der 80er/90er Jahre und insbesondere der Tempo für Teile der deutschen Gegenwartsliteratur ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass etliche der Mitarbeiter*innen bis heute heute bei renommierten Verlagen veröffentlichen.

Zeitgeistjournalismus heute

Fragt man sich über Steenbocks Studie hinaus, wie Zeitgeistjournalismus im Jahr 2020, fast ein Vierteljahrhundert später, aussieht und wo man vielleicht Einflusslinien von Tempo findet, stößt man fast automatisch auf den Lifestyle-Journalismus der deutschen Ausgabe des Magazins Vice, die für sich mit dem Slogan Unbequemer Journalismus wirbt. Gerade mit Blick auf Vice fällt auf, wie sich hier die thematischen Schwerpunkte und die Haltung dazu gegenüber Tempo verlagert haben, nicht aber der stilistische Grundtenor der Berichterstattung. Sexuelle Diversität, Drogenkonsum und linkspolitische Themen machen bei Vice das Gros der Texte aus, wodurch gesellschaftlich relevanten Themen Aufmerksamkeit zukommt. Damit einhergehend fällt auch bei Vice eine starke Tendenz zum Spektakulären und Reißerischen auf; eine Tendenz, die sich aber, wie im Falle der Undercover-Reportage bei “Kollegahs Alpha Armee”, zuletzt durchaus auch mit journalistisch hochwertigen und dennoch zeitgeistrelevanten Reportagen verbindet, vielleicht eine Tendenz vom Postheroischen zurück zum Heroischen. Allerdings stehen New-Journalism-Reportagen wie der Selbsterfahrungsbericht einer Vice-Reporterin, die 24 Stunden allein auf einer Berghütte verbrachte, dem Friseur-Besuch von Eckhart Nickel in der Tempo-Ausgabe vom Februar 1996 an überaufgeregter Erkenntnislosigkeit in Nichts nach.

Eine andere Schiene des Einflusses ist vielleicht weniger offensichtlich, aber dahingehend aussagekräftiger, wie sich Zeitgeist heute in den Medien zeigt. Dieser Weg führt über die Late-Night-Show von Harald Schmidt und seinem Autor*innenteam zu dem Satire-Journalismus mit Aufklärungsanspruch eines Jan Böhmermann. Der schrieb, genau wie Pop-Autor Benjamin von Stuckrad-Barre (der für ein Tempo-Engagement zu jung war, 2006 aber an der Sonderausgabe mitarbeitete) einst als Gag-Autor für die Harald-Schmidt-Show und arbeitete außerdem lange Jahre mit der Autorin aus dem Tempo-Umfeld Sibylle Berg zusammen. (Es sei am Rande erwähnt, dass sich eine weitere Gemeinsamkeit darin zeigt, dass Böhmermann wie auch die meisten ehemaligen Tempo-Autor*innen beim Verlag Kiepenheuer & Witsch beheimatet ist.) Im Neo Magazin Royale zeigte sich über die letzten Jahre, wie journalistische Arbeit am Zeitgeist in der Tradition der Tempo heute aussehen kann. Ebenso wie das Neo Magazin (Royale) zwischen 2013 und 2019 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, brachte die Tempo einen strukturellen und thematischen Aufbruch in ein altes System und versuchte sich auch an satirischen Coups, die denen ähnelten, die Böhmermanns Sendung teilweise über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt machten. 1987 schlug die Tempo-Redaktion Bürgermeistern Arbeitslager für HIV-Infizierte anhand von Bauplänen des KZ-Sachsenhausens vor und in der Sonderausgabe 2006 bot man mehreren Prominenten und Politiker*innen eine Ehrendoktorwürde für eine Nationalakademie an, in deren Statuten sich Zitate aus Hitlers Mein Kampf  und dem Wahlprogramm der NPD befanden.

Während Diedrich Diederichsen für die 80er/90er Jahre einen postheorischen Zeitgeist ausmachte, liegt es nahe in den letzten Jahren wieder eine Verschiebung zum Heroischen zu erkennen: Die Popularität klarer Bekenntnisse gegen Rassismus, Sexismus und generell gegen jegliche Form der Diskriminierung und die Aufmerksamkeit für diese Themen sind nicht nur positive Entwicklungen, sondern sie entsprechen auch einem Zeitgeist, der politische und gesellschaftliche Haltung innerhalb eines bestimmten sozialen Milieus wieder aufs Tapet gebracht hat. Eine Sendung wie das Neo Magazin Royale war dabei unter heroischen Vorzeichen, strukturell aber ähnlich wie Tempo vor etwa 30 Jahren, sowohl Profiteur als auch Katalysator dieser gesellschaftlichen Stimmung in einem urbanen und formal gut gebildeten Teil der 20- bis 40-jährigen Bevölkerungsschicht. Gleichzeitig zeigte sich aber auch im Umfeld der Show von ZDF-Neo, dass es sich in erster Linie um ein Abstecken des Zeitgeistes von vorrangig jungen, privilegierten, weißen Männern handelte. Man kann daher vielleicht von Glück sagen, dass sich der Zeitgeist der sozialen Schicht, die Tempo machte und las, in den 2010er Jahren in eine positive Richtung entwickelt hat, sodass diese Art der Arbeit am Zeitgeist beim Neo Magazin Royale wenigstens eine anti-diskriminatorische Richtung eingeschlagen hat.

Vor 14 Jahren hingegen traten Teile der alten Tempo-Redaktion zusammen mit Gesinnungsgenossen wie Benjamin von Stuckrad-Barre und Ulf Poschardt selbst noch einmal an, um den Zeitgeistjournalismus à la Tempo ins 21. Jahrhundert zu wuchten. Das zumindest war das erklärte Ziel des fast 400 Seiten starken Magazins, das ich 2006 in die Hände bekam oder das, wie es im Spiegel hieß, den Leser*innen auf den Schreibtisch „krachte”. Was an dem Heft im Nachhinein vor allem auffällt, ist die konsequente Selbstzentriertheit, von der aus hier auch eine erweiterte Tempo-Redaktion auf die Welt blickte: „33 Wahrheiten” will man verkünden und auf 13 Seiten wird mit dem Prinzip Top oder Flop über zahllose Menschen von Jassir Arafat über Claus Peymann, Thomas Bernhard und Lady Di bis hin zu Westbam in jeweils zwei Sätzen ein Urteil gefällt. Sogar Maxim Biller durfte nochmal mit 100 Zeilen Hass ran. Außerdem listete man auf, was in den zehn Jahren seit 1996 passiert war und was in den kommenden zehn Jahren bitte passieren sollte, ganz so als sei Tempo tatsächlich der Mittelpunkt des bundesrepublikanischen Denkens, für den man sich seit 1986 hielt – selbsterklärte zeitgeistige Diskursmacht eben. Angesichts des personell langen Arms von Tempo in die Gegenwart, wünscht man sich da, dass der Tempo-Gründer Peichl mit seiner Aussage im Editorial der Sondernummer recht behält, dass es etwas wie Tempo „so nicht mehr gibt und gar nicht mehr geben kann.”

 

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