Vieles war anders, vieles war neu bei den 44. (digitalen) Tagen der deutschsprachigen Literatur, aber eine Sache hat sich auch 2020 nicht verändert: Auch dieses Jahr griff die Jury in der Diskussion auf einen impliziten „Bachmannpreis-Kanon“ zurück, der die vorgetragenen Texte in einen Bezugsrahmen setzt. Nachdem Berit Glanz im letzten Jahr angeregt hatte, diesen Kanon festzuhalten und somit abzubilden, welche Werke, Künstler*innen, Schriftsteller*innen und generell kulturellen Erzeugnisse als Referenzen verwendet werden, haben wir auch beim diesjährigen Bachmannpreis auf Twitter unter #tddlkanon die Bezüge der Juror*innen gesammelt.
Dabei bleibt eine Sache deutlich: Der #tddlkanon ist vor allem weiß und cis männlich. Ein Drittel der explizit genannten Personen waren Frauen, zwei Drittel Männer. Werden davon noch die über ein Dutzend Autor*innen und Herausgeber*innen abgezogen, die Sharon Dodua Otoo in ihrer Rede Dürfen Schwarze Blumen Malen? nannte, sieht es noch dürftiger aus.
Auffällig war auch, wie Marcel Inhoff (@sibaerisch) auf Twitter festgestellt hat, dass 2019 die Rede von Clemens Setz noch allgegenwärtig war in der Diskussion über die Texte, jene von Sharon Dodua Otoo aber von der Jury vollständig ignoriert wurde.
Dazu kommt, letztes Jahr keine Jurydiskussion ohne Referenz auf die Setzrede – in diesem Jahr keine einzige? Referenz auf die Rede von Sharon Otoo. Schade. Man hätte ja damit gut ins Verhältnis setzen können, was das Schreiben über Erlebnis und Repräsentation bedeuten kann #tddlhttps://t.co/QZ8VAZ1fH4
Bei allen Streitigkeiten innerhalb der Jury, wer denn jetzt ein konservatives Bild von Literatur(-kritik) und dem Feuilleton habe und wer nicht, kann festgehalten werden: Alle sieben Juror*innen bewegen sich in denselben, eng gesteckten Vorstellungen von relevanter Literatur und Kultur und die sind eben selbst Weiß. Das ist unter anderem der Hintergrund, vor dem die Preise verhandelt werden, ob das ausreichend oder angemessen ist, darf zumindest hinterfragt werden. Eine Abbildung der gesellschaftlich existierenden Diversität findet im Sprechen über die Texte jedenfalls nicht statt. Wie das behoben werden kann, dafür gibt Otoos Rede die Antwort. Bei der nächsten Neubesetzung der Jury könnte die gesellschaftliche Vielfalt auch in die Jury gebracht werden. Denn eins zeigt Dürfen Schwarze Blumen Malen? ganz eindeutig: Representation matters und macht einen realen Unterschied.
(Hinweise auf Korrekturen und Ergänzungen können gerne kommentiert werden, auch unter dem Hashtag #tddlkanon.)
Tag 1: Mittwoch, 17. Juni 2020
Autor*innen literarischer Werke:
Charles Dickens, Homer, Geoffrey Chaucer, Heinrich Böll, Bertolt Brecht, Michael Götting, Chinua Achebe, Walter Jens
Jackie Thomae, May Ayim, Olivia Wenzel, Zoe Hagen, Melanie Raabe, SchwarzRund, Noah Sow, Toni Morrison
Autor*innen nicht literarische Werke:
Achille Mbembe, Ludwig Wittgenstein
Nivedita Prasad, Chris Lange, Ika Hügel-Marshall
Politische Organisationen:
Bla*Sh, ADEFRA, ISD, Pamoja
Sonstiges:
Michel Friedman, Marcel Reich-Ranicki, Waldorf und Statler, Albert Einstein, Arnold Schönberg, Philippa Ebéné
Tag 2: Donnerstag, 18. Juni 2020
Filme & Serien:
Magische Tierwesen und wo sie zu finden sind (Hubert Winkels bezieht sich explizit auf die Filme), Der Blaue Engel, Blade Runner, Systemsprenger
Literarische Quellen und ihre Autor*innen:
Don Juan (Gedicht von Lord Byron), Manhattan Transfer (John Don Passos), Metamorphosen (Ovid), Unruhig Bleiben, Cyborg Manifesto (beide Donna Haraway), Ultraromantik (Leonhard Hieronymi), Die Letzte Welt (Christoph Ransmayr), Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus (Christine Lavant), Die Gänsemagd (Märchen)
Autor*innen literarischer Werke:
Ingeborg Bachmann, J.K. Rowling,
Franz Kafka, Arthur Schnitzler, Thomas Mann,Thomas Bernhard, Peter Handke, Hermann Hesse, Hubert Fichte oder Gottlieb Fichte (Insa Wilke und Hubert Winkels sprachen wahrscheinlich über verschiedene Fichtes als sie den Bezug aus Leonhard Hieronymis Text diskutierten, was die Verwirrung um den Ort seines Grabes erklären könnte), Hans Henny Jahnn, Mircea Dinescu
Fiktive Figuren:
Linus und Charlie Brown (Peanuts), Leila und Madschnun, Robin Hood, Medusa, Pegasus
Sonstiges:
Marlene Dietrich
Peter Sellers, Donald Tusk, Diogenes, Theodor W. Adorno, das Ü-Ei, The Last of Us (Spiel), The Who – Quadrophenia, Nora Gomringer nennt einen US-Präsidenten, der mit Hilfe von Bots eine Wahl gewonnen hat, Hubert Winkels verweist auf die Historie des Psychatrietexts beim Bachmannpreis
Tag 3: Freitag, 19. Juni 2020
Figuren Literarischer Werke:
Yoda (Star Wars), Scheherazade, Eulenspiegel
Literarische Quellen:
Drehtür (Katja Lange-Müller), Die Wand (Marlen Haushofer)
Karl und das 20. Jahrhundert (Rudolf Brunngraber), avenidas (Eugen Gomringer, Nora Gomringer erwähnt bei der Lesung von Levin Westermann den Admirador des Gedichts in ihrer Kritik) Peri hypsous („Über das Erhabene“, Pseudo-Longinos), Statistischer Roman (Gert Zeising)
Autor*innen literarischer Werke:
Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Arno Geiger, David Wagner, Werner Liersch, Jorge Semprún, Johann Wolfgang von Goethe, Leonhard Hieronymi und Jörg Piringer (immer wieder nutzt die Jury Verweise zu vorherigen Texten)
Paul Gerhardt, Albrecht Schöne, Matthias Claudius, Erich Fromm, Meister Eckhart, Otto Neurath, Ernst Schubert, Oswald Spengler (Wiederstein nutzt das Zitat “Müde legt der Europäer das Buch aus der Hand”), Walter Benjamin
Sonstiges:
Pop-Literatur, Landschaft mit Eremit (Bild von Carl Blechen), Jesus, Maria Sibylla Merian
Tag 4: Samstag, 20. Juni 2020
Filme & Serien:
Lindenstraße (mit Bezug auf Else Kling), Hunde wollt ihr ewig leben
Regisseur*innen:
David Lynch, Éric Rohmer
Literarische Quellen:
Die Wand (Marlen Haushofer), Malina (Ingeborg Bachmann)
Insa Wilke bezieht sich wieder auf das Kafka-Zitat “Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns”, Die Blendung (Elias Canetti), Die Strudlhofstiege (Heimito von Doderer), Mann im Zoo (David Garnett), Meßmers Reisen (Martin Walser)
Autor*innen literarischer Werke:
Dorothee Elmiger, Lydia Haider, Teresa Präauer
Bov Bjerg, Ephraim Kishon
Autor*innen nicht literarischer Werke:
Theodor W. Adorno,
Sonstiges:
Joseph Goebbels, Paul Klee, Nicolas Sarkozy, Urs Fischer
Marina Abramović
Wiener Aktionismus, Schwarze Romantik, Nouvelle Vague, Monty Python,
Zwei Wochen ist es her, dass #Bristol in den Twitter-Trends stand. Am 7. Juni 2020 stürzten Aktivist*innen in der britischen Großstadt eine Statue des Kolonialverbrechers Edward Colston, rollten sie durch die Straßen und wuchteten sie jubelnd ins Becken des Hafens, der im 18. Jahrhundert ein wichtiger Ort des transatlantischen Handels mit versklavten Menschen und Kolonialwaren gewesen war. Bilder des Statuensturzes verbreiteten sich schnell in den Sozialen Netzwerken und machten die Aktion zu einem transnationalen Medienereignis, noch bevor sie in der journalistischen Berichterstattung auftauchte. Der Statuensturz von Bristol konkretisierte einen vor Ort bereits seit Längerem bestehenden Konflikt und fügte sich im Kontext der aktuellen #BlackLivesMatter-Proteste in eine Reihe vergleichbarer Akte in den USA, Neuseeland und Belgien ein. Auch in Deutschland ist aus einem Anliegen, das von der weißen Mehrheitsgesellschaft bislang ignoriert oder freundlich abmoderiert werden konnte, zumindest ansatzweise eine breitere Diskussion über den kritischen Umgang mit Kolonialdenkmälern geworden.
Eine wiederkehrende Frage in dieser Diskussion ist, welchen Sinn und Zweck solche symbolischen Akte überhaupt haben. ‚Symbolisch‘ wird dabei häufig abwertend gemeint, als Gegensatz zu ‚echten‘ politischen Maßnahmen, die bestehende Machtverhältnisse verändern anstatt ‚nur an der Oberfläche‘ zu kratzen. So schrieb beispielsweise Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung, die verschiedenen Denkmalstürze hätten das „Potenzial, mehr zu sein als ein reines Symbol – allerdings nur, wenn dem öffentlichen Akt auch wirkliche strukturelle Reformen folgen, die Rassismus als Problem ernst nehmen.“ Patrick Bahners unterschied auf Twitter, anders als „Denkmalstürze im Zuge einer Revolution“ seien „nachgeholte Denkmalstürze […] bloß symbolisch revolutionäre Akte“. Und Jürgen Kaube meinte in der FAZ, es wirke “akademisch, wenn ernsthaft geglaubt wird, mit der Enthauptung von Kolumbus sei nun endlich mal ein Zeichen gesetzt. […] Man müsste […] Kulturwissenschaftler sein, um solche Taten für politisch zu halten.” Nun ja, so kompliziert ist es auch nicht.
Einerseits sind solche Bewertungen natürlich richtig: Ein verschwundenes Denkmal macht (noch) keine Revolution, beseitigt kein racial profiling, zahlt keine Reparationen. Andererseits blendet die Rede vom symbolischen Akt leicht den Kontext der Sozialen Bewegung samt umfassender Forderungen aus und verkennt die unmittelbare Wirkung, die Aktionen wie der Statuensturz von Bristol haben. Sie sind mehr als ‚nur symbolisch‘, weil sie die politische Vorstellungskraft erweitern und Diskussionen in Gang bringen, die andernfalls nur schleppend verlaufen oder gar nicht erst entstanden wären. Diese Wirkung wird verstärkt durch die Infrastruktur der Sozialen Netzwerke und die mit ihnen verbundene Möglichkeit Einzelner, an entfernten Protesten teilzuhaben, sie zu verbreiten und miteinander zu verknüpfen.
Wie wahrscheinlich viele nehme ich den Statuensturz von Bristol zuerst an einem Sonntagabend auf Twitter wahr. Ich sehe ein kurzes Video aus drei aneinander geschnittenen Sequenzen, die die Colston-Statue im Fallen, im Gerolltwerden und schließlich beim Aufschlagen auf das Wasser zeigen. Der User @joshbegley hat den Clip lakonisch überschrieben mit: „bristol in three acts“. Die Drei-Akt-Struktur verweist nicht zufällig auf das Theater: Es handelt sich um die zurechtgeschnittene Aufnahme einer kulturellen Aufführung, die sich über ihr Publikum vor Ort hinaus an eine transnationale Öffentlichkeit in den Sozialen Netzwerken richtet. Das Geschehen wird re-inszeniert und zu einer plattformgerechten Dramaturgie verdichtet, um Reaktionen wie Kommentare, Retweets und Favs hervorzurufen. Das funktioniert: Ich gucke mir das Video mehrfach an, retweete es und schaue es noch in den Folgetagen immer wieder. Ich will dabei sein, mitrollen, mitjubeln.
Gleichzeitig verstehe ich erst nach und nach, worum es in dem Video eigentlich geht. Die Bilder allein geben mir wenig Informationen darüber, was sie zeigen. Ihre Bedeutung erschließt sich erst im Kontext weiterer Videos und ergänzender Paratexte. Unter dem Hashtag #Bristol finden sich Smartphone-Aufnahmen von Aktivist*innen und Schaulustigen, journalistisches Bildmaterial und diverse euphorische bis wütende Bezugnahmen. Ich sehe den Statuensturz aus verschiedenen Perspektiven, sehe Demonstrierende auf dem gefallenen Edward Colston tanzen, sehe andere Hashtags, mit denen das Ereignis eingeordnet und verknüpft wird: #ColstonHasFallen, #Slavery, #GeorgeFloyd, #BlackLivesMatter.
Die Fülle der Bilder und die Art ihrer Verbreitung hat viel mit der veränderten Struktur von Protestbewegungen im digitalen Zeitalter zu tun. Die Politikwissenschaftler*innen W. Lance Bennett und Alexandra Segerberg haben bereits 2013 beschrieben, wie sich die Organisation und das Auftreten Sozialer Bewegungen durch die digitale Vernetzung wandeln. Der klassischen kollektiven Aktionslogik – d.h. hierarchisch und straff organisiert, mit verbindlichen gemeinsamen Zielen und Symbolen – stellen Bennett/Segerberg den Begriff des konnektiven Handelns („Connective Action“) zur Seite. Dieser umfasst verschiedene Formen der personalisierten Teilnahme an Protesten, die sich dadurch herausbilden, dass Einzelakteur*innen zwar in einem gemeinsamen Rahmen (z.B. #BlackLivesMatter, #OccupyWallStreet oder #metoo) lose miteinander vernetzt sind, sie sich diesen aber aneignen können und so mit individuellen Deutungen, Inszenierungen, Auftritten das Erscheinungsbild und Handlungsrepertoire einer Bewegung pluralisieren.[1] Paradigmatisch für diese Organisationsform, zwischen virtueller Gemeinschaft und Entgrenzung (bis hin zum Kontrollverlust), steht der Hashtag – als digitales Tool wie als Symbol der Vernetzung, das auch darum ein elementarer Bestandteil vieler Bewegungsnamen geworden ist.
Hashtag-Proteste bringen temporäre Teil- und Gegenöffentlichkeiten hervor und schaffen so ein kreatives, partizipatorisches Umfeld, in dem zirkulierende Bilder ständig bearbeitet und mit neuen Bedeutungen und Kontexten versehen werden können. Für den Statuensturz von Bristol und vergleichbare Ereignisse heißt das, dass es sich nicht nur um ikonoklastische Zerstörungsakte handelt, sondern um schöpferische Prozesse, die neue, wirkmächtige Bilder hervorbringen: Die Bilder des fallenden Edward Colston dürften für viele die ersten dieser Statue gewesen sein. Sie stehen neben Bildern einer geköpften und einer vom Sockel gerissenen Kolumbus-Statue, neben einem mit Staatsgewalt und Kran entthronten König Leopold II., neben Schwarzen Tänzer*innen auf dem besprühten Reiterstandbild des Konföderierten-Generals Robert E. Lee. Sie verwandeln sich in ein Twitter-Meme, in einen popkulturellen Joke auf TikTok, in von Enya besungene Zeitgeschichte, eine Grafik auf Banksys Instagram-Profil. Sie ziehen andere, absurde Bilder nach sich, wie den verpackten Winston Churchill und eine Gruppe von Sympathisanten beim Versuch, die Colston-Statue aus dem Hafenwasser zu bergen.
Die Medienwissenschaftlerin Kathrin Fahlenbrach bezeichnet Bilder wie den Statuensturz von Bristol darum als Netz-Ikonen: Bilder mit hoher Symbolkraft und emotionaler Wirkmächtigkeit, die in vielfältigen Praktiken des Teilens und Bearbeitens immer wieder re-inszeniert und mit neuen Bedeutungen versehen werden, die in konnektiven Aushandlungsprozessen kanonisiert werden und das Potential besitzen, in ein kollektives Bildgedächtnis auch jenseits der Sozialen Netzwerke überzugehen.[2] Netz-Ikonen (als Phänomene konnektiven Protesthandelns) sind damit eng verknüpft mit einer Praxis, die der Erinnerungsforscher Andrew Hoskins als konnektive Erinnerung bezeichnet. Diese zeichnet sich, im Gegensatz zur offiziellen, auf Einheitlichkeit bedachten, monumentalisierenden Erinnerung an ein Ereignis, durch Multi-Perspektivität, potentielle Widersprüchlichkeit und Veränderbarkeit aus. Konnektives Erinnern bedeutet also, dass die Frage, was auf welche Weise von einem Ereignis in Erinnerung bleibt, nicht endgültig und einheitlich – zum Beispiel in Form eines offiziellen Berichts oder eines Denkmals – beantwortet werden kann, sondern in Interaktionen zwischen Erinnernden immer wieder neu verhandelt wird.[3]
Konnektives Erinnern hat wiederum viel mit der Frage zu tun, was die aktuell kursierenden Bilder der Statuenstürze und #BlackLivesMatter-Proteste für den Umgang mit dem deutschen Kolonialerbe bedeuten. Denn die Bilder aus Bristol, Minneapolis, Boston und Antwerpen haben einen kommunikativen Raum aufgesprengt, in dem deutsche Kolonialdenkmäler und „Erinnerungsorte“[4] nicht nur in Frage gestellt, sondern teilweise überhaupt erst ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Es werden Twitter-Threads mit abrisswürdigen Denkmälern erstellt, Listen von Bismarck-Statuen geteilt, und die Aufmerksamkeit auf antisemitische Kirchenreliefe und das Berliner Humboldt-Forum erweitert. Teilweise gibt es Bewegungen gegen kolonialrassistische Erinnerungsorte und Straßennamen – wie die Berliner M*-Straße – schon seit vielen Jahren. Aber derzeit werden sie in einem postkolonialen Gesamtzusammenhang mit erhöhter Aufmerksamkeit bedacht.
Die deutschen Kolonialdenkmäler – das kann in diesem Zusammenhang nochmal betont werden – waren nie nur Aufbewahrungsorte für Erinnerungen, sondern von ihren Anfängen in der revisionistischen Bewegung über die Instrumentalisierung im NS-Staat bis hin zu ersten Statuenstürzen im Zuge der 68er-Bewegung, Orte der aktiven Auseinandersetzung und Geschichtsdeutung.[5] Der Umgang mit diesen Denkmälern war und ist immer eine Form des praktischen, zeitgebundenen Erinnerns gewesen. Jetzt, wo die Puzzleteile des deutschen Kolonialerbes ihrer Verstreutheit in Kleinstädten, Wäldern und Museumsarchiven entrissen und digital zusammengeführt werden, fällt auf, wie omnipräsent und gleichzeitig unbewusst, wie unzeitgemäß und gewaltvoll eine offizielle Geschichtsschreibung ist, die den deutschen Kolonialismus seit Jahrzehnten aus Sicht heroisierter Täter*innen erzählt.
Vielleicht erklärt sich aus dieser historischen Perspektive auch der teilweise überdrehte (wenn auch erwartbare) Ton der aktuellen Diskussion. So twitterte die WELT-Autorin Birgit Kelle: „Wenn es in dem Tempo weiter geht, sind bis Montag auch Mutter Teresa, Bono und Jesus dran. Ich bin sicher, es finden sich Gründe. Da draußen ist ein Mob unterwegs, es wird Zeit, endlich Ordnung herzustellen, statt in die Knie zu gehen.“ Das ist natürlich selbst für WELT-Verhältnisse – der ein im Deutschlandfunk gefallener Verweis auf den Rassismus Immanuel Kants zu einem anhaltenden Wutausbruch reichte – blanker Unsinn (wenn es in diesem Tempo weitergeht, steht bald ein Zaun ums Axel-Springer-Haus). Es erzählt aber viel über die sehr realen Ängste, die die ikonischen Bilder der Statuenstürze im reaktionären Bürger*innentum wecken. Während sich die Poschardt–Kelle–Heisterhagens der Nation nicht entscheiden können, ob sie es nun mit hypersensiblen ‚Schneeflöckchen‘ oder gemeingefährlichen Kulturrevolutionär*innen zu tun haben, hat sich über die Sozialen Netzwerke hinaus ein zaghaftes Bewusstsein dafür entwickelt, dass auch in Stein und Metall gegossene Erinnerung nicht absolut sein muss. Und während die eingeübten Reaktions- und Empörungsmuster („Cancel Culture!!!1!1!!“) in dieser Situation noch weniger greifen als sonst, könnte tatsächlich erstmals eine breitere Diskussion darüber entstehen, welchen Umgang dieses Land mit seinem kolonialen Erbe zu entwickeln bereit ist.
Gleichzeitig sollten die Erwartungen an diese Diskussion nicht allzu hoch sein. Denn sie werden bereits jetzt eingesetzt, um spürbare Konsequenzen ins Ungefähre zu verschieben. So ließ sich etwa Kulturstaatsministerin Monika Grütters mit der Aussage zitieren, einem „Bildersturm“ müsse eine gesellschaftliche Debatte vorangehen. Mit „rabiaten Spontanaktionen“ würde der Eindruck erweckt, eine inhaltliche Auseinandersetzung verhindern zu wollen. Von der irreführenden Reminiszenz an die Entfernung von Heiligenstatuen und Kirchenschmuck, von der dadurch evozierten Vorstellung fanatischer Mobs und puritanischer Schreckensherrschaft einmal abgesehen: Wie ohne entsprechende Denkanstöße eine breite, produktive und differenzierte Debatte zustande kommen soll in einem Land, das erstmal klären muss, ob es strukturellen Rassismus überhaupt gibt, das konnte bislang niemand überzeugend darlegen. Der jüngste Wiederaufbau der eigenen Vergangenheit als preußisches Disneyland mit einem vergoldeten Kreuz macht dahingehend ebenso wenig Hoffnung wie die geplante Untertunnelung des Mahnmals zur Erinnerung an die im Nationalsozialismus ermordeten Rom*nja und Sinti*zze. Tatsächlich wird eine Diskussion über das deutsche Kolonialerbe ja von Organisationen Schwarzer Deutscher seit Jahren gefordert. Erst durch die #BlackLivesMatter-Proteste in den USA und den Statuensturz von Bristol scheint sie aber in Gang gekommen zu sein.
Proteste wirken also. Die entscheidende Frage ist aber – im Kontext der aktuellen Proteste genau wie überhaupt im Umgang mit Protestbildern in der digitalen Öffentlichkeit: Welchen Anliegen schenken wir Aufmerksamkeit? Welche nehmen wir ernst, welchen gestehen wir das Recht zu, als politisch verstanden zu werden, welche beziehen wir auf uns? Wie und woran oder mit wem wollen wir uns erinnern?
Die Sozialen Netzwerke bieten ein mediales Umfeld für die aktive Auseinandersetzung mit marginalisierten Perspektiven und Deutungsweisen, für das Lernen über die postkoloniale Gegenwart. Sie bieten auch ein mediales Umfeld, in dem neue, netzikonische Bilder entstehen und neue Erinnerungspraktiken eingeübt werden können. Und sie schaffen so Denk- und Kommunikationsräume, plötzliche Dynamiken, die das radikal und dabei lang überfällige Neue möglich erscheinen lassen. Aber die Frage, die bei Hashtag-Protesten immer mitschwingt, ist, ob und wann sich diese kommunikativen Dynamiken auch in konkreteren Aktionen niederschlagen. Dabei sind die Ideen, die zur Umgestaltung deutscher Kolonialdenkmäler derzeit im Umlauf sind, den Bildpraktiken der Sozialen Netzwerke gar nicht unähnlich.
Der Historiker Jürgen Zimmerer schlägt zum Beispiel vor, Kolonialdenkmäler nicht einfach abzureißen, sondern so umzugestalten, dass sie radikal mit Sehgewohnheiten brechen: „Man könnte den Colston, man könnte einen Wissmann, man könnte sie alle ja zum Beispiel liegend hinstellen, man könnte sie auf den Kopf stellen, man könnte sie einfach in ein Ensemble einbetten, das eigentlich die kolonialen Verbrechen und den kolonialen Rassismus thematisiert und damit im Grunde auf diese Geschichte verweist, auf die unser Wohlstand in Europa ja zu nicht geringem Teil eigentlich beruht.“ Auch die Initiative Berlin Postkolonial fordert eine Umgestaltung kolonialer Denkmäler, die über einen Komplettabriss oder eine bloße Tafel hinausgeht. Auf Twitter kursieren Beispiele dafür, wie ein solcher Umgang aussehen kann.
Wann also überträgt sich die in den Sozialen Netzwerken entfachte Fantasie auf die Straße? Wann entstehen auch hierzulande Bilder, die zu Netz-Ikonen zu werden? Wann stehen #MStraße, #Bismarck, #BadLauterberg in den Trends? In Deutschland wird der Vorschlaghammer bislang ‚nur‘ rhetorisch geschwungen. Kürzlich flogen aufs Hamburger Bismarck-Denkmal immerhin ein paar Farbbeutel. In Berlin-Zehlendorf wurde eine rassistische Statue enthauptet. Bekennen wollte sich zu den Taten bisher niemand. Aber mal sehen, was noch passiert. Der Staatsschutz ermittelt.
[1] Bennett, W. Lance, Segerberg, A. (2013): The Logic of Connective Action. Digital Media and the Personalization of Contentious Politics. New York: Cambridge University Press.
[2] Vgl. Fahlenbrach, K. (2019): Fotografie als Protestmedium. Expressive Foto-Praktiken im Online-Aktivismus. Fotogeschichte 154, 35-40.
[3] Vgl. Hoskins, A. (2011): 7/7 and connective memory: Interactional trajectories of remembering in
[4] Zimmerer, J. (Hrsg.) (2013): Kein Platz an der Sonne: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
[5] Speitkamp, W. (2013): Kolonialdenkmäler. In: Zimmerer (Hrsg.), Kein Platz an der Sonne, 409-423.
Videospiele sind ein interaktives Medium – Spieler*innen handeln, auch wenn diesen Handlungen natürlich durch die Regeln des Spiels Grenzen gesetzt sind. In Call of Duty etwa können Spieler*innen nicht desertieren, im Rennspiel Forza Horizon lässt sich nicht das Fahrzeug verlassen, um ein anderes zu stehlen. Diese Grenzen sind in verschiedenen Spielen unterschiedlich eng. Trotzdem sind auch in engeren Spielräumen die Spieler*innen immer noch aktiv. In Call of Duty mag zwar der generelle Ablauf fest vorgegeben sein, aber selbst dort müssen Spieler*innen zielen und schießen und können dafür ihre Waffe selbst auswählen. Es sind immer noch die Spieler*innen, die aktiv zielen und den Abzug betätigen. Es sind immer noch Spieler*innen, die den Tod der anderen Pixelfigur auslösen. Und das Spiel reagiert darauf.
Spiele lösen, im Gegensatz zu passiv konsumierten Medien, wie etwa Filmen oder Büchern, Gefühle und Reaktionen aus, die nur entstehen können, weil Spieler*innen in einer aktiven Position sind. Ein Beispiel wäre das Erfolgsgefühl, das sich einstellt, wenn ein Hindernis erfolgreich überwunden oder ein Ziel erfüllt worden ist. Dieses Erfolgsgefühl steht sehr häufig in einem Zusammenhang mit vorhergehender Frustration. Emotionale Reaktionen auf Medien sind allerdings individuell. Das Überwinden eines frustrierenden Spielabschnitts kann auch zu Erleichterung führen.
Das gilt auch für eine andere Seite der Gefühle. Ich spreche hier vom Gefühl schuldig zu sein. Schuld erfordert eine Interaktion. Die empfindende Person muss für eine Situation der Auslöser sein, damit sie sich schuldig fühlen kann – sie muss in einem kausalen Sinne verantwortlich sein. Filme und Literatur können dieses Gefühl nur indirekt vermitteln – etwa in Dostojewskis Verbrechen und Strafe, das den langsamen Verfall Raskolnikows nach seinem Mord an der Pfandleiherin erzählt, der an seiner Schuld zu Grunde geht. Indirekt ist diese Darstellung insofern, als wir nicht direkt fühlen können, allenfalls nachfühlen – und in der Fähigkeit des Nachfühlens überschätzen sich Menschen gerne maßlos.
Im Gegensatz dazu steht das Videospiel, in dem wir die Handlungen direkter erfahren können. Dieses Fühlen ist, wie bereits erwähnt, subjektiv. In diesem Fall heißt das, dass einige Menschen Schuld in Situationen empfinden, die für andere Menschen nicht einmal eine Erwähnung wert sind. Ein überfahrener Passant in Grand Theft Auto (kurz GTA) ist für viele Spieler*innen kaum ein Kollateralschaden, allenfalls eine Störung, wenn durch den überfahrenen Passant die Polizei auf die Spielfigur aufmerksam wird. Die Abstraktionsebene ist stark, denn ein Passant wird hier nicht als Passant angesehen, nicht mal unbedingt als eine virtuelle Repräsentation, sondern als ein Spielelement, ein Schalter mit Zusatzfunktion, der in manchen Fällen ein anderes Spielelement aktiviert oder eben nicht, und ansonsten nur als Kulisse dient, um die Spielwelt lebendiger erscheinen zu lassen. Diese Abstraktion setzt allerdings eine gewisse Abhärtung voraus – eine deutliche Distanzierung der gezeigten Gewalt von echter Gewalt. Und auch wenn in Diskussionen um sogenannten “Killerspiele” gerne auf eine Selbstverständlichkeit verwiesen wird, so beruht diese Abhärtung doch auch auf einer Form der Gewöhnung.
Ohne diese Gewöhnung können Menschen sich dafür schuldig fühlen, einen unschuldigen Menschen überfahren zu haben. Das Spiel ist immersiv genug, um Gefühle auszulösen, die eigentlich, aus einer rein spielerischen Sicht, nicht angebracht sind: Denn heruntergebrochen ist der überfahrene Passant weiterhin nur eine Figur aus Polygonen, die jederzeit neu hervorgerufen werden kann.Doch was heißt das? In Spielen, in denen Gewalt eine wichtige Rolle einnimmt, können Schuldgefühle immer eine Rolle spielen und es ist vom subjektiven Empfinden der Spieler*innen abhängig, ob und in welchem Umfang diese Gefühle ausgelöst werden. Allerdings gibt es neben den Spielen, die ihre Schuldgefühle eher unabsichtlich auslösen, auch solche, die in ihrer Handlung und im Gameplay augenscheinlich darauf angelegt sind.
Eines dieser Spiele ist Spec Ops: The Line, entwickelt von Yager, einem Entwicklerstudio aus Berlin. Es handelt sich nominell um den zehnten Teil der Spec-Ops-Serie, einer Reihe von Low-Budget-Taktik-Shootern, die zwischen 1998 und 2002 hauptsächlich für die erste PlayStation veröffentlicht wurden. Spec Ops: The Line steht aber, abgesehen vom Titel und der dazugehörigen Marke, nicht mit diesen Titeln in Verbindung.
Auf den ersten Blick, und auch in den ersten Spielminuten, scheint Spec Ops: The Line ein generischer Deckungsshooter in einem modernen Kriegsszenario zu sein. Damit verbindet es augenscheinlich zwei Elemente, die sehr prägend für die der Xbox 360 und PlayStation 3 waren. Das moderne Kriegsszenario wurde durch Call of Duty 4: Modern Warfare popularisiert und hat in den späten 0er Jahren den zweiten Weltkrieg als das Hauptszenario für Spiele mit Schusswaffengewalt abgelöst. Dabei war Modern Warfare nicht das erste in der Jetzt-Zeit angesiedelte Ego-Shooter. Der häufig in der “Killerspiel”-Debatte herangezogene Ego-Shooter Counter-Strike hatte fast eine Dekade zuvor bereits die moderne Kriegsführung als Szenario. Allerdings sorgte Call of Duty durch einen durchschlagenden Erfolg auf dem Massenmarkt für eine Welle an Spielen, die dieses Szenario übernahmen. Traditionsserien wie etwa Medal of Honor, das vorher ebenfalls im zweiten Weltkrieg angesiedelt war, wendeten sich nun auch der modernen Kriegsführung zu – mit unterschiedlichem Erfolg. Bereits wenige Jahr nach Modern Warfares Veröffentlichung war das Jetzt-Zeit-Szenario fast schon ein Klischee und, wie schon vorher beim zweiten Weltkrieg, wünschten sich viele Spieler*innen andere Szenarien.
Im Gegensatz zu Modern Warfare war Spec Ops allerdings kein Ego-Shooter, sondern ein Third-Person-Shooter mit Deckungssystem. Ein Third-Person-Spiel zeichnet sich dadurch aus, dass die Kamera der Spielfigur folgt, statt deren Sichtfeld zu entsprechen. Bekannte Reihen wie Assassin’s Creed und Fortnite nutzen ebenfalls diese Kameraperspektive. Genau wie das moderne Kriegsszenario war auch das Deckungssystem einer der Aspekte, die die 7. Konsolengeneration besonders prägte. Statt wie in früheren Third-Person-Shooter in Deckung zu gehen, in dem die Spielfigur das Sichtfeld zu den Gegner*innen unterbrach, wurde in Gears of War ein System etabliert, bei dem die Spielfigur auf Tastendruck sich an die Deckung lehnt und an dieser “klebt”. Dieses System wurde schnell zu einem neuen Standard für Third-Person-Shooter und viele mittelmäßige bis schlechte Spiele mit dieser Funktion fluteten den Markt.
Spec Ops: The Line nutzt, wie bereits erwähnt, beides und wirkt auf dem ersten Blick wie ein weiterer Titel in einer langen Liste an generischen, uninteressanten und uninspirierten Spielen, die einfach nur den zu diesem Zeitpunkt aktuellen Trends hinterher rannten. Die 2012 veröffentlichte Demo, die aus zwei der frühen Abschnitte bestand, unterstrich diesen Eindruck: Eher belanglose Schusswechsel mit wenigen Umgebungsinteraktionen (so ließen sich etwa Glasscheiben einschießen, um Gegner*innen in Sand zu begraben) gepaart mit flapsigem Militärpathos. Nichts stach heraus, außer vielleicht dem Setting: Einem durch Sandstürme komplett von Sand überzogenen Dubai, in dem ein Squad aus drei Personen (Martin Walker, Alphonso Adams und John Lugo) versucht eine verschollene Militäreinheit unter der Führung von Colonel John Konrad zu retten.
Dieser Eindruck täuscht. Auch wenn es die erste Spielstunde nicht erahnen lassen: Spec Ops gilt bis heute als eines der wenigen expliziten Antikriegsspiele. Das Spiel basiert lose auf Joseph Conrads Roman Heart of Darkness und versucht im Gegensatz zu den Abenteuerkriegsspielplätzen eines Call of Duty explizit Krieg als etwas Grauenvolles darzustellen. Etwas Grauenvolles, an dem Spieler*innen als Spieler*innen dieses Spiel partizipieren. Aber Spec Ops: The Line ist auch ein Spiel, das trotz kaum zu leugnender Qualität letztendlich an seinen erzählerischen Ambitionen scheitert und damit verbunden ein Beispiel dafür, dass Schuldgefühle zu provozieren nicht leicht ist.
Am besten zeigt sich das an einer Szene in der Mitte des Spiels, für die es letztlich vor allem bekannt wurde: Das Trio setzt weißes Phosphor ein, um eine Armee, die sie glauben nicht anders überwinden zu können, zu besiegen. Per Computerbildschirm ordnet Walker die Drohnenschläge an, die von Lugo und Adams ausgeführt werden. Beim Bild handelt es sich um ein Wärmebild – es ist distanziert von der Realität und wird nur durch das Gesicht Walkers, das sich leicht auf dem Bildschirm spiegelt, ästhetisch in der Spielrealität von Spec Ops gehalten.
Nach der “erfolgreichen” Ausführung müssen die Protagonisten das andere Ende des Schlachtfelds erreichen und dafür direkt durch das Gebiet, auf die das weiße Phosphor abgeworfen wurde. Die Grausamkeit ihrer Tat wird sehr ausführlich gezeigt: Langsamer als sonst bewegt sich die Spielfigur durch den grünlichen Rauch und sieht verstümmelte Leichen, aber auch noch lebende Soldaten, denen Gliedmaßen fehlen – untermalt von einer E-Gitarre und dem gequälten Schreien der Sterbenden.
Die Szene endet mit einer Zwischensequenz, in der klar wird, dass neben der gegnerischen Armee auch Zivilisten befanden. Bis zu diesem Zeitpunkt gingen die Protagonisten davon aus, dass sie die Zivilist*innen vor der Armee schützen müssten. Es offenbart sich, dass dies nicht so war. Die Armee wollte die Zivilisten schützen. In einer ekelerregenden Szene wird gezeigt, dass diese Zivilisten auch Opfer des weißen Phosphor wurden. Die Folgen der Gewalt werden noch expliziter gezeigt, als es bei den Soldaten der Fall war.
Die Situation ist abstoßend und für die Zeit auch in seiner Darstellung ungewöhnlich für ein Videospiel. Aber: Sie zeigt auch die Schwäche der Narration. Damit ist nicht gemeint, dass sie Selbstzweck wäre. Die Gewalt dient der Geschichte, die letztlich zumindest versucht einen Antigewaltstandpunkt einzunehmen. Allerdings ist die Zwischensequenz, so beklemmend sie auch ist, ein Film, also nicht Teil des aktiven Gameplays. Sie findet in einem anderen Medium statt und ist nicht interaktiv.
Die Interaktivität ist im ganzen Ablauf sehr beschränkt. Ein Problem dieser Szene wird durch einen Dialog direkt vor Einsatz des weißen Phosphors veranschaulicht. Als Walker beschließt, das weiße Phosphor zu nutzen, protestiert Lugo dagegen und folgender Dialog entspinnt sich.
Lugo: “You’ve seen what the shit does.”
Adams: “We have no choice.”
Lugo: “There is always a choice.”
Adams: “No there is really not.”
And there is really not. Auch wenn es während der Entwicklung des Spiels ursprünglich geplant war – es gibt keine andere Möglichkeit in der Handlung fortzufahren, als das weiße Phosphor zu nutzen und die Gruppe der Zivilisten zu töten. Die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, ist das Spiel abzubrechen. Die Narration erlaubt keinen Umweg, keine Entscheidung. Spieler*innen können dem Skript folgen oder das Spiel beenden. Spieler*innen werden also in gewisser Weise zu Schauspieler*innen. Ihr Handlungsspielraum lässt nur offen, wo genau das weiße Phosphor einschlägt.
Ein weiteres Problem ist die ludonarrative Dissonanz des Spiels, die nirgendwo in der Handlung so stark zur Geltung kommt wie hier. Ludonarrative Dissonanz meint einen Bruch zwischen der Geschichte und dem Gameplay. Als Storybegründung für den Einsatz wird die große Armee herangezogen, die anders nicht zu besiegen ist. Das beißt sich allerdings mit dem bisherigen Spielinhalt, in dem die Protagonisten schon unzählige gegnerische Soldaten erschossen haben. Warum sollte ausgerechnet hier nicht mehr möglich sein, die Gegner mit dem Einsatz von Pistolen und Sturmgewehren zu überwinden? Warum muss es gerade hier weißer Phosphor sein? Zwischen der Story “Wir haben keine andere Wahl als weißes Phosphor” und dem Gameplay “Ich habe mich bereits durch ein Armee geschossen” klafft ein Spalt, der die Wirkung der Szene mildert.
Schuld, ist wie bereits mehrfach betont, subjektiv und entsprechend wird es fast garantiert Spieler*innen geben, die sich durch diesen Abschnitt schuldig gefühlt haben. Aber kann Schuld hier provoziert sein, wenn letztendlich nicht die Spieler*innen verantwortlich für den Verlauf sind, sondern die Autor*innen und letztendlich aus einer spielerischen Sicht dieser Storybeat nicht komplett nachvollziehbar ist? Die Szene funktioniert eher wie ein Film. Die Interaktionsmöglichkeit ist beschränkt und würde kaum verlieren, wenn sie gar nicht gegeben wäre. Dies wird auch durch das Ende der Szene deutlich. Sie endet in einer Zwischensequenz, in der die Protagonisten sich ihrer eigenen Schuld bewusst werden. Aber es sind eben nur sie, nicht die Spieler*innen, die Schuld tragen.
Im Beispiel Spec Ops zeigt sich ein Spannungsfeld zwischen zwei Formen von Autor*innenschaft. Auf der einen Seite die Autor*innen des Spiels, die den Rahmen vorgeben müssen, auf der anderen Seite die gefühlte Autor*innenschaft der Spieler*innen. Für Schuldgefühle müssen Spieler*innen sich selbst als Autor*innen im Sinne einer Handlungsentscheidung fühlen, selbst wenn diese Autor*innenschaft nur auf die Auswahl einer durch die wirklichen Autor*innen vorgegeben Pfade beschränkt ist. Dies funktioniert am besten, wenn nicht direkt offensichtlich ist, dass es sich um vorgegebene Pfade handelt.
Auch hierfür bietet Spec Ops ein Beispiel, dass ein Scheitern dieses Versuchs aufzeigt. Kurz vor Ende der Handlungen finden sich zwei der Protagonisten in einer aufgebrachten Menschenmenge wieder, die den dritten Protagonisten erhängt hat. Sie schmeißen mit Steinen nach ihnen, die jeweils Lebenspunkte abziehen. Spieler*innen müssen also agieren, wenn sie nicht sterben wollen. Es gibt zwei Möglichkeiten mit dieser Situation umzugehen. Entweder die Protagonisten eröffnen das Feuer auf die Menge, oder aber sie schießen in die Luft. Beide Handlungen sorgen dafür, dass die Menge sich auflöst. Beide Handlungen haben keine andere Konsequenzen.
Auch diese Situation erfüllt den Zweck allerdings nur bedingt. Zum einen war Erschießen bis zu diesem Zeitpunkt die einzige wirkliche Spieloption. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass ein in die Luft schießen ausreicht um die Situation zu lösen. Wieso sollten sich Spieler*innen schuldig fühlen, wenn sie weiterhin glauben müssen, nur dem Skript zu folgen? Zum anderen erscheint die Entscheidung viel zu spät im Spiel. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits eine drei-, wenn nicht sogar vierstellige Anzahl an Toten im Spiel. Warum sollte ausgerechnet jetzt, in einer aggressiven Masse, Spieler*innen Schuld empfinden, wenn sie virtuell Menschen töten?
Es muss also, selbst wenn die Entscheidung nicht als Entscheidung ins Gesicht springt, doch deutlich werden, dass es Entscheidungen geben kann, verschiedene Lösungswege, die verschiedene Folgen haben. Das betrifft allerdings die Grundstruktur des Spiels. Einzelne Szenen reichen hier nicht aus. Wenn ein Spiel nicht dafür sorgt, dass die Spieler*innen sich als Mitautor*innen fühlen, ist der Effekt gering, wenn es dann doch einmal eine gefühlte Autor*innenschaft zulässt.
Der deutsche Undergroundautor, Übersetzer und Literaturagent Carl Weissner (1940–2012) war kein guter Schriftsteller. Das liegt nicht zuletzt an seinem Anspruch an das eigene literarische Schreiben: „Eigentlich will ich einen permanenten Overload erzeugen, so dass man dauernd angespannt ist und denkt, jeden Augenblick fliegt die Sicherung raus.“ Man merkt Carl Weissners literarischen Texten diese Haltung an. Insbesondere die kurzen Erzählungen der 70er Jahre zeugen in erster Linie vom sprachlichen und inhaltlichen Übermut des Autors, dem alles andere aufgeopfert wird. Die Hauptsache ist, dass es knallt. Da wird „eine Bombe von einem Joint“ geschwenkt, jemand ist „schwul wie die Nacht“, ein anderer „kotzt ins Goldfischglas“ und das allein auf wenigen Seiten.
Hätte Weissner, der heute 80 Jahre alt geworden wäre, nur die wenigen experimentellen Arbeiten mit der Cut-up-Methode aus den späten 60ern (vor allem in Zeitschriften, die fast nur noch in Archiven zu finden sind), ein paar Short Stories in den 70ern und gegen Ende seines Lebens noch drei Bücher bei kleinen Verlagen veröffentlicht, er wäre vermutlich nicht mal eine Fußnote in der deutschen Literatur nach 1945 geblieben. Sein schmales Werk ist von einem literarischen Standpunkt her kaum beeindruckend, auch wenn er als Mitherausgeber im Vorwort der Zeitschrift Gasolin 23 (alle Ausgaben) das eigene Literaturverständnis zum non plus ultra erklärte. Es ist ein häufiges Missverständnis, dass diejenigen, die am lautesten verkünden, die Literatur revolutionieren und von den Fesseln der Konvention befreien zu wollen, auch tatsächlich gute Literat*innen sind. Nicht selten sind es schlicht der Furor, mit dem altes über Bord geworfen wird, die sprachliche und thematische Provokation und die demonstrative Erneuerung, die dafür sorgen, dass Rebell*innen im Literaturbetrieb und dem Feuilleton Aufmerksamkeit bekommen und auch noch Jahrzehnte später bekannte Namen sind. Das ist per se auch nicht verwerflich, der literarische (und literaturhistorische) Mehrwert eines Werkes bemisst sich nicht grundsätzlich an den Wertungsmaßstäben, die Kritiker*innen anlegen. Doch vermutlich hätte bei Carl Weissner nicht einmal der laute Widerstand gegen den Literaturbetrieb ausgereicht, um ihm Nachruhm zu sichern.
Dass er dennoch einen festen Platz in einem bestimmten Bereich des literarischen Feldes in den letzten fünfzig Jahren einnimmt, hat zwei Ursachen: Erstens hat er einen Teil des amerikanischen literarischen Undergrounds und der Beatliteratur als Herausgeber und Mitarbeiter mehrerer Zeitschriften in Deutschland und den USA (Klactoveedsesteen 1965–1967, San Francisco Earthquake 1967/68, UFO 1971/72 und Gasolin 23 1973–1978) publiziert und als erster in einer adäquaten Form übersetzt. Dabei brachte er unter anderem große Teile des Werks von William S. Burroughs ins Deutsche und machte quasi im Alleingang Charles Bukowski in Deutschland bekannt. Zweitens war Weissner vermutlich derjenige im deutschen Literaturbetrieb, dem die amerikanischen Größen der Beat- und Undergroundliteratur am meisten Respekt zollten und den sie am ehesten als einen von ihnen anerkannten. Deswegen umwehte sein Auftreten immer die Aura eines lässigen Amerikaners – ein Umstand, der ihm vermutlich selbst bewusst war und von ihm unterstützt und am Leben erhalten wurde. Weissner inszenierte sich in seinen Texten als Kenner der amerikanischen Szene, als Insider und authentischer Berichterstatter. Unser Mann im amerikanischen Underground sozusagen. Jetzt ist anlässlich seines 80. Geburtstags der Band Aufzeichnungen über Außenseiter mit gesammelten Reportagen und Essays erschienen, die genau das bezeugen wollen. Bereits der erste Satz im ersten Text der Anthologie, Buk Sings His Ass Off, mit dem Weissner Charles Bukowski dem deutschen Lesepublikum 1970 vorstellte, rückt nicht nur den amerikanischen Schriftsteller, sondern allen voran auch Weissner selbst ins Blickfeld:
Ich hatte mit Bukowski schon einige Jahre Kontakt, ich kannte ihn aus unzähligen Briefen, aus seinen Büchern, aus seinen Manuskripten die er mir für Klacto/23 schickte, und als ich ihn im Sommer 1968 zum ersten Mal in Los Angeles besuchte, hatte ich auch die „Bukowski-Legende“ kennengelernt.
Bevor Weissner überhaupt näher auf das eigentliche Thema seines Textes eingeht, erfahren die Leser*innen erst einmal, wie gut er Bukowski kennt; so gut nämlich, dass er Briefe und Manuskripte von ihm bekommt und ihn besucht hat. Auch in Weissners Vorwort zu Bukowskis Gedichtband Gedichte, die einer schrieb bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang steht nicht nur der Dichter, sondern auch sein Übersetzer selbst im Zentrum des Interesses. Im Ton einer Kurzgeschichte erzählt Weissner darin von seiner ersten Begegnung mit Bukowski.
Weissners Essays und Reportagen sind ebenso wie seine kurzen Erzählungen, die oft eher wie faktuale Erlebnisberichte wirken, immer auch demonstrierte Augenzeugenschaft. In seinen Notizen aus anderthalb Jahren in den USA, die sich ebenfalls in der Anthologie finden, stößt man auf große Teile der amerikanischen Gegenkultur der 60er Jahre: Weissner besucht spontan Allen Ginsberg, der in der Nachbarschaft wohnt, schaut auf einer Lesung von Diane Di Prima im Greenwich Village vorbei und geht bei den Dichter*innen auf der Lower East Side von Manhattan ein und aus. In Last Exit to Mannheim aus der ersten Ausgabe von Gasolin 23 geht der Ich-Erzähler, der unverkennbar Weissner selbst ist, mit dem Beat-Verleger Lawrence Ferlinghetti auf eine Party, auf der unter anderem Janis Joplin und Linda Kasabian, ein Mitglied der Manson Family, anwesend sind und fährt dann noch mit Bukowski zu Ferlinghettis Haus, der neben der Band Canned Heat wohnt. In Die Eingeschlossenen von der Lower East Side lebt er mit dem Beat-Dichter Ray Bremser zusammen und in einem Interview mit einer amerikanischen Zeitschrift sagt Weissner über diese Zeit: „I was living in the neighborhood, on the Lower East Side, East 6th and Avenue C, and my roaches were the same as theirs.“[1]
Aus all dem spricht immer auch ein gewisser Stolz darüber, dass viele seiner amerikanischen Vorbilder für ihn zu guten Bekannten und Freund*innen wurden. Ein Grund dafür ist vermutlich, dass Weissner das Stereotyp der amerikanischen Lockerheit mit dem der deutschen Gründlichkeit und Ordnung verband. In seinem Nachlass finden sich ordentlich geführte Notiz- und Adressbücher, unzählige offizielle Korrespondenzen mit deutschen Verlagen, in denen er Angelegenheiten seiner amerikanischen Freund*innen vertrat, detaillierte Übersetzungsmanuskripte mit Anmerkungen und Unterlagen aus fast fünfzig Jahren als Literaturagent, Übersetzer und Herausgeber. Wie sehr diese Akribie und Gründlichkeit auf der anderen Seite des Atlantik geschätzt wurde, davon zeugen etliche Briefe: Jack Kerouacs Tochter Jan bittet ihn um Hilfe, Ray Bremser gibt ihm uneingeschränktes Veröffentlichungsrecht, Allen Ginsberg besteht teilweise allein auf ihn als Übersetzer und Charles Bukowski bittet ihn um Hilfe bei der Steuererklärung und ist prinzipiell davon überzeugt, dass er ohne Weissner nicht überleben würde: „Without Carl I would be dead or near dead or mad or near mad, or driveling into a slop pail somewhere, mouthing gibberish.“[2]
Diese Aussage von Bukowski klingt vielleicht übertrieben, aber man darf nicht unterschätzen, wie viel Weissner für den amerikanischen Dichter nicht nur als enger Freund, sondern auch als Agent in beinahe ganz Europa und Südamerika und vor allem als Übersetzer ins Deutsche getan hat. Bei Weissners Übersetzungsarbeit für Bukowski etwa handelte es sich um ein annähernd symbiotisches Verhältnis zwischen den beiden. Während Weissner durch seine Übersetzungen einen deutschen Bukowski erfand und dem Amerikaner damit in Deutschland größeren Erfolg bescherte als in den USA, sorgte Bukowski mit seinem Werk dafür, dass sich Weissner einen Platz in der Literaturgeschichte sichern konnte. Entscheidend für die Popularität Bukowskis in Deutschland war nicht zuletzt der Umstand, dass Weissner alle Fäden in der Hand hielt und Bukowski ihm gleichzeitig auch freie Hand im Umgang mit seinen Texten ließ. Das führte dazu, dass Weissner eine deutsche Version des Werkes von Bukowski nach eigenen Vorstellungen schaffen konnte, die sich nicht immer ganz mit dem Original deckte, die aber in Deutschland einen außerordentlichen Erfolg hatte und immer noch hat.
Der Duktus der deutschen Übersetzungen durch Weissner erinnert gerade in den frühen Jahren manchmal an das sogenannte Schnodderdeutsch der Synchrondrehbücher von Actionkomödien mit dem Schauspieler-Duo Bud Spencer und Terence Hill, wobei Weissners Bukowski oft wie Terence Hill klingt: „Die Uhr funktionierte noch, der alte Wecker, Gott sei’s gescheppert,“ heißt es da in Weissners Übersetzung, während bei Bukowski lediglich steht „the clock was working, the old alarm clock, god bless it“. Ein anderes Mal fürchtet Bukowskis Erzähler „demands on the soul or anything like that“ von seiner Freundin; statt „Anforderungen an das Seelenleben“ hat er bei Weissner aber Angst vor „Fisimatenten von wegen Seele und so.“
Es sind diese Veränderungen im Tonfall einer fingierten Mündlichkeit, die aus einer lakonischen Erzählstimme einen schnoddrigen Jargon machen, der in den extremsten Fällen den Charakter des Originals eklatant verändert. Charles Bukowskis Erzählerfiguren sind oftmals lakonische, manchmal vulgäre Männer, die angesichts eines Lebens am Rande der Gesellschaft resignieren. Nach einem langen und harten Arbeitstag äußert einer von ihnen: „I got out of what remained of the suit and decided that I’d have to move again.“ Weissner macht aus dieser Resignation angesichts der Lebensumstände eine scheinbar sorglos übermütige Rastlosigkeit: „Ich pellte mich aus dem, was von der Klamotte noch übrig war, und beschloß, daß ich mal wieder die Tapete wechseln musste.“ Doch nicht nur der Tonfall der Erzählstimme verändert sich, sondern auch die Haltung. Nicht, dass Charles Bukowski als feministischer Autor bekannt wäre, eher im Gegenteil, aber aus „some beautiful woman“ auf Deutsch „ein elegantes Flittchen“ zu machen, verstärkt den Sexsimus noch einmal deutlich.
Angesichts dieser Beispiele kann man von einem deutschen Bukowski sprechen. Interessant ist aber, dass viele andere Übersetzungen durch Carl Weissner, beispielsweise von William S. Burroughs‘ Naked Lunch oder Allen Ginsbergs Howl tatsächlich sehr gute Übertragungen sind, die einen deutschen Soziolekt als Äquivalent für die amerikanische Szenesprache des Originals aufweisen und die Wirkung dieser Texte besser in einen anderen Sprach- und Kulturraum versetzen als es andere Übersetzer*innen geschafft haben.
Warum also bei Bukowski dieser überzogen lässige Jargon? Es bleibt Vermutung, aber vieles deutet darauf hin, dass Weissner Bukowski zu nahe war, um ihn ebenso professionell übersetzen zu können, wie er das bei Burroughs und Ginsberg tat. Auch diese beiden kannte Weissner gut, aber das Verhältnis zu Charles Bukowski überragte die unzähligen anderen Freundschaften, die Weissner in die USA pflegte. Die Korrespondenz zwischen den beiden umspannte beinahe drei Jahrzehnte und dutzende Briefe pro Jahr. Die Zuneigung und emotionale Nähe, die darin zum Ausdruck kommen, zeugen von einer engen Verbundenheit, die weit über das professionelle Verhältnis zwischen Übersetzer/Agent und Autor hinausgeht. In Das Ende des Suicide Kid, dem vielleicht besten und sicher persönlichsten Text in Aufzeichnungen über Außenseiter, beschreibt Weissner die Beerdigung Charles Bukowskis, auf der er 1994 selbst einer der Sargträger und Redner war. In diesem und anderen Texten über seinen Freund zeigt sich, wie sehr er Bukowski als Mensch und als Schriftsteller verehrte. Seine Übersetzungen können als Versuch angesehen werden, diesem übermächtigen Autor und Freund gerecht zu werden, einen Ton zu finden, der das transportieren sollte, was Weissner in Bukowski sah: Einen Mann,
der weiß, daß er auf der Kippe steht: jeder Satz kann sein letzter sein, aber der Ton bleibt cool, gelassen, konzentriert; beinahe ereignislose Stories, die mancher nicht für berichtenswert halten würde; entnervende Stories, die mancher andere lieber verdrängen würde […]: alltägliche Stories vom Leben in einer Stadt, die er einmal „die größte bewohnte Ruinenlandschaft der Welt“ genannt hat.
Während sich dieser coole Ton bei Bukowskis aber in Lakonie und Reduktion ausdrückt, wird er bei Weissner zum schnoddrigen Plaudern. Die Lässigkeit, die daraus entsteht, ist eine andere, eine demonstrative Nonchalance, wie man sie eben in den synchronisierten Rollen eines Terence Hill findet. Der amerikanische Charles Bukowski wirkt im Original eher wie die Figuren von Bud Spencer: wortkarg, sarkastisch und manchmal lakonisch.
Vom ökonomischen Standpunkt eines Literaturagenten hat Carl Weissner dann jedoch alles richtig gemacht. Die Romane, Gedichte und Erzählbände Bukowskis haben sich in den Übersetzungen von Weissner mehrere Millionen Mal verkauft. Dass Carl Weissner heute zu seinem 80. Geburtstag, acht Jahre nach seinem Tod, Ehrungen, eine Anthologie, diesen und andere Texte erhält, hängt mit diesen Übersetzungen und den zahllosen anderen zusammen. Ambros Waibel schrieb in einem Nachruf für Weissner, es sei einfacher zu fragen, wen aus der “US-Avantgarde” er nicht übersetzt und herausgegeben habe – die Übersetzungen reichen von J. G. Ballard bis Frank Zappa. Aber auch seine Vorzeigefunktion als Deutscher unter Amerikanern ist ein Grund für die anhaltende Bekanntheit und zeigt beispielhaft, dass Nachruhm im literarischen Feld nicht immer etwas mit schriftstellerischem Können zu tun hat. Carl Weissner, das war der Amerikanistikstudent in Heidelberg, der von Burroughs in der Heidelberger Altstadt besucht wurde, der für Literaturzeitschriften in den USA arbeitete, der Bukowski Briefe schrieb und mit ihm in seiner Mannheimer Wohnung trank, Weissner war der, den Ginsberg als seinen Übersetzer wollte, der mit Janis Joplin feierte und mit Sean Penn den Sarg von Bukowski trug. Die Texte in der Anthologie Aufzeichnungen über Außenseiter zeigen daher vor allem eines: Es gibt viele Gründe, warum Carl Weissner bekannt und interessant ist, sein literarisches Werk ist nur einer davon, vermutlich der geringste.
Übersetzungen:
[1]„Ich lebte in der gleichen Gegend auf der Lower East Side, Ecke East 6. und Avenue C, und meine Kakerlaken waren dieselben wie ihre.“
[2] „Ohne Carl wäre ich tot oder wenigstens fast; oder verrückt oder jedenfalls beinahe verrückt; oder ich würde in irgendeinem Abwassereimer rumsabbern und unverständliches Zeug labern.“
Ehrlich gesagt haben mich die Videoportraits beim Bachmannpreis schon immer mehr interessiert als die Lesungen. Vor allem, seit die Autorinnen und Autoren vor einigen Jahren angefangen haben, sich selbst zu filmen. Statt sich weiter dem Wettkampf zu stellen, wer das Fernsehformat der Vorstellungsfilmchen am unlädiertesten überlebt. Natürlich geht es auch bei den Selbstportraits nicht immer ohne Selbstsabotage zu. Zumal die Darstellung hier nicht in der eigenen Ausdrucksform erfolgt. Aber manchmal wirft so eine Performance auf ästhetischen Seitenpfaden ein interessantes Schlaglicht auf die Hauptkunst. Manchmal natürlich auch nicht. Aber wie dem auch sei. In jedem Fall ist es ein erhellendes Vergnügen, Nebensächlichkeiten wichtiger zu nehmen als die Hauptsache. Glotzen wir los!
Gleich die erste Autorin strapaziert unsere schnittgewohnten Flimmeraugen mit dem Minimalismus einer handlungsarmen Plansequenz. Ein Blick in einen Hinterhof. Lichtspiele auf einer Mauer. Links auf dem Tisch eine Orange. Rechts neben der Mitte ein leerer Aschenbecher. Wie lange sollen wir das aushalten, Laura Freudenthaler? Doch da, in Minute 00.25, passiert etwas. Es wird ein Glas Wasser hingestellt. Womöglich ein Hinweis auf die gleich folgende Wasserglaslesung? Zu hören ist dazu ein homöopathisch verdünntes Verkehrsströmen. Eigentlich mag ich so etwas ja. Aber Wasserglas, Aschenbecher, später noch ein Streichholz, da fehlt nur noch irgendein Schreibinstrument, um alle erwartbaren Requisiten beisammen zu haben. Vielleicht ist das wie mit den Adjektiven. Je weniger sie knistern, desto überflüssiger wirken sie. Auf ihren Text bin ich trotzdem sehr gespannt.
Klick, und weiter geht’s. Lydia Haiders Video lehrt uns die Unberechenbarkeit des Vergleichs. Denn während des knapp dreiminütigen Stroms an Lydiahaiderportraits, die auf einem bordeauxroten Pixelteppich schweben, meldet sich der ungeahnte Wunsch nach dem gesichterfreien Hinterhofminimalismus von Laura Freudenthaler. Eine Aufnahme springt heraus aus dieser Diaschau der coolen Posen mit Zigaretten oder Fackeln der Burschenschaft Hysteria. In Minute 01.20 sieht man die Autorin mit schwarzer Arbeitermütze neben einem professionell lächelnden Schlippsmännchen stehen, in den Händen eine Urkunde. Plötzlich ist der Punk wie weggeblasen. Schade eigentlich, wo ist er hin? Und wofür gab’s die Urkunde? Etwa für ihren Roman Kongregation, von dem ich schon soviel Gutes gehört habe? Niemand weiß es. Also schauen wir weiter.
Auftritt Hanna Herbst. Noch bevor das Video startet, ist schon eine Schreibmaschine zu sehen. Und daneben auch noch ein Bleistift. Etwa, damit wir nicht vergessen, dass Hanna Herbst eine Schriftstellerin ist? Klick. Hoffentlich sagt sie nicht gleich etwas Kluges über das Schreiben. Aber nein, sie singt! Wär ich doch nur eine Schriftstellerin, singt die Schriftstellerin, als wäre sie Funny van Dannen, die Republik läse mich auf dem Klo. Eigentlich gar nicht schlecht, so ein ironisches Selbstportrait. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, ich würde mehr über die Schriftstellerin Hanna Herbst erfahren, wenn es nicht darum ginge, dass sie Schriftstellerin ist. Aber vielleicht täusche ich mich auch.
Als Nächstes ragt kurz das Radission Blu in den Hamburger Himmel. Dann sehen wir eine Grünpflanze, die sich in einer leeren Lobby aus einem erbarmungslosen Blechtopf reckt und dabei heimlich die Hoffnung weckt, dass sich Leonhard Hieronymi vielleicht allein durch Bilder portraitieren wird. Menschenlose Hotelansichten, ohne etwas draufzutexten, wie wäre das? Doch schon in Minute 00.16 springt er eine Treppe herab und erklärt, dass er sich in letzter Zeit sehr für den Stunt interessiere. In der Folge sieht man ihn durch das ganze Hotel turnen. Mal macht er eine Aerobicübung auf dem Dach, mal kommt er Purzelbäume schlagend aus einem davidlynchartig dunklen Gang hervor, mal gibt er einem Glastisch, auf dem womöglich Viren wimmeln, ein lebensgefährliches Küsschen, dann macht er einen Handstand in weißer Hose und schwarzen Socken, was zumindest ein Modestunt ist. Nur was hat man sich unter den erwähnten Textstunts vorzustellen? Gar nicht leicht zu sagen. Eine Aneinanderreihung von Albernheiten vielleicht? Dem widerspricht allerdings die aus dem Hintergrund knarzende Rede von Gefahr, Mut und Verletzungen. Vielleicht Texte, die sich auf fahrenden Zügen boxen oder die mit Drachenfliegern in Schafherden landen. Dafür könnte man ihm auf jeden Fall einen Colt-Seavers-Preis verleihen, oder?
Lisa Krusche, die ein schwarzes Kleid trägt, sitzt in falloutgrünen Wastelands und erklärt, dass das Einzige, was sie mit Sicherheit sagen könne, sei, dass sie schreibe, weil sie es anders nicht aushalte. Na gut, kann ich verstehen. Wieso stört mich das meiste Schreibgerede eigentlich so schrecklich? Vielleicht, weil es oft so platt und penetrant und, huch, jetzt bricht Musik ins Bild, Midas Touch von Zaceri, und die Autorin, immer noch im Kleid, taucht sehr schnell durch einen sehr blauen Pool, spaziert durch leere Antonionilandschaften, tanzt im Nachthemd auf Betonmauern, liegt mit Hoodie und Hund auf vollgesprayten Tischtennisplatten und sagt nichts, nichts, gar nichts mehr. Umgehung aller Selbstportraitpeinlichkeiten qua Musikvideo. Na klar, eine leichte Lösung, aber sehr elegant ausgeführt.
Dass Meral Kureyshi nach dieser Popnummer mit der jugendschweren Frage „Wer ich bin?“ einsetzt – Respekt. „Deutsch ist meine Muttersprache, meine Mutter spricht kein Deutsch“, sagt sie, doch der Film zeigt nicht ihre Mutter oder Prizren im Süden des Kosovo, wo sie geboren ist, sondern abrupt hintereinander gesetzte Eindrücke, tanzende Kinder in der Küche, einen von Silvesterraketen golden zerplatzenden Nachthimmel, graugrüne, im Regen sich wiegende Baumwipfel. Diese Bilder müssen nicht wie Hündchen angeleint werden an den Text. Sie dürfen streunen. Wie Katzen, die die Berührung von alleine suchen. In Videos bin ich mir fremd, sagt sie und zeigt bloß einen Fuß. In der Folge sieht sie tanzen, vorlesen, lachen. Vor diesen gleichberechtigten Bildern werden sogar die Schriftstellerinnenworte (schreiben, Einsamkeit) erträglich, gelegentlich sogar schön: Manchmal beobachte ich so lange, bis ich glaube, unsichtbar zu sein, ich bewege mich nicht. Auch wenn sich Vergleiche an den Hals hängen können wie Mühlsteine, fühle ich mich von Ferne an das Erzählen aus Sans Soleil erinnert: If they don’t see happiness in the picture, unleast they’ll see the black. Und dann ist es schon wieder vorbei: Ich will nicht, dass die Zeit schnell vergeht, sagt sie zum Schluss. Ich auch nicht, rufe ich und will sofort eins ihrer Bücher lesen. Geht aber nicht, denn es gibt noch weitere Videos zu schauen.
Also los, Herr Leitner. Vorstellen soll ich mich, hören wir die Stimme des Autors heiser aus dem Off, sollten Sie das wirklich wünschen, dann hiermit wie folgt. Ausweisdokument sei sein Sozialstaatsroman, was aber nicht als Werbung zu verstehen sei. Nun, wenn er meint. Aber was sehen wir eigentlich? Den Wichtltreff, Egon Christian Leitners bärtiges Kinn, ermüdete Rosen, ermüdete Menschen, den schlafenden Autor, der noch dazu erklärt, er schlafe gern und gut. Da muss man aufpassen, dass man nicht selbst gleich einschläft. Zu Bildern von wippenden Gräsern erzählt der schlummernde Leitner jetzt einen vom Pferd, nein, Quatsch, Klee, vom Maler Paul Klee, den der Krieg innerlich nichts angegangen sei. Es ist vielleicht gar nicht so uninteressant, was er sagt, aber diese Mischung aus schlurfender Stimme und achselzuckend an die Worte gehängten Bildern, verdünnt allen Text über Aristoteles, Hühnereier und Menschenherzen zu einem bewusstseinsdrosselnden Rauschen. Als Ursinn den Tastsinn als Hauptsinn, höre ich ihn abschließend sagen. Ziemlich viel Sinn. Nur fehlt da nicht der Unsinn? Am Ende geht er die müde grüne Wiese hinab, und ich reibe meine Ohren wach für Jörg Piringer.
Beim ersten Bild muss ich mich leider am Stuhl festhalten, um nicht davonzurennen. Gezeigt wird nämlich ein weißer Buchstabenurknall auf einer weltallschwarzen Fläche. Aber das ist dem Autor zum Glück selbst zu viel, und er nimmt es wieder zurück. Im zweiten Anlauf zeigt er uns sein Portrait, zusammengesetzt aus unterschiedlich eingefärbten Buchstaben, seinen genetischen Code als Buchstabenkette, vom oberen Bildrand herunterrieselnde Buchstaben, zusammenbrechende Buchstabentürme. Wir lernen: Buchstaben sind sehr wichtig für diesen Schriftsteller. Und was noch? Der richtige Satz, gut durchgestrichen, verbessert die Welt, heißt es nun. Ein kleines Paradox, das den Zuschauer kurz aus dem Staunen über die graphische Kunstfertigkeit befreit. Denn gelingt nicht die Weltverbesserung im Gegenteil durch das Stehenlassen des richtigen Satzes? Oder gibt es vielleicht gar keine richtigen Sätze? Mensch, Herr Piringer, ich glaube, Sie haben recht! Wie schade, dass in der Folge wieder nur dienende Bilder zu sehen sind, Veranschaulichungen seiner Rede über Zeichen, Körper, Abstraktionen. Im O-Ton klingt das so: Ich strebe danach, Problemfelder im Kontinuum zwischen Text, Schrift, Laut, Form und Inhalt zu erschließen. Zitiert er da aus seiner Magisterarbeit?
Fast könnte man meinen, Jasmin Ramadan hätte meine Frage gehört. Sie lässt nämlich alles erklärende Off-Gerede weg und will uns, wie der kurz aufblitzende Titel lautet, Die Anatomie des Schreibens rein mit Bildern zeigen. Zunächst sieht man sie als erkennungsdienstlich behandelte Comicfigur, die das übliche Schildchen hochhält. Geburtsort und Geburtsjahr steht da, aber auch Verbrechen/Ermittlung wg.: Ü. Verweist der geheimnisvolle Umlaut womöglich auf einen Überfall? Doch statt Pistolenkugeln, die in Zeitlupe die Luft durchfauchen, zeigt sie uns einen von bunten Buchstaben umflirrten Kopf mit mechanisch auf einer Tastatur stochernden Forkenhänden. Die Eindrücke der Außenwelt werden in Form von Pfeilen, Kreisen und Punkten visualisiert, die von allen Seiten auf die Sinne einsausen. Einmal meldet sich das neben der Tastatur liegende Telefon. Sogleich verebbt die fröhlich fiedelnde Fahrstuhlmusik und ein bedrohlicher Klingelton erobert das Bild. Doch die Störung aus der Außenwelt, vielleicht war es die Polizei oder der Partner in crime, wird weggedrückt und weiter geht es mit der graphischen Reise ins Ich. Umrahmt wird das abstrakte Inspirationstheater vom Schneegestöber einer alten Fernsehkiste, das einmal eingangs und am Ende gleich mehrfach zu sehen ist. Leider, ohne dass sich daraus die schönen drei Buchstaben HBO erheben und eine neue Serie von David Simon ankündigen.
Apropos, kann ich schon Feierabend machen? Nein, kannst du nicht. Also weiter mit Matthias Senkel, dem ersten von dreien bei den 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur, der noch mutig oder mutlos auf das Fernsehformat vertraut. Früher hat den Wettbewerb ja immer auch die Frage begleitet, wer durch die professionelle Portraitierung am wenigsten lächerlich gemacht wird. Doch Senkel hat sich nicht etwa in ein Aquarium locken lassen, um sich dort etwas zur Ähnlichkeit von Fischen und Schreiben aus der Nase ziehen zu lassen, er sitzt auch nicht mit kompliziert zerknitterter Stirn vor der hauseigenen Bücherwand, stattdessen lässt er sich zeichnen. Stephanie Dost, die bei Neo Rauch studiert hat, zeichnet mit Kohle und Bleistift einen relativ wiedererkennbaren Senkelkopf. Verglichen mit anderen Bildern von ihr, die auf ihrer Homepage zu sehen sind, wirkt das Autorenportrait ein bisschen, sagen wir, technisch. Aber noch etwas anderes: Wer hat eigentlich gesagt, dass Portraits ähnlich sein müssen? Lewis Trondheim, an den ich gerade denken muss, weil, ach, weil gern mal wieder Approximate Continuum Comics lesen würde, stellt sich ja oft als dickschnabligen Vogel mit Anspruchslosigkeitsneurose dar. Übrigens, über Matthias Senkel erfahren wir in dem Portraitfilm, in dem er sich portraitieren lässt, fast nichts. Was im Grunde ja wunderbar ist.
Um Zeit zu sparen, schaue ich das nächste Video, das gleichfalls nicht von der Autorin selbst gestaltet wurde, unterwegs auf dem Handy. Der Einstieg, ein schläfriges Entenpärchen am Ufer, wirkt gleich sehr fernsehformatig. Jetzt kommt Katja Schönherr über den Steg. Der See bedeutet ihr, sagt sie, doch da hupt es neben mir. Ich verstehe gar nichts mehr und konzentriere mich auf das Bild. Der Zürichsee schimmert wirklich betörend. Wenn das überhaupt der Zürichsee ist. Anschließend wird eine besprühte Industrieruine gezeigt. An einem Stahlträger stehen die Worte Uwe und Atmo. Einsamkeit innerhalb von Zweisamkeiten, ist die Autorin wieder zu hören, weil man doch so selten einen Seelenverwandten tritt. Hat sie wirklich tritt gesagt? Mein Gott, ist das laut hier. Noch mal zurück. Ach so, nein, trifft, natürlich hat sie trifft gesagt. Schade eigentlich. Im Bild sind zwei gemeinsam einsame Enten zu sehen. Die Entendame schmachtet den Bürzel des Enterichs an, der maulfaul den Schnabel ins Gefieder schiebt. Vermutlich ein Fall von fortgeschrittener Uwe-Atmo. Die Autorin, der es wichtig ist, zu zeigen, dass am Ende jeder mit sich alleine kämpft, setzt einen Plastik-Orang-Utan an den See, und ich starte, obwohl mich bereits eine affenartige Müdigkeit beschleicht, das nächste Video.
Film ab für das dritte Fernsehformat: Helga Schubert kommt aus ihrem Haus und erklärt, dass sie die geschätzten Zuschauer mit ihrem Alter überraschen werde. Weil sie doch schon Achtzig ist. Was danach kommt, ist aber viel interessanter. Wie Matthias Senkel ist Helga Schubert Wiederholungstäterin. Anders als der junge Mann jedoch konnte die aus der DDR stammende Autorin beim ersten Mal 1980 nicht teilnehmen, da ihr Ausreiseantrag abgewiesen wurde. Während sie das erzählt, wechselt das Bild in die subjektive Kamera. Was damit gesagt werden soll, ist mir nicht ganz klar, aber das von Lichttupfern blinkende Grün, in dem ihr Blick hin und herschweift, wirkt, als hätte Martin Šulík hier Der Garten gedreht. Ich kann da einfach mitmachen, sagt Helga Schubert jetzt, und das ist wirklich für mich, zumal alle, die mir das verboten haben, schon tot sind, ein kleiner Sieg über die Diktatur. Von mir aus kann sie den Bachmannpreis sehr gerne gewinnen.
Schaffen wir noch eins? Oder ist Schluss? Na gut, ein letztes. Es beginnt mit einer Kamerafahrt durch Bäume hindurch. Man fragt sich: Wohin geht die Reise? Was für ein Geheimnis birgt dieser funkelnde Wald? Doch dann müssen wir sehen, wie Carolina Schutti auf einer braunen Bank sitzt und zu elegischen Trompetentönen auf ihrem Laptop herumtippt. Im nächsten Bild sitzt sie auf einer grünen Bank und schreibt schon wieder, diesmal auf Papier. Nach einer weiteren Kamerafahrt sitzt sie auf einer dritten Bank und schreibt immer noch. Da fällt mir wieder dieses schöne Bild von Shostakovich ein, das ich leider nicht mehr finden kann. Er sitzt auch auf einer Bank. Er hat die Ellenbogen über die Lehne geschoben und lächelnd ein Bein über das andere gelegt. Shostakovich beim Komponieren der fünften Sinfonie, lautete die Unterzeile. Warum hat mir dieses Bild nur so gut gefallen? Vielleicht, weil es zeigt, dass man nicht nur beim Schreiben schreibt? Sondern auch beim Sitzen und Lächeln auf Bänken? In einer Haltung, die keine Arbeitshaltung ist? Muss ich noch mal drüber nachdenken. Meinen Sie nicht, dass jetzt genug ist?, so lautet die Frage, die wir die Autorin zum Schluss notieren sehen. Nun, besser spät als nie. Und da ist das Video auch schon vorbei und ich kann endlich den Computer zuklappen.
Nein, verflixt, eins fehlt noch. Auch der letzte Beitrag beginnt mit der Kamerafahrt durch einen Wald. Allerdings scheinen wir uns nun im Süden zu befinden. Der swimmingpoolfarbene Himmel, das sizilianische Licht und die knorrige Pflanzenwelt, alles deutet darauf hin. Der Autor selbst bleibt unsichtbar. Wir hören das Knirschen seiner Schritte im Kies. Er geht einen dürren Pfad hinab, über verfallene Steintreppen, bis schließlich neben einer Feuerstelle – eine Bank auftaucht, nein, sogar zwei! Setzt sich etwa auch Levin Westermann gleich hin und führt uns vor, wie er – schreibt? Nein, er zeigt den verlockenden Bänken die kalte Schulter und geht vorbei. Dann, genau nach der Hälfte, beginnt der Film rückwärts zu laufen. Wo immer der Weg hingeführt haben mochte, das Ziel wird nicht erreicht. Oder nicht verraten. Die Idee ist einfach, aber der Effekt charmant. Vor allem das Geräusch der rückwärts schlürfenden Schritte schmiegt sich schön in die Ohren. Zum Schluss ist abrupt ein in einen Stamm geschnitzter Waldschrat zu sehen. Das gibt Abzug in der B-Note. Welcher B-Note? Ach, was weiß ich. Jetzt ist wirklich Feierabend.
Und wer hat gewonnen? Oder muss überhaupt niemand gewinnen? Vielleicht sind ja Siege und Niederlagen gar nicht das richtige Maß für die Güte von Portraits von Literatinnen und Literaten. Oder überhaupt von Literatur? Vielleicht wäre der Bachmannpreis viel schöner, wenn nur gelesen und diskutiert würde, aber niemand gekürt. Andererseits, ganz ohne geht’s halt auch wieder nicht. Also machen wir es kurz, the Gewinnerin is: Meral Kureyshi! Aber, Überraschung, Lisa Krusche auch! Fünfundzwanzigtausend Euro, das muss ich noch schnell sagen, habe ich leider nicht. Aber ich lade euch gern mal auf ein kompliziertes Triumphgetränk ein.
Martin Lechner ist Autor. 2014 erschien sein Debütroman Kleine Kassa zu dem es hier ein Video gibt, an dem man sich schadlos halten kann.
Ende des Jahres 2006 berichtete der Spiegel unter dem TitelDas Ich-ich-ich-Magazin über eine ungewöhnlich umfangreiche (fast 400 Seiten) Sonderausgabe des Magazins Tempo, das es zu diesem Zeitpunkt seit bereits zehn Jahren nicht mehr gab. Auf dem Cover dieser Sonderausgabe prangte ein Porträt von Kate Moss, auf dem sie mit laszivem Blick über die nackte Schulter in die Kamera schaut, eine Zigarette hängt zwischen den Lippen. Die langen Haare sind zerzaust. Der Titel kündigt an: “Endlich! Die Wahrheit”. Ich erinnere mich sehr genau an dieses Cover, zudem an eine kontrastreiche Fotostrecke von einem oberkörperfreien Lukas Podolski; außerdem an ein Bild, das über hunderttausend Zigaretten zeigte, die Helmut Schmidt in den letzten Jahren geraucht haben soll, und an eine aufsehenerregende Aktion, die zahlreiche Prominente hinters Licht führte.
Mit 17 Jahren fand ich das damals alles sehr spannend, es entsprach mehr oder weniger dem, was mich interessierte. Keine Ahnung hatte ich allerdings davon, dass es sich bei dem Heft um eine verspätete Sonderausgabe einer der legendärsten Zeitschriften der vergangenen Jahrzehnte handelte: Tempo, das Magazin, das von 1986 an für zehn Jahre den Zeitgeist der Bundesrepublik journalistisch nicht nur prägen, sondern bestimmen wollte. Es war das Magazin, bei dem nicht wenige heute bekannte Medienmacher*innen ihre Karriere begannen und bei dem Autor*innen, die heute für einen Teil der Gegenwartsliteratur prägend sind, ihre ersten Schritte machten: Christian Kracht, Sibylle Berg, Moritz von Uslar, Eckhart Nickel, Maxim Biller und Tom Kummer.
Die inhaltliche und stilistische Schlagrichtung des selbsterklärten Zeitgeist-Magazins Tempo lässt sich gut in den Worten des damals 27 Jahre alten ersten Chefredakteurs Markus Peichl erklären, der 1985 die Notwendigkeit einer Publikation wie Tempozu begründen versuchte:
Weil der Wiener so schön war, aber nicht schön genug, Weil der Spiegel beeindruckend viel Gehirn hat, aber beängstigend wenig Gefühl. Weil der Stern mal toll war, es aber anscheinend nicht mehr sein will. Weil Cosmopolitan viel Sex hat, aber nicht genug Erotik.
Damit ist auch die Ausrichtung des Magazins grob benannt. Die Menschen, die diese Zeitschrift vorwiegend machten, und diejenigen, die sie lasen, dürften ungefähr der gleichen sozialen Gruppe angehört haben: junge Männer, meist ledig, mit gutem Schulabschluss und überdurchschnittlichem Einkommen, urban und viel auf Reisen, politisch eher nicht engagiert und vor allem auf den eigenen materiellen und sozialen Erfolg bedacht. Ihre Interessen lassen sich zusammenfassen mit: „private Zufriedenheit, beruflichen Erfolg, Freizeit, Fitness, soziales Umfeld und Konsum.“
So umreißt Kristin Steenbock die Tempo-Redaktion und ihr Publikum in ihrem Buch Zeitgeistjournalismus, das sich der Vorgeschichte deutscher Popliteratur widmet und insbesondere das Magazin Tempo, seine Leser*innenschaft und seinen Anspruch, eine Generation abzubilden, näher betrachtet. Das entscheidende Attribut lautet dabei postheroisch. Während der Popkultur der 60er/70er Jahre ein heroischer Selbstanspruch im Sinne eines Widerstands attestiert werden kann, zeichneten sich Tempo und die Popliteratur der 90er Jahre durch eine postheroische Haltung aus, die durch einen zunehmenden Bedeutungsverlust von Subkulturen und eine Verbindung von Popkultur und Konsum entstanden war. Dabei kam es zu einer „Lösung des Popdiskurses vom linksalternativen Deutungsmonopol“ und zu einer Ablehnung des linken ebenso wie des konservativen Kulturverständnisses. Daraus entstand ein Generationsgefühl, das nicht mehr durch das gemeinsame Erleben politischer Ereignisse erzeugt wurde, sondern durch kollektive Konsum- und Freizeiterfahrungen. Anhand der Kategorien Generation, Gender, Nation und Konsum zeigt Steenbock auf, wie Tempo durch Stil, Themensetzung und Darstellungsweise vor allem in Bezug zu den vier Bereichen einen Zeitgeist affirmierte und gleichzeitig erzeugte.
Nähert man sich diesem Zeitgeist über diese vier Kategorien, dringt man in ein Umfeld vor, das aus der Perspektive aktueller Diskurse anmutet wie der dunstig unangenehme Locker Room des Journalismus. Hier findet auch Steenbock das Kernproblem des verallgemeinernden Begriffs Zeitgeist mit Blick auf Magazine wie Tempo, die zwar für sich in Anspruch nehmen, die Grundhaltung einer Generation zu repräsentieren, und dabei auch vorgeben, wie man zu leben habe, aber eben in Wahrheit nur einen kleinen Teil dieser Generation repräsentieren können und vor allem auch wollen. Die Autorin stellt fest: „[D]as Zeitgeistkonzept dient dazu, kulturelle Ausdrucksweisen eines Teils der westdeutschen Jugend als generationsspezifisch zu inszenieren.“
Dass die grundlegende Haltung, die durch Tempo vermittelt wurde, in der zweite Hälfte der 80er Jahre eben nicht repräsentativ für die Generation der damals 20- bis 40-jährigen war, machte 1989 Willi Winkler in derZeit deutlich, der selbst nach Alter und Bildungsstand genau das Umfeld vertrat, über das Tempo eine Deutungshoheit beanspruchte:
Nichts kann so kompliziert sein, als daß es sich nicht im feinen Layout abbilden ließe, nichts zu kostbar, als daß man es nicht sofort zum letzten Schrei ausrufen konnte. Tempozeigt, wie lustig es ist, jung und dumm zu sein.
Winklers Kritik ist nicht zuletzt auch eine Abgrenzung von dem Generationsgefühl, das Tempo konstruieren wollte. Und das ist durchaus verständlich. Was nämlich angesichts der Kategorien Generation, Gender, Nation und Konsum sehr schnell deutlich wird, sind die Sicherheit und das unerschütterliche Selbstverständnis als Diskursbeherrscher, mit denen eine Gruppe junger Redakteur*innen hier eine äußerst privilegierte Lebensweise bewusst in Textform und Ästhetik gegossen hatte. Dabei steht eine perspektivische Norm im Mittelpunkt, die davon ausgeht, dass der Leser, der die Generation repräsentieren soll, männlich, heterosexuell, normschön und von der eigenen Intelligenz überzeugt ist. Das Andere, das die Ausnahme bilden soll, offenbart sich in den Titelzeilen, die auch Steenbock zitiert: „»Leben Schwule besser?« (August 1994), »Ficken Dumme besser?« (Juli 1986), »Warum Mädchen schlauer sind« (Juni 1995), »Dicke sind schärfer« (Oktober 1986).“ Was eine wissenschaftliche Arbeit nicht so deutlich sagen kann, lässt sich in Steenbocks Buch zwischen den Zeilen lesen: In diesen Formulierungen drücken sich nicht einfach eine andere Zeit und Gesellschaft aus, sondern vor allem ein grundsätzliches Überlegenheitsgefühl des weißen, gut situierten, heterosexuellen Mannes. Die meisten anderen Perspektiven werden vernachlässigt. Noch 2006 stellte Reinhard Mohr angesichts der Jubiläumsausgabe im Spiegel fest, das Team aus 63 Personen (davon 8 Frauen) hinter der Sondernummer wirke wie ein „einziger großer Männnerfreundeskreis.“ Es verwundert daher auch wenig, dass man über Journalismuskreise hinaus außer Sibylle Berg kaum eine Autorin des Magazins heute noch beim Namen kennt.
Kein Bock auf Konsequenzen
Diese Sicherheit über die eigene Diskursmacht lässt sich an die postheroische Haltung, die Steenbock in diesem Generationsverständnis ausmacht, zurückbinden. Der entscheidende Faktor dieser Haltung ist vor allem eine grundlegende Abkehr von allem, was sich die 68er-Bewegung auf die Fahnen geschrieben hatte. Das Resultat dieser Entwicklung zeigte sich schließlich in Florian Illies’ Generation Golf, seinem retrospektiven Manifest der 80er/90er Jahre: „Es wirkte befreiend, dass man endlich den gesamten Bestand an Werten und Worten der 68er-Generation, den man immer als albern befand, auch öffentlich albern nennen konnte.” Dabei ging es tatsächlich weniger darum, dass man die Ziele der vorangegangenen Student*innenbewegung prinzipiell abgelehnt hätte, sondern darum, dass man, salopp gesagt, keinen Bock mehr auf die damit verbundenen Konsequenzen hatte. Ein gutes Beispiel, um das zu illustrieren, ist die Haltung zum Feminismus, die sich nicht nur in der 1994 von Johanna Adorján, Rebecca Casati, Christian Kracht und Eckhart Nickel verantworteten Liste der „97 nettesten Mädchen Deutschlands” und Ratschlägen „wie man sie (vielleicht) kriegt”, ausdrückt.
Vor allem in einem Persönlichkeitstest in der Tempo-Ausgabe vom Mai 1987, den Steenbock mit Blick auf das darin vermittelte Frauenbild analysiert, offenbart sich eine problematische Perspektive auf Fragen der Geschlechtergerechtigkeit. Unter der Ausgangsfrage „Müssen Sie Ihr Leben ändern?“ kommen die nicht genannten Testentwickler*innen zu dem Schluss, dass alle Frauen, die sich weniger Softies wünschen, Pornographie toll finden, sich in erotischer Unterwäsche nicht lächerlich finden und Kinder wollen, ihr Leben möglichst nicht ändern sollten. Den anderen hingegen wird gesagt: „Der Feminismus ist ein Durchlauferhitzer. Wer ihn wirklich verstanden hat, braucht ihn nicht mehr.“ Der perfide Twist dieser Erkenntnis steckt in dem impliziten Vorwurf an Frauen, den Feminismus nicht verstanden zu haben, wenn sie der Ansicht sind, die Gleichberechtigung sei noch nicht erreicht. Die Haltung, die hier Ausdruck findet, ist also kein offener Antifeminismus, sondern vielmehr eine implizit antifeministische Unlust, die eigenen Privilegien infrage zu stellen, was unter anderem hieße, von einem bestimmten Frauenbild Abschied zu nehmen. Deswegen erklärt man die feministischen Ziele kurzerhand für erreicht.
In diesem vorauseilend erklärten Postfeminismus spiegelt sich auch die grundsätzliche Problematik einer postheroischen Haltung, die Steenbocks Arbeit leider nicht ganz auf den Punkt bringt, obgleich diese Erkenntnis durchaus erkennbar wird. Wenn man generell davon ausgeht, dass gesellschaftliche und politische Probleme überwunden sind, muss man sich auch nicht mehr damit aufhalten, die eigenen Privilegien kritisch zu betrachten und Konsequenzen daraus zu ziehen. Der Postheroismus führte in Tempo zu einem Grundtenor, in dem man grundsätzlich mit jedem Thema Spaß haben oder, wie Steenbock es in ihrem Fazit ausdrückt, alle Verbindlichkeiten vermeiden kann.
Das ist auch genau das Problem des New Journalism in der Ausformung, auf die sich auch große Teile der Tempo-Redaktion beriefen und die Bernhard Pörksen wie folgt beschreibt: „radikale Subjektivität, notfalls unter Verzicht auf thematische Relevanz, ein Aktualitätsbegriff, der sich nicht allein über die Zeitdimension definiert, die dominante Präsenz des Autors, des journalistischen Ichs.“ (Pörksen, 308) Der New Journalism hat nun durchaus die journalistische Landschaft bereichert, allerdings legitimiert er auch eine Schreibweise, die sich vor allem aus Privilegien speist und Effekthascherei erzeugt. Gerade in der Tempo konnte man feststellen, wie schnell diese journalistische Vorgehensweise in Selbststilisierung kippen kann und dem meist männlichen Reporter vor allem die Möglichkeit bietet, eigene Devianz und Wagemut zur Schau zu stellen.
Überstolze Selbstauskünfte – New Journalism in der Tempo
So auch in der Tempo-Reportage Ballern wie blöd von Christian Kracht, für die er 1995 ins afghanisch-pakistanische Grenzland reist, dort in einer Waffenfabrik verschiedene Schusswaffen und Granaten ausprobiert und schließlich zu dem Fazit kommt, Schießen sei wie Kartoffelchips essen, man bekomme nicht genug davon (Dezember-Ausgabe 1995). Nicht allein der Titel des Textes offenbart, dass es hierbei weniger um eine informative Reportage aus einem volatilen Umfeld geht, sondern vor allem darum zu zeigen, wie mutig und spektakulär der Reporter des Magazins ist. Dafür spricht auch die Bildunterschrift, die stolz verkündet: „Der TEMPO-Reporter bläst alles weg.“ Eine ähnliche Fremdscham erzeugt die Begeisterung des Tempo-Reporters Helge Timmerberg für den Gonzo-Journalismus und dessen berühmtesten Vertreter Hunter S. Thompson (der zeitweise selbst für Tempo schrieb). Ein Gonzo-Journalist, schreibt Timmerberg 1987 in der Tempo, zeichne sich dadurch aus, dass er es ablehne so „zu tun […], als habe er noch nie ‘ne Nutte gefickt, wenn Prostitution sein Thema ist, als habe er noch nie seiner kleinen Schwester die Schokolade weggenommen, wenn er über Gewalt gegen Frauen berichtet.“ In seiner Autobiographie Die rote Olivetti (2016) berichtet Timmerberg dann unter anderem davon, dass er in den 90er Jahren von der Bunten 30.000 Mark für Reportagen bekam, die er unter Drogeneinfluss schrieb, und irgendwann wie sein Vorbild Thompson in Havannah im Hotel wohnte und dort weiter für die Bunte arbeitete. Neben einem ethisch auf mehreren Ebenen problematischen Verständnis von Journalismus, offenbart sich in diesen Beispielen auch das unangenehme Pathos, das mit einem Teil des New Journalism einhergeht. Dabei wird weniger einer subjektiv-teilnehmenden Beobachtung Ausdruck verliehen, sondern der Reporter ergeht sich vor allem in der Inszenierung eines bestimmten Männlichkeitskitsches.
Man könnte angesichts dieser Reportagen und überstolzen Selbstauskünfte auch sagen, dass junge, privilegierte Männer viel Geld dafür bekamen, dass sie unter dem Deckmantel des Journalismus über den eigenen Drogenkonsum und verantwortungsloses Verhalten schrieben und dafür auch noch zu Helden verklärt wurden. Dieser Eindruck verfestigt sich auch bei den Schilderungen der ehemaligen Tempo-Reporterin Bettina Röhl, die rückblickend berichtet, wie junge Reporter und Redakteure extra nach Hamburg eingeflogen und wie „kleine Stars“ behandelt wurden. Unter ihnen befand sich unter anderem Maxim Biller, dem man in Tempo regelmäßig Platz für 100 Zeilen Hass gewährte. Über Hunter S. Thompsons Arbeit für Tempo weiß Röhl zudem zu erzählen, dass manchmal Redakteurinnen in die USA fliegen mussten, um dem vermeintlich genialen Journalisten im Kokainrausch die Hand zu halten, damit er seine Kolumne schreiben konnte.
Der Weg von Tempo zu Popliteratur
All das findet in Kristin Steenbocks Arbeit höchstens am Rand oder zwischen den Zeilen Erwähnung, was angesichts der erklärten Perspektive und vor allem aufgrund der Standards einer wissenschaftlichen Arbeit auch kaum verwunderlich und per se kein Manko ist. Dennoch wünscht man sich, dass auf diverse Fragen, die sich bei der Lektüre ergeben, detaillierter eingegangen würde. Unter anderem irritiert die mehrfache, unkommentierte Erwähnung, dass die Tempo-Redaktion der Partei Die Grünen nahegestanden habe, was angesichts der dargelegten Inhalte und Haltungen mindestens verwunderlich ist. Auch ein ausführlicher Exkurs dazu, wie sich die Mitarbeiterinnen der Zeitschrift zu dem sexistischen Frauenbild verhielten, wäre angesichts des Fokus auf den Bereich Gender interessant gewesen. Hier wären an manchen Stellen ein paar kurze Abzweigungen vom eng gefassten Kernthema der Studie hilfreich, um diese Bereiche zusätzlich zu erhellen.
Steenbock legt ihren Schwerpunkt vor allem darauf herauszuarbeiten, wie aus der Verquickung von literarischem Journalismus, New Journalism, Pop(musik)journalismus und Boulevardpresse in der Tempo die Grundlagen für das entstanden, was in der zweiten Hälfte der 90er Jahre zur deutschen Popliteratur erklärt wurde. Und das gelingt sehr gut. Sie macht diese Bezüge unter anderem an zwei literaturkritischen Texten von Christian Kracht fest, in denen er Andreas Neumeisters Roman Ausdeutschen (1994) und Uwe Timms Kopfjäger (1986) rezensiert. An beiden Texten zeigt Steenbock, wie Kracht die üblichen Grenzen einer Rezension überschreitet und stattdessen beinahe selbst literarisch die Bücher, ihre Autoren und sich selbst in Szene setzt, wodurch bereits Anklänge an seine späteren Romane erkennbar sind. In ihrem Fazit kommt sie zu dem Schluss, dass die Popliteratur, die häufig „von der transatlantischen Übertragung der Beatliteratur im Deutschland der späten 1960er Jahre her rekonstruiert“ wird, zusätzlich noch aus einer anderen Quelle gespeist wurde: dem New Journalism in Zeitgeistmagazinen wie vor allem Tempo. Damit rekonstruiert sie in dieser informativen und gut recherchierten Studie einen wichtigen Bereich, der bisher in der Betrachtung der deutschen Popliteratur um 2000 häufig vernachlässigt wurde. Wie elementar die Geschichte des deutschen Zeitgeist-Journalismus der 80er/90er Jahre und insbesondere der Tempo für Teile der deutschen Gegenwartsliteratur ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass etliche der Mitarbeiter*innen bis heute heute bei renommierten Verlagen veröffentlichen.
Zeitgeistjournalismus heute
Fragt man sich über Steenbocks Studie hinaus, wie Zeitgeistjournalismus im Jahr 2020, fast ein Vierteljahrhundert später, aussieht und wo man vielleicht Einflusslinien von Tempo findet, stößt man fast automatisch auf den Lifestyle-Journalismus der deutschen Ausgabe des Magazins Vice, die für sich mit dem Slogan Unbequemer Journalismus wirbt. Gerade mit Blick auf Vice fällt auf, wie sich hier die thematischen Schwerpunkte und die Haltung dazu gegenüber Tempo verlagert haben, nicht aber der stilistische Grundtenor der Berichterstattung. Sexuelle Diversität, Drogenkonsum und linkspolitische Themen machen bei Vice das Gros der Texte aus, wodurch gesellschaftlich relevanten Themen Aufmerksamkeit zukommt. Damit einhergehend fällt auch bei Vice eine starke Tendenz zum Spektakulären und Reißerischen auf; eine Tendenz, die sich aber, wie im Falle der Undercover-Reportage bei “Kollegahs Alpha Armee”, zuletzt durchaus auch mit journalistisch hochwertigen und dennoch zeitgeistrelevanten Reportagen verbindet, vielleicht eine Tendenz vom Postheroischen zurück zum Heroischen. Allerdings stehen New-Journalism-Reportagen wie der Selbsterfahrungsbericht einer Vice-Reporterin, die 24 Stunden allein auf einer Berghütte verbrachte, dem Friseur-Besuch von Eckhart Nickel in der Tempo-Ausgabe vom Februar 1996 an überaufgeregter Erkenntnislosigkeit in Nichts nach.
Eine andere Schiene des Einflusses ist vielleicht weniger offensichtlich, aber dahingehend aussagekräftiger, wie sich Zeitgeist heute in den Medien zeigt. Dieser Weg führt über die Late-Night-Show von Harald Schmidt und seinem Autor*innenteam zu dem Satire-Journalismus mit Aufklärungsanspruch eines Jan Böhmermann. Der schrieb, genau wie Pop-Autor Benjamin von Stuckrad-Barre (der für ein Tempo-Engagement zu jung war, 2006 aber an der Sonderausgabe mitarbeitete) einst als Gag-Autor für die Harald-Schmidt-Show und arbeitete außerdem lange Jahre mit der Autorin aus dem Tempo-Umfeld Sibylle Berg zusammen. (Es sei am Rande erwähnt, dass sich eine weitere Gemeinsamkeit darin zeigt, dass Böhmermann wie auch die meisten ehemaligen Tempo-Autor*innen beim Verlag Kiepenheuer & Witsch beheimatet ist.) Im Neo Magazin Royale zeigte sich über die letzten Jahre, wie journalistische Arbeit am Zeitgeist in der Tradition der Tempo heute aussehen kann. Ebenso wie das Neo Magazin (Royale) zwischen 2013 und 2019 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, brachte die Tempo einen strukturellen und thematischen Aufbruch in ein altes System und versuchte sich auch an satirischen Coups, die denen ähnelten, die Böhmermanns Sendung teilweise über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt machten. 1987 schlug die Tempo-Redaktion Bürgermeistern Arbeitslager für HIV-Infizierte anhand von Bauplänen des KZ-Sachsenhausens vor und in der Sonderausgabe 2006 bot man mehreren Prominenten und Politiker*innen eine Ehrendoktorwürde für eine Nationalakademie an, in deren Statuten sich Zitate aus Hitlers Mein Kampf und dem Wahlprogramm der NPD befanden.
Während Diedrich Diederichsen für die 80er/90er Jahre einen postheorischen Zeitgeist ausmachte, liegt es nahe in den letzten Jahren wieder eine Verschiebung zum Heroischen zu erkennen: Die Popularität klarer Bekenntnisse gegen Rassismus, Sexismus und generell gegen jegliche Form der Diskriminierung und die Aufmerksamkeit für diese Themen sind nicht nur positive Entwicklungen, sondern sie entsprechen auch einem Zeitgeist, der politische und gesellschaftliche Haltung innerhalb eines bestimmten sozialen Milieus wieder aufs Tapet gebracht hat. Eine Sendung wie das Neo Magazin Royale war dabei unter heroischen Vorzeichen, strukturell aber ähnlich wie Tempo vor etwa 30 Jahren, sowohl Profiteur als auch Katalysator dieser gesellschaftlichen Stimmung in einem urbanen und formal gut gebildeten Teil der 20- bis 40-jährigen Bevölkerungsschicht. Gleichzeitig zeigte sich aber auch im Umfeld der Show von ZDF-Neo, dass es sich in erster Linie um ein Abstecken des Zeitgeistes von vorrangig jungen, privilegierten, weißen Männern handelte. Man kann daher vielleicht von Glück sagen, dass sich der Zeitgeist der sozialen Schicht, die Tempo machte und las, in den 2010er Jahren in eine positive Richtung entwickelt hat, sodass diese Art der Arbeit am Zeitgeist beim Neo Magazin Royale wenigstens eine anti-diskriminatorische Richtung eingeschlagen hat.
Vor 14 Jahren hingegen traten Teile der alten Tempo-Redaktion zusammen mit Gesinnungsgenossen wie Benjamin von Stuckrad-Barre und Ulf Poschardt selbst noch einmal an, um den Zeitgeistjournalismus à la Tempo ins 21. Jahrhundert zu wuchten. Das zumindest war das erklärte Ziel des fast 400 Seiten starken Magazins, das ich 2006 in die Hände bekam oder das, wie es im Spiegel hieß, den Leser*innen auf den Schreibtisch „krachte”. Was an dem Heft im Nachhinein vor allem auffällt, ist die konsequente Selbstzentriertheit, von der aus hier auch eine erweiterte Tempo-Redaktion auf die Welt blickte: „33 Wahrheiten” will man verkünden und auf 13 Seiten wird mit dem Prinzip Top oder Flop über zahllose Menschen von Jassir Arafat über Claus Peymann, Thomas Bernhard und Lady Di bis hin zu Westbam in jeweils zwei Sätzen ein Urteil gefällt. Sogar Maxim Biller durfte nochmal mit 100 Zeilen Hass ran. Außerdem listete man auf, was in den zehn Jahren seit 1996 passiert war und was in den kommenden zehn Jahren bitte passieren sollte, ganz so als sei Tempo tatsächlich der Mittelpunkt des bundesrepublikanischen Denkens, für den man sich seit 1986 hielt – selbsterklärte zeitgeistige Diskursmacht eben. Angesichts des personell langen Arms von Tempo in die Gegenwart, wünscht man sich da, dass der Tempo-Gründer Peichl mit seiner Aussage im Editorial der Sondernummer recht behält, dass es etwas wie Tempo „so nicht mehr gibt und gar nicht mehr geben kann.”
Erzählungen sind in gewisser Weise immer politisch. Zumindest die Struktur und die Auswahl dessen, was erzählt wird (aus wessen Perspektive, mit welchen stillschweigenden Voraussetzungen), hat immer eine politische Dimension. So lautet ein Grundgedanke der Kulturwissenschaften. Die Politik der Erzählung ist allgegenwärtig. Aber was ist mit den Erzählungen von Politik im landläufigen Sinne? Vom politischen Tagesgeschäft etwa, oder von demokratischen Strukturen (bevor sie illiberal oder totalitär werden). Dieser Gedanke kam mir immer wieder bei der Lektüre des Debütromans der österreichischen Schriftstellerin Raphaela Edelbauer Das flüssige Land (2019) – ein Gedanke, der rasch weitere Kreise zog.
In der Tat ist es aufschlussreich, sich den Stellenwert politischer Öffentlichkeit in fiktionalen Texten, sowie in Film und Fernsehen zu vergegenwärtigen. Sofern in Romanen, Filmen und Fernsehserien überhaupt politische Systeme dargestellt werden, erscheinen diese meist als elitäre undurchdringliche Strukturen. Karrierismus, Intrigen, Korruption, autokratische Figuren, oder inkompetente Schadensbegrenzung (man denke an die TV-Serie Braunschlag), die zwielichtigen und ethisch fragwürdigen Seiten des politischen Alltags also, gibt es zweifellos auch in der Wirklichkeit, wie zuletzt das Beispiel der Ibiza-Affäre gezeigt hat. Die allgemeine Teilhabe an politischen Prozessen jedoch (vom Gemeinderat bis hin zu Wahlhelferinnen) wird eher selten erzählt.
In Edelbauers Das flüssige Land dauert es nicht lang, bis klar wird, dass sich das hier erzählte Österreich nur bedingt mit der Wirklichkeit deckt – etwa bis zu der Stelle, wo eine Autobahn-Raststätte Wittgenstein-Punschkrapferl im Angebot hat (S. 20). Noch ist der Tourismus, wie wir ihn kennen, auf die Zeit der Monarchie fixiert. Noch gibt es keine Philosophenporträts auf der altrosa Glasur der traditionellen österreichischen Süßspeise. Selbst die Thomas-Bernhard-Kugel ist bisher nur ein Kunstprojekt. Aber die Zutaten sind vorhanden, und was Edelbauer im Lauf des Romans an phantastischer Mythenbildung hervorbringt, ist, wie jede gute Überzeichnung, deutlich wiederzuerkennen. Mehr noch: Die Karikatur verweist auf Wissen, das uns zwar gemeinsam ist, das aber nicht so offen daliegt, wie es den Anschein haben mag. Deshalb allein lohnt sich ein weiterer Blick.
Aufblitzen der Realität
Die spezielle Art der persiflierenden Verdichtung in Edelbauers Roman ist schön an einem Dorffest zu erkennen, bei dem eine Weinkönigin gewählt und ein Maibaum aufgestellt wird, während alle so tun, als existiere der Abgrund nicht, der sich langsam unter dem Ort auftut, weil der alte Bergwerksstollen einstürzt („fortbewegen konnte man sich über den trichterförmigen Hauptplatz nur mehr auf seinem steinernen Pizzarand“). Auch was im Ort und in den Stollen während der NS-Zeit passiert ist, will keiner so genau wissen. Lieber schiebt man die Schuld an den Auswirkungen auf die Landwirte und Pharmakonzerne („Mittelschullehrer gegen Pfahlwurzler – eine Abrechnung“), oder allenfalls etwas willkürlich auf die „nachts über die Grenze kommenden Slowenen“.
Die ideale Lösung für das Problem wäre ein simples „Füllmittel“, um den Untergrund zu stabilisieren. So könnte das Leben der Einwohner*innen weitergehen, allerdings nicht für die Flora und Fauna der Gegend, die eine solche Bodenversiegelung nicht überleben würden. Zuständig für das Füllmittel ist die Protagonistin und Erzählerin des Romans, die es nach dem Tod ihrer Eltern mehr zufällig nach Groß-Einland verschlagen hat. Sie ist zwar „studiert“, als theoretische Physikerin bringt sie allerdings keinerlei Expertise für eine solche Arbeit mit, was, ohne allzu große Verrenkungen, letztlich auch recht österreichisch anmutet.
Verantwortlich für die Idee ist freilich nicht die Protagonistin selbst, sondern die „Gräfin“, die über den Ort herrscht und der man nicht zu widersprechen hat. Die Institution des Schlosses, das über Groß-Einland thront schlägt zunächst eine an Kafka erinnernde Tonlage an: Was man im Stadtarchiv in die Hände bekommt, bestimmt die Gräfin; worüber man im Wirtshaus redet, ebenfalls. Das Schloss ist Vater, Logos, Gott. Bei etwas näherem Hinsehen ist diese Gräfin jedoch alles andere als ein übermenschliches Wesen („Also, was ich Ihnen hiermit anbieten will, ist das Du-Wort. Ich bin die Ulrike“) und ihre Herrschaft ist eine Folge von Enteignung, Arisierung, systematischem Grunderwerb. Gleichzeitig befindet sich Groß-Einland aber außerhalb jeder Rechtsordnung („natürlich stehen wir nicht im Gemeindeverzeichnis“) und die Gräfin erklärt ganz deutlich: „der Bürgermeister ist nicht Teil unserer Geschäftlichkeiten […] Sehen Sie, in dieser Gemeinde gibt es, ebenso wie in unserem Staat als Ganzem, zwei Körperschaften“. Die „alte Ordnung“ stehe einer neuen gegenüber, die „einfach über die erste gebreitet wurde, ohne auf die gewachsenen, organischen Strukturen Rücksicht zu nehmen.“ In dieser Pervertierung historischer Ereignisse blitzt satirisch das monarchistisch-aristokratische Prinzip des alten Österreich auf, und auch dieses ist für den Leser scheinbar leicht zu identifizieren. Nur: womit haben wir es hier eigentlich zu tun?
Auch außerhalb des Romans – in der wirklichen Welt – befinden wir uns in einer Zeit, wo in Österreich immer noch überall von Landes- und Dorfkaisern die Rede ist; wo alteingesessene Familien (nunmehr ohne Adelstitel) über erheblichen Grundbesitz in Österreich verfügen. Zudem speist sich ein wesentlicher Teil des nationalen Selbstverständnisses aus einer idealisierten Habsburgermonarchie, deren heimliche Nachfolge das heutige Österreich gewissermaßen für sich beansprucht. Aus all diesen Gründen dauert es eine ganze Weile, bis sich ein halbwegs scharfes Bild auf das ergibt, was Edelbauers Roman in dieser Hinsicht mitverkörpert, ja, wofür er teilweise symptomatisch ist.
Literarischer Mythos Kakanien
Dazu ist ein Blick auf den literarischen Kontext nötig. Die Kafka-Anklänge in Das flüssige Land, ebenso wie explizite Verweise auf Robert Musil (es ist etwa die Rede von einer „Parallelaktion“, ganz wie im Mann ohne Eigenschaften), zeigen unmissverständlich, in welcher literarischen Tradition Edelbauers Roman steht. Man könnte der Liste Gerhard Fritschs Moos auf den Steinen (1956) hinzufügen, wo ein junger Schriftsteller im Nachkriegsösterreich ein verfallenes Schloss im Marchfeld besucht, das ebenso wie sein Schlossherr symbolisch für die Monarchie und ihre Ideale steht. Weiters eine ganze Reihe von Texten Thomas Bernhards, etwa Verstörung (1967), in dem der Fürst Saurau, wenn auch vom Wahnsinn gezeichnet, von seiner Burg Hochgobernitz aus unhinterfragt über die Gegend und die Leute herrscht.
Dieses literarische Österreich zehrt, wie fast die ganze heimische Literatur seit dem 19. Jahrhundert, direkt oder indirekt vom Mythos Kakanien. Schon in den 1960er Jahren hat der Triestiner Literaturwissenschaftler Claudio Magris in Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur dargestellt, wie die habsburgische Geschichtsverklärung auch in der Literatur nach 1918 weiterwirkte. Dass das Motiv sich auch hundert Jahre nach dem Ende der Monarchie noch zu halten vermag, wäre für sich genommen vielleicht keine allzu große Überraschung. Die Summe dieser quasi-monarchischen Herrscher – und ihrer Beamtenarmeen einer riesigen gesichtslosen Bürokratie – zeichnet für die Leser*innen jedoch meist ein Bild des zeitgenössischen Österreich, das demokratiefern bis demokratiefeindlich ist. Welche Auswirkungen solche Darstellungen auf ein Lesepublikum haben, ist schwer zu sagen, unter den vielen vorstellbaren Konsequenzen wird dessen politische Ermächtigung aber vermutlich eine geringe Rolle spielen.
Grundsätzlich sieht es so aus, als wären funktionierende demokratische Prozesse offenbar kein guter Stoff für Literatur und Film. Selbst wenn ein halbwegs realistisches Politikmilieu eine größere Rolle in literarischen Texten spielt, was selten genug der Fall ist, finden wir die beschriebenen Tendenzen zu Intrigen und Korruption. Barbara Frischmuths Über die Verhältnisse (1987) erfüllt zunächst den Anspruch. Die Hauptfiguren sind eine Wirtin, aber auch der sogenannte „Regierungschef“, sowie mehrere Minister und hohe Beamte. Es geht zunächst um Verhandlungen und Pressekonferenzen, um die Anforderungen der Tagespolitik. Selbst hier wird die Regierung aber bald zum „Staatstheater“ und zur „Volksbelustigung“, wo „die Leute auf der Straße sich […] für Statisten halten, denen von der Regie höchstens unartikuliertes Murren zugestanden wird.“ Und die Politiker? Sie „taktieren“, anstatt Dinge zu erledigen; denken „im Grund […] schon an die übernächste Periode.“ Dass der echten Politik seit Jahrzehnten eine neue und zuvor nicht dagewesene Entertainment-Dimension eignet, wie sie etwa der Politikwissenschafter Andreas Dörner in seiner Studie Politainment (2001) beschrieben hat, macht die Sache keineswegs leichter.
Es ist ein Teufelskreis, der einerseits sicherlich viel von dem beschreibt, was in Österreich (und anderswo) passiert, aber gleichzeitig unweigerlich die Parameter vorgibt, mit der wir uns die Gesellschaft ausmalen, in der wir uns bewegen.
In Das flüssige Land fokussiert Edelbauer, wie bereits angedeutet, nach und nach auf die Zeit des Nationalsozialismus: der Stollen, der zunächst Geldgier und Ausbeutung in einer kapitalistischen Gesellschaft seit der Frühen Neuzeit repräsentiert, wird nun auch zum Symbol für die Verbrechen nach 1938. Man erkennt Anklänge an das Werk von Hans Lebert (Die Wolfshaut) und vor allem an Elfriede Jelinek, von Die Kinder der Toten bis zu Rechnitz (Der Würgeengel). Das Stück, das mit der Regieanweisung „Ein Schloß in Österreich. Jagdtrophäen an den Wänden“ beginnt, behandelt das historische Massaker an 180 Zwangsarbeitern im März 1945 während eines Festes der Gräfin Batthyány, dessen Ähnlichkeit mit einem Hauptmotiv bei Edelbauer unverkennbar ist (mein Dank an Andrea Capovilla für den Hinweis).
Ganz ohne Bruchstellen kommt Edelbauers Text aber nicht aus, was den Nationalsozialismus betrifft. Für die Romanhandlung war dieser historische Aspekt vermutlich unvermeidlich. Dass die korrupten Figuren alle ökonomischen „Möglichkeiten“ unter dem NS-Regime ausgenutzt haben, ist nicht überraschend. Allerdings steht die ideologische Bezugnahme, die, vielleicht zu Recht, in die Motivation der Charaktere einfließt, seltsam neben der zentralen Romanhandlung. Mit anderen Worten: es handelt sich nicht nur um Geldgier und Korruption, sondern um eine faschistoide Grundhaltung. Dass auch dieser Aspekt grundsätzlich glaubwürdig sein kann, steht außer Zweifel. Hier liegt aber eine Schwäche des Romans, denn die Gesten, die in der Erzählung selbst gesetzt werden, bleiben eher blass und wirken stellenweise etwas aufgesetzt, als verstehe sich diese Dimension von selbst. Nirgends ist das verwunderlicher als bei der „Entdeckung“ der jüdischen Vergangenheit der Protagonistin, die praktisch aus dem Nichts zu kommen scheint.
„We need new narratives“
Das flüssige Land endet damit, dass die Protagonistin aus ihrer wenigstens zum Teil trauer- und medikamentenbedingt surrealen Auszeit in Groß-Einland in die Stadt zurückkehrt, wo sie in der Multikulturalität und einem gewissen Hedonismus Trost zu finden scheint („ich würde schon abends, dachte ich, am Donaukanal sitzen […] Menschen aus allen Nationen würden mit Lautsprechern und Dosenbier in der Hand an mir vorbeirinnen. Groß-Einland wäre mir nichts mehr als ein merkwürdiger Traum“). Das ist der Autorin in manchen Rezensionen negativ ausgelegt worden. Womöglich, weil als Lösungsansatz verstanden wurde, was doch nur eine weitere Flucht vor der Konfrontation ist, nicht nur mit der NS-Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart. Darin liegt zunächst wenig Trost, aber reichlich Potential, vielleicht doch etwas ändern zu können, wenn man es gemeinsam zu ändern versuchte.
„We need new narratives“ – wir brauchen neue Erzählungen, so lautet ein in den letzten Jahren von Kulturwissenschafter*innen wiederholt angeführtes Programm für das Umdenken in sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Hinsicht. Wir nehmen die Welt in Geschichten wahr, weshalb neue Geschichten uns einen neuen Blick auf die Welt ermöglichen. Leicht ließe sich das auch auf die Einbindung der Menschen in politische Prozesse umlegen. Andreas Dörner beschreibt, wie „Politainment“ auf das Fehlen jedes direkten Kontakts zum politischen System reagiert und dieses „wieder sichtbar und sinnlich erfahrbar“ macht: doch sind dieser einseitigen Form von Aufbereitung in Talkshows, Publikumsveranstaltungen und Werbespots klare Grenzen gesetzt, die heute immer deutlicher werden, nicht zuletzt, was ihre Manipulationsmöglichkeiten betrifft. Das Ziel müsste vielmehr die Einbeziehung und das Engagement Vieler sein, eine neue positive Sicht auf demokratische Prozesse. Wie die Literatur dazu beitragen kann, ist freilich nicht von Außen zu entscheiden. Ein guter erster Schritt wäre es jedoch, sorgsam zu reflektieren, welche Implikationen die Wiederholung althergebrachter literarischer Motive haben kann – und dann auch zu überlegen, wie man den verkrusteten Strukturen vielleicht entgegenwirken könnte.
Es ist ungefähr vierzig Jahre her, dass ich Wir Kinder vom Bahnhof Zoo gelesen habe, den autobiographischen Bericht von Christiane F., einem heroinabhängigen Kind. Ein Buch, das mich wie kein zweites beeindruckt und geprägt hat. Was sicher daran lag, dass ich damals selbst ein Kind war. Aber auch an zwei, drei anderen Faktoren, die ich hier, durch eine Wiederlektüre, zu verstehen versuche.
Damals war ich in etwa elf, höchstens zwölf Jahre alt, es war kurz nach der Trennung meiner Eltern. Mein Übergang in die weiterführende Schule stand bevor (in Berlin-Zehlendorf fast automatisch ein Gymnasium), und ich nehme an, dass meine Mutter das Buch damals besorgte, weil es 95 Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste stand, also Gesprächsthema unter Bekannten und Schuleltern war, und weil sie vermutlich Sorge hatte, dass alle Kinder gefährdet sein könnten, den Weg von Christiane F. zu gehen, also auch meine Schwester und ich: Hasch mit zwölf, Heroin mit 13, Anschaffen am Bahnhof Zoo, im Hintergrund verzweifelte, hilflose Eltern. Das zeitspezifische Bild der gefährdeten Kindheit also, die im schlimmsten Fall mit dem „goldenen Schuss“ auf einer öffentlichen Toilette endete, und nur in Christianes Fall damit, mit 16 die ganze Geschichte zwei Stern-Reportern zu erzählen.
Ich denke, dass es einander chronologisch überlagernde Angst-Motive in der Bundesrepublik und West-Berlin gab, Kinder betreffend: die Kindsmörder in den Sechziger Jahren, die Anziehungskraft des Terrorismus in den Siebzigern, dann das Heroin, in den frühen Achtzigern, dann die „Sekten“: diffuse, medial und anekdotisch verbreitete Bedrohungsszenarien, auf die Eltern reagieren mussten. Und sei es, indem sie Wir Kinder vom Bahnhof Zoo kauften, um mit dem Schlimmsten rechnen zu können.
Ich erinnere mich, dass ich das Buch heimlich las. Ich hatte keine realistische Vorstellung von Sexualität, geschweige denn davon, dass es beinahe Gleichaltrige gab, die für Geld oder Heroin Sex mit Erwachsenen in Autos, auf Toiletten oder in Pensionszimmern auf Beistellbetten hatten (also, was niemand damals so nannte: systematisch vergewaltigt wurden). Drogen waren 1980 oder ‘81 ein permanentes Hintergrundrauschen. Der Alltagsdiskurs der Bundesrepublik und West-Berlins war nahtlos übergegangen von „aber die Terroristen“ zu „aber die Drogen“. Auf meinem Schulweg las ich mit Begeisterung die in den Händlerschürzen ausgestellten Titelseiten von Bild und BZ, auf denen von besonders jungen Drogentoten berichtet wurde. Mit Fotos, die in ihrer Ikonographie ganz ähnlich den Terror-Fahndungsplakaten waren: junge Menschen, gejagt oder betrauert mit gerasterten Fotos aus Personalausweisen, Polizeiakten oder Bewerbungsschreiben. An meiner Grundschule gab es einen Elternabend zum Thema weiterführende Schulen, und danach berichtete meine Mutter der Nachbarin Frau Hundt: Über die Schadow-Schule hinterm S-Bahnhof gäbe es das Gerücht, das sei eine „Drogenschule“. Auf den Toiletten würden Kinder aus den unteren Klassen „von Oberstüflern angefixt“. Man bekäme also gegen seinen Willen eine Heroinspritze und sei dann sofort süchtig (dies traf, zumindest ab August 1981, meiner Einschulung in die 7. Klasse, nicht zu).
Ich wusste also: Das Christiane-F.-Buch handelte von etwas, das Eltern beunruhigte, und ich sollte es nicht lesen, weil es, so meine Mutter, „noch nichts für mich wäre“. Als wäre das Buch nicht schon ohne diese zusätzliche Werbung unwiderstehlich genug gewesen. Das Cover der alten Ausgabe zeigte den Eingang der Diskothek Sound, die ich vom Namen her kannte, weil diese Disko überall in der Stadt auf Plakaten warb, auch auf meinem Schulweg. Also bekam etwas mir Alltägliches eine wunderbar bedrohliche Note. Und hintendrauf war ein ganz nah aufgenommenes Porträt der 15-jährigen Christiane: die Haare glatt in der Mitte gescheitelt und eng anliegend nach hinten, die Augen dunkel geschminkt, ernst, fast madonnenhaft, für meine damaligen Begriffe fast überirdisch schön. Also las ich Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, sobald meine Mutter nicht da war, auf einem skandinavischen Esstischstuhl, den ich vors Regal schob, damit ich das Buch schnell unbemerkt zurückstellen konnte, wenn meine Mutter zurückkam.
Die Neuausgabe im Carlsen-Verlag, der das Buch seit einigen Jahren bizarrerweise als ganz normales Jugendbuch vermarktet, zeigt nicht mehr das Porträt von Christiane F. Ich vermute, weil sie sich irgendwann dagegen entschieden hat, ihr Buch mit einem Bild von sich als Kind vertreiben zu lassen. Aber in der Mitte sind immer noch die gleichen Schwarzweiß-Fotos aus der Originalausgabe, die damals beim Blättern meine erste Begegnung mit der Welt von Christiane F. waren. Porträts von Jugendlichen und Kindern, von denen einige im Buch auftauchen, und die alle so aussehen wie jene Jugendlichen, die im Schönower Park mit ihren Mofas auf dem sogenannten „Mäuerchen“ der „Festung“ standen und mit Verachtung auf uns Grundschüler runterschauten, wenn überhaupt. Oder wie die älteren Nachbarskinder, mit denen ich vor ein paar Monaten noch Fußball auf dem Wäscheplatz gespielt hatte. Nur, dass in den Bildlegenden meist steht, diese Kinder hier seien nun tot. Andere Bilder zeigen „Jugendliche Fixerinnen auf dem ‚Baby-Strich‘ an der Kurfürstenstraße‘“, offenbar heimlich aufgenommen, drei im Gespräch, eine steckt sich gerade die Haare hoch, eine Alltagsszene: Sie sehen von weitem aus, als kämen sie gerade vom Lippenstiftklauen im Woolworth. Die Fotos zeigen „die Wohnung eines Heroinabhängigen“ mit den Matratzen auf dem Fußboden und sonst nur Müll, was dann noch in den Neunzigern unsere Chiffre war für „neu in der WG und keine Kohle für Möbel“: wie in einer Fixerwohnung.
Es sind Bilder im journalistisch verbrämten Stern-Voyeurismus der damaligen Zeit, zu denen ich als Kind keinerlei kritische Distanz hatte. Die Pissflecken in der Unterhose eines Fixers, der sich vor Zivilpolizisten in einem gekachelten Raum ausziehen muss, waren für mich der Gipfel schonungsloser Wahrhaftigkeit; ebenso das Foto einer toten Achtzehnjährigen auf dem Boden einer öffentlichen Toilette, gegenüber eines Porträts von ihr lebendig im Blümchenkleid, barfuß, mit Zigarette und finster selbstbewusstem Gesichtsausdruck. Heute sehe ich das und denke: Wirklich? Das Bild einer Toten mit halb entblößter Brust, ultimativ handlungsunfähig, endgültig einwilligungsohnmächtig, in einem Carlsen-Jugendbuch? Und hinten im Buch dann Werbung für YA-Drogen- und Horrorthriller, als wäre Wir Kinder vom Bahnhof Zoo nichts anderes?
Es ist nicht der einzige Schock bei der Überprüfung der Lese-Erschütterung von damals. Die Wiederlektüre offenbart mir noch andere elementare Grenzüberschreitungen, die mir 1980/81 verborgen blieben. Vielleicht blieben sie mir damals auch verborgen, weil diese Lektüreerfahrung für mich als Kind eine einzige Grenzüberschreitung war. Wir Kinder vom Bahnhof Zoo lesend, bewegte ich mich über eine unsichtbare Linie, in eine komplett fremde und dennoch tief vertraute Welt, die nicht meine und eben doch meine war. Damals wie heute zeigt das Buch sozusagen eine Kippfigur meines damaligen West-Berlins: Vertraute Orte tauchen in Negativbildern wieder auf.
Das beginnt natürlich mit dem Bahnhof Zoo, wo wir meine Großmutter vom Zug abholten, wenn sie aus Koblenz kam, und wo ich ausstieg, wenn ich mit dem Bus verträumt zwei Haltestellen zu weit fuhr, denn mein Vater arbeitete Uhlandstraße Ecke Kurfürstendamm. Der Bahnhof Zoo war gewissermaßen das Scharnier meiner West-Berlin-Erfahrung mit Christianes, denn meine Wahrnehmung deckte sich zumindest mit ihrer Beschreibung, wenn auch nicht mit ihrem Erleben. Was für sie Treffpunkt mit Freund*innen, Geldquelle und Drogenszene ist, erlebte ich beim Durchlaufen so, wie sie es beschreibt, aber ohne die Strukturen zu sehen: heruntergekommen, schmutzig, kriminell und unwirtlich. Alle anderen Orte im Buch aber gab es, so erlebte ich das damals, einmal in einer Christiane- und einmal in einer Till-Realität: Kurfürstenstraße Ecke Potsdamer Straße, für sie der so genannte „Babystrich“, für mich die Ecke, an der die Patentante meiner Mutter in einer Seniorenwohnanlage wohnte und Lord Extra rauchte. In der Neubausiedlung Gropius-Stadt, wo Christiane mit ihren Eltern im 11. Stock lebte und von ihrem Vater misshandelt wurde, hatten die Eltern einer Freundin von mir auf dem U-Bahnhof Lipschitzallee einen Imbiss. Abends brachten sie uns in Alufolie eingewickelte Currywurst mit Pommes mit nach Zehlendorf.
Die U-Bahnstation Bülowstraße war Christianes liebste Anlaufstation zum Fixen, da die Toiletten vergleichsweise sauber waren, aber auch Todesort ihrer Freundinnen; für mich ein sonntägliches Vergnügen, wenn meine Eltern (vor der Trennung) mit uns den dort auf der Hochbahn zwischen Bülowstraße und Nollendorfplatz gelegenen Dauerflohmarkt besuchten, ein idyllisches Kitschfest erfundener West-Berliner Miljö-Gemütlichkeit. Bei „Synanon“ hätte Christiane gern ihren Entzug gemacht, einer besonders strengen Selbsthilfegruppe, deren Mitglieder kahlgeschorene Köpfe hatten, und die ihr Geld mit einer Spedition verdienten. Mein Vater zog mit den „Synanon“-Möbelpackern aus unserer Wohnung in Zehlendorf-Mitte aus. In der grauenvollen Deutschlandhalle hinterm Funkturm besuchten meine Familie und ich bis 1979 jedes Jahr das so genannte „British Tattoo“, für das mein Vater als Bundesbeamter Freikarten bekam. Angehörige der Britischen Streitkräfte führten dort Dudelsack-Choreografien, ihre Waffen und Sondereinsatzkommando-Spektakel vor, für mich berauschend. Christiane erlebt hier zur gleichen Zeit ihr David Bowie-Konzert und spritzt danach zum ersten Mal Heroin: „Das war am 18. April 1976, einen Monat vor meinem 14. Geburtstag. Ich werde das Datum nie vergessen“, schreibt sie, und eine Seite weiter: „Es gab Momente, wo ich mir etwa sagte: ‚Mensch, du bist 13 und warst schon einige Monate auf H. Ist doch irgendwie scheiße.‘ Aber das war dann sofort wieder weg.“
Und natürlich war das neben den geographischen Berührungspunkten und der Angstlust mein Portal in das Buch: die empfundene fast exakte Gleichaltrigkeit. Ich las das Buch in einem Alter, als für Christiane die weichen Drogen bereits in Reichweite waren. Ein bisschen schien die Lektüre, als würde ich in meine mögliche Zukunft blicken. Aber auch heute, beim Wiederlesen, kann ich mich dieser Gleichaltrigkeit in gewisser Weise nicht entziehen. Heroin ist zwar nicht mehr das gesellschaftlich befeuerte Angstthema wie vor vierzig Jahren; aber meine Kinder sind sozusagen 13 (nämlich zwölf und 15), und so, wie ich mich damals in Christiane sah und nicht sah, sehe ich heute flackernde Schatten ihrer potenziellen Lebensverläufe in Christianes Buch.
Wie aber konnte ich mich damals, als elf- oder zwölfjähriger Zehlendorfer Klein- oder Bildungsbürgersohn mit einer Sechzehnjährigen Erzählerin und ihren existenziell düsteren Erlebnissen identifizieren? Durch ein Gerichtsverfahren im Sommer 1978 wurden die Stern-Reporter Kai Hermann und Horst Rieck auf die verurteilte Christiane F. aufmerksam. „Nach Tonbandprotokollen aufgeschrieben“ , steht vorne im Buch. Tage- und wochenlang, während derer Christiane clean bei Verwandten in der norddeutschen Provinz lebte, erzählte sie ihnen ihre Geschichte. Kein Verlag interessierte sich für das Manuskript, einer empfahl, eine wissenschaftliche „case study“ daraus zu machen. Bis die Zeitschrift Stern kurzerhand einen eigenen Verlag gründete und das Buch, unterstützt durch eine große Serie im Heft, selbst auf den Markt brachte: ein unfassbarer Erfolg, von dem Christiane Felscherinow, wie sie es unter ihrem vollen Namen 2013 in einem weiteren Buch beschrieb, noch Jahrzehnte leben konnte, obwohl der Profit gedrittelt wurde.
Das Erstaunliche und Erfreuliche ist, beim Wiederlesen, und nachdem ich mich jahrelang als Redakteur selbst durch oft eher misslungene Protokolle gequält habe: Hermann und Rieck haben sicherlich die Chronologie der Erzählung strukturiert und hier und da Informationen eingefügt, aber sie lassen Christiane F. einen unverwechselbaren Ton. Da ist der „urische Horror“, den sie vorm Umzug nach Berlin hat, ihr Vater, der sie „vertrimmt“ oder von dem es „Kloppe gibt“, wenn die Nachbarskinder ihr Fahrrad kaputt machen oder sie und ihre Schwester das Zimmer nicht aufräumen. Die merkwürdigen Details: dass es das Schlimmste ist, wenn man den kleineren Kindern in der Gropius-Stadt die Kochlöffel wegnimmt, weil sie nur mit denen an die Fahrstuhlknöpfe kommen, ohne Kochlöffel müssen sie Dutzende Treppen steigen. Und für mich als Jungen, der sich für Sarah-Kay-Merchandise und Monchhichis interessierte und mit Elizabeth aus Die Waltons identifizierte, war das Buch voller faszinierender Einsichten, von denen ich immer noch denke, sie stammen nicht von Hermann oder Rieck: „Ich wurde zwölf, bekam ein bisschen Busen und begann, mich auf ganz komische Art für Jungen und Männer zu interessieren. Die waren für mich seltsame Wesen. Sie waren alle brutal. Die älteren Jungen auf der Straße genauso wie mein Vater … Ich hatte Angst vor ihnen. Aber sie faszinierten mich auch. Sie waren stark und hatten Macht. Sie waren so, wie ich gern gewesen wäre. Ihre Macht, ihre Stärke … zogen mich an.“
Auch Christianes scheinbar ziellose, aber tiefe Wut beeindruckte mich als braves Scheidungskind, das sich niemals Wut erlaubt hätte: „Was erzählen Sie uns hier bloß für eine Scheiße. Was heißt hier Umweltschutz?“, schreit die zwölfjährige Christiane einen Lehrer an. Für den zwölfjährigen Till, der es allen recht machen will, undenkbar: „Das fängt doch erst mal damit an, dass die Menschen lernen, miteinander umzugehen. Das sollten wir an dieser Scheißschule erst mal lernen. Dass der eine irgendein Interesse für den anderen hat. Dass nicht jeder versucht, das größte Maul zu haben und stärker zu sein als der andere, und dass sich jeder nur gegenseitig bescheißt und ablinkt, um bessere Noten zu bekommen.“ Mich zog das Pathos an, mit dem sie ihre Clique, ihre Leute beschreibt: „In der U-Bahn fand ich es an jeder Station geil, wie neue Leute einstiegen, denen man genau ansah, dass sie ins Sound wollten. Astrein in der Aufmachung, lange Haare und zehn Zentimeter hohe Stiefelsohlen. Meine Stars, die Stars des Sound.“ Meine U-Bahnfahrten führten mich im gleichen Alter zur Kleintierpraxis im Wedding, weil mein Kanarienvogel nicht fraß.
Nicht zuletzt ist das Buch voll von unvergesslichen Details. Das legendäre „Quarkfein“, das ihre Fixerfreundin in den Quark rührt. Die alte Fönverpackung an der Strippe, die Christiane einem ungeduldigen Freier vom elften Stock hinunterlässt, damit er ihr Heroin hinauf in den Hausarrest schickt, und sie ihm zum Preis ihre Unterhose hinunter , und Nachbarskinder angeln ahnungslos nach dem Transportsystem. Die Worte, die sie für ihre Beziehung zu ihrem Freund Detlef findet, und die mit elf oder zwölf womöglich meine Vorstellung von Partnerschaft mehr prägten, als mir bewusst war: „Wir schliefen Rücken an Rücken, die Hintern aneinandergeschmiegt.“ Und dann natürlich ihr Wissen, oder das, was ich dafür hielt: „Es war … nicht so, dass ich armes Mädchen von einem bösen Fixer oder Dealer bewusst angefixt wurde, wie man es immer in Zeitungen liest. Ich kenne niemanden, der gegen seinen Wunsch angefixt wurde. Die meisten Jugendlichen kommen ganz allein zum H, wenn sie so reif dafür sind, wie ich es war.“
Würde ich eines Tages reif dafür sein? Es machte mir keine Angst. Zum einen, weil ich, wie Christiane F. gesagt hätte, vor Spritzen „einen urischen Horror“ hatte und mich daher sicher wähnte. Zum anderen, weil mir beim Lesen etwas zu wachsen schien, was man heute Resilienz nennt: Es war und ist ein Ereignis, Christiane F., die Protagonistin, dabei zu verfolgen, wie sie einen Tiefpunkt nach dem anderen auslotet, sich davon aber nicht entmutigen lässt, und Christiane F., der Erzählerin, dabei zuzuhören, wie hellsichtig und klar sie das beschreibt, ohne mit 16 auf ihren eigenen Bullshit als 13- oder 14-Jährige hereinzufallen. Ich glaube, dass Christiane F. für mich als verwirrtes Scheidungskind, das sich seine Traurigkeit nicht eingestehen mochte und durfte, eine Art unmittelbares Vorbild war: wenn Christiane DAS durchgestanden hat, dann dürfte es dir bitte nicht schwerfallen, JENES HIER abzuwickeln.
Zum anderen kam mir als romantischem, melancholischem Vorpubertierendem das charakteristisch Diffuse von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo entgegen. Zwar bemühen sich die beiden Stern-Reporter, mit eingeschobenen Protokollen der Mutter, eines Jugendpfarrers und einer Kriminalpolizistin sowas wie erhellenden familiären und gesellschaftlichen Kontext zu schaffen, aber letztendlich war das aus meiner damaligen Sicht langweiliges und ist aus meiner heutigen Sicht formloses Geschwafel: Wir leben in einer Gesellschaft. Die hilflosen Ausführungen der Erwachsenen verstärken nur den Eindruck des scheinbar Unausweichlichen: „Die meisten Jugendlichen kommen von allein zum H, wenn sie so reif dafür sind, wie ich es war.“ Das klingt nach einem fast mystischen, fast unabwendbaren Prozess: keine Orte für Kinder und Jugendliche in den Trabantenstädten, verständnislose Lehrer, und Eltern, die mit sich selbst beschäftigt sind. Ergo, Heroin.
Man erfährt aus Wir Kinder vom Bahnhof Zoo nichts über die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Gründe der Drogenkrise Mitte, Ende der Siebzigerjahre. Das wäre auch zu viel verlangt. Aber worum es geht, versteckt das Buch direkt an der Oberfläche: Damals fiel es mir nicht auf, weil Christiane es so salopp beschreibt, aber heute scheinen mir die Auslöser ihrer eigenen Krise in der Gewalt und im Alkoholismus des Vaters und in der nachvollziehbaren Überforderung der Mutter zu liegen, eingebettet in ein Umfeld, das gesellschaftlich bedingt keine Mechanismen gegen und keine Sensibilität für die epidemische Gewalt von Männern gegen Kinder und Frauen hat. Das Buch handelt, ohne es zu analysieren, so sehr von der Gewalt des Vaters, dass sich Christiane Felscherinow Jahrzehnte später für diese eine Sache entschuldigt in ihrem zweiten Buch: dass sie den Vater so bloßgestellt hat.
Es ist eine schockierende Erfahrung, Wir Kinder vom Bahnhof Zoo wiederzulesen mit der Erkenntnis: Es stand doch immer da. Wie schlecht die Eltern sie behandelt haben, vor allem und ganz zuerst der Vater. Warum habe ich damals nur die fast barocke Zwangsläufigkeitserzählung wahrgenommen, Drogensucht als Station auf dem sich ewig drehenden Rad jugendlichen Lebens Ende der Siebziger, mal ist man drauf, mal entzieht man, dann ist man wieder drauf, und so weiter? Vielleicht waren mir die eigenen Eltern, die sich gerade anschickten, meine Schwester und mich auf viele Arten und Weisen im Stich zu lassen, noch zu heilig, als dass ich mir mit elf oder zwölf hätte eingestehen mögen, wie intensiv das Buch von vor allem väterlicher Vernachlässigung und Misshandlung spricht. Heute macht es mich traurig, viel trauriger als damals. Ein kleines bisschen, stellvertretend, für mich, und sehr für die anfangs auch nur zwölfjährige Christiane. Übrigens glaube ich, dass ich sie damals, als kindlicher Leser, geliebt habe. Nicht romantisch, geschweige denn erotisch, sondern wie eine große Schwester, die ich damals in vielem suchte, was ich las: eine, die mich versteht, und die mehr weiß als ich, die mich kennt, und die mir abnimmt, der große Bruder sein zu müssen.
Wegen eines anderen Punktes aber bin ich nun, 2020, beim Wiederlesen enttäuscht von dieser Erzählerin, die ich damals mit meiner Idealisierung übermalte. Darf ich das? Mit 51 enttäuscht sein von einer 16-Jährigen? Natürlich nicht. Aber es geht auch nicht um sie oder mich. Es geht eher um die Bundesrepublik wie sie war und wie sie ist. Christianes Welt in Wir Kinder vom Bahnhof Zoo ist beherrscht von Hierarchien: Da sind zuerst die Eltern und die Lehrer, gegen die die entrechteten Kinder sich auflehnen. Über den normalen Kindern stehen die coolen Kiffer aus dem Jugendzentrum. Über den Kiffern dann nach kurzer Zeit jene, die schon Erfahrungen mit Heroin haben. Hier stehen erst die, die Heroin nur „sniefen“, über denen, die „drücken“. Das ändert sich schnell, dann sind die Fixer die „Stars“.
Als das Elend um sich greift, geht es schnell darum, wer noch weiter unter einem steht, dafür hat die Erzählerin einen präzisen Blick: Erst sind es die kaputten älteren Fixer, die, im Gegensatz zu ihr und ihrem Freund Detlef, schon richtig drauf sind und nur noch auf den „goldenen Schuss“ warten. Dann sind es die Freier: „Ich verachtete die Freier. Was für Idioten und perverse Säue mussten das sein, die da geil und feige durch die Bahnhofshalle schlichen und aus den Augenwinkeln nach frischem Kükenfleisch peilten.“ Und unter denen gibt es wiederum zwei Gruppen, die aus Sicht der jugendlichen Christiane ganz unten stehen: die besonders aufdringlichen schwulen Freier von Detlef, auf die sie eifersüchtig ist, und die sie deshalb an einigen Stellen schwulenfeindlich beschimpft: „Mensch, begreifst du nicht, Detlef gehört mir und sonst niemandem und schon gar keiner schwulen alten Sau.“
Noch allgemeiner und grundsätzlicher aber wird sie, wenn sie sich über als ausländisch markierte Männer äußert, die sie pauschal mit dem K-Wort belegt: „Als Detlef kurz mit einem anderen Jungen quatschte und ich einen Moment alleine stand, machten mich gleich irgendwelche K. an. Ich hörte nur ‚sechzig Mark‘ oder so was.“ Die Auslassung stammt von mir. Eine Errungenschaft der jüngeren Zeit. Christiane macht keinen Hehl daraus, sich vor allem dieser Gruppe von Freiern überlegen zu fühlen: „Die Freier machten mich anfangs noch wild. Vor allem die K. mit ihrem ewigen: ‚Du bumsen? … Du Pension gehen?‘ Zwanzig Mark boten manche. Nach kurzer Zeit machte es mir echt Spaß, die Typen anzumachen. Ich sagte: ‚He Alter, du spinnst wohl. Unter fünfhundert kommt einer wie du bei mir sowieso nicht ran.‘ … Das gab mir schon ein gutes Gefühl, wenn die geilen Säue dann die Schwänze einzogen und sich davonschlichen.“
Als sie ihren schlimmsten Rückfall hat, sind es keine Freier mehr, sondern Dealer, von denen sie sich mit dem K-Wort distanziert. Auf der Hasenheide, wohin sie aus dem Entzug ausgebüchst ist, trifft sie einen alten Bekannten. „Er brachte mich zu ein paar K. und ich kaufte ein halbes Halbes.“ Jetzt ändert sich ihre Wahrnehmung: „Auf der Hasenheide war es ganz egal, was für eine Droge man nahm. (…) Da waren Gruppen, die machten Musik auf Flöten oder Bongos. K. lagen da auch rum. Alle waren wie eine große, friedliche Gemeinschaft. Mich erinnerte das ganze Feeling hier an Woodstock, wo es ganz ähnlich gewesen sein musste. (…) Ich lernte dann auch den K. kennen, von dem ich am ersten Tag … das Dope gekauft hatte. Ich legte mich mal eben auf die Decke, auf der er mit ein paar anderen K. hockte. (…) Er hieß Mustafa und war Türke. Die anderen waren Araber. (…) Den Mustafa fand ich irgendwie sehr cool.“ Denn, wie sie wenig später beobachtet: „Ich merkte, dass diese K. echt mit Rauschgift umgehen konnten. (…) Ich lernte K. nun also mal ganz anders kennen. Nicht als Du-bumsen-Freier, die für Babsi, Stella und mich immer das Letzte gewesen waren. Mustafa und die Araber waren sehr stolz.“ Und so weiter. Bis zur Erkenntnis: „Ich kam drauf, dass K. den Deutschen irgendwo auch einiges vorhaushaben.“
Dieser Übergang von der tiefsten Verachtung zur faszinierten Idealisierung anhand gängiger Othering-Klischees (stolz, cool, beschützend), dem rassistischen Klischee vom edlen Wilden folgend, zieht sich bis in Christiane Felscherinows zweite Autobiographie von 2013, in der sie über einen griechischen Mann auf ähnlich exotisierende Weise schreibt. Und ohne irgendeine Reflexion ihrer damaligen Wortwahl. Die, so ergibt zumindest meine Suche in alten Rezensionen, auch damals, als Wir Kinder vom Bahnhof Zoo erschien, niemanden interessiert hat. Nicht genug, um Christianes Blick auf als ausländisch markierte Menschen zumindest nebenbei zum Thema zu machen. Auch in der ausführlichen aktuellen Analyse auf Wikipedia wird das Thema nicht aufgegriffen. Lediglich Tobias Rapp erwähnt den rassistischen Sprachgebrauch 2001 in einer kurzen taz-Kolumne, allerdings nur als fast nostalgisch wahrgenommenes Zeichen der Zeit.
Mir fällt es bei der Wiederlektüre 2020 auf, und es versetzt mir einen Stich, weil ich merke: die Christiane, die 1980 oder 81 meine Heldin war und die große Schwester, nach der ich mich sehnte, war ein ganz normales Kind ihrer Zeit, und ich auch. Man redete eben so, und es fiel niemandem auf. Wobei, meinen Eltern schon: Wenn meine Schwester oder ich berichteten, in der Schule sei das K-Wort gefallen, sagten meine Eltern, typische Liberale der See-No-Colours-Schule: Das dürfte man natürlich nicht sagen, und es sei, wenn man es sage, auch sinnlos, denn es bedeute „in der Südseesprache“ eh einfach „Mensch“, und Menschen seien wir ja alle. Ein Double-Bind, der mir als Kind nicht weiterhalf, bzw. mind-blown-Emoji: Man „darf“ es nicht sagen, aber „Menschen“, also K., sind wir alle, also hä?
Beim Wiederlesen von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo merke ich also nicht nur, dass es ein für meine Begriffe sehr gut protokollierter, mitreißender, anschaulich erzählter Text ist. Ich merke auch, was ich als überfordertes Scheidungskind bei dieser Heldin und dieser Erzählerin gesucht und gefunden habe, ihren Text damit überfordernd, und: mich und meinen Schmerz überhöhend. Und ich merke, wie sehr mich heute die rassistischen Diskurse der Bundesrepublik verstören, mit denen ich aufgewachsen bin, als wären sie das Normalste von der Welt. Letztendlich beschreibt Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, wie die Erzählerin aus einer als feindlich und eng empfundenen Welt in eine andere, idealisierte flieht, in der dann wieder nur Elend wartet. Dieses Elend besteht aber eben auch darin, dass in der Drogenwelt jene Diskurse und Machtstrukturen reproduziert werden, die die andere Welt überhaupt erst zur Hölle machen. Dass Rassismus ein fundamentaler Teil dieser Machtstrukturen ist, dafür hatten weder die Kinder, noch die Eltern, noch die Bestseller der Bundesrepublik eine Sprache.
Die Constantin Film hat für Amazon Prime “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo” gerade als 8-teilige Serie verfilmt, angekündigt für 2021. Die Produktionsfirma bewirbt das in die Jetzt-Zeit versetzte Projekt mit den Worten: “Die Geschichte der Kinder vom Bahnhof Zoo bietet seit der Erstveröffentlichung des Buches im Jahr 1978 Stoff für Diskussionen. Die Serie ist eine moderne und zeitgenössische Interpretation, inspiriert von den packenden Memoiren von Christiane F. und folgt sechs Jugendlichen, die ungestüm und kompromisslos für ihren Traum vom Glück kämpfen. Sie sind keine Opfer, sondern jung, mutig und stark und ihre Geschichte ist absolut berührend und mitreißend. In acht Folgen zeichnet „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ dabei ein ebenso provokatives, kontroverses wie eindrückliches Bild der Berliner Drogen- und Clubszene.”
Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, Stern-Buch, Hamburg 1978. Neuausgabe: Carlsen Verlag, Hamburg o.J.
Christiane V. Felscherinow, mit Sonja Vukovic: „Christiane F. – Mein zweites Leben”, Deutscher Levante Verlag, Berlin 2013
Ich bin aufgeregt. Nicht nur, weil mein erstes Theatererlebnis seit Wochen bevorsteht, sondern vor allem, weil ich so gar nicht weiß, was auf mich zukommt. Der Ort, an dem ich mich zehn Minuten vor Vorstellungsbeginn und mit aufgeladenem Smartphone einzufinden habe, ist mir zumindest gut bekannt: Gespielt wird heute in meinem Wohnzimmer. machina eX werden sich rechtzeitig bei mir melden, hat der freundliche Bot angekündigt, bei dem ich mich zuvor über die Messenger-App Telegram für einen Termin des durch aktuelle Ereignisse inspirierten kooperativen Wohnzimmer-Games Lockdown angemeldet habe. So warte ich jetzt also auf das, was machina eX mit mir vorhaben. Ein ungewohntes Gefühl. Denn der normale Ablauf eines Theaterbesuchs ist – zumindest im Stadt- und Staatstheater – meist doch weitestgehend berechenbar.
Ich kaufe eine Karte, bin zur vorgeschriebenen Zeit am vorgeschriebenen Ort, setze mich und hoffe vielleicht noch, dass die Regisseurin der heutigen Inszenierung keine Publikumspartizipation eingebaut hat, in deren Verlauf ich auf die Bühne gezogen werde. Aber wie oft kommt so etwas schon vor? Und selbst wenn: Sollte das Publikum tatsächlich einmal einbezogen werden, geschieht dies doch meist in einer vertrauten Form. Das Licht im Publikumsraum geht an, ein*e Zuschauer*in wird auf die Bühne geholt und muss dort eine meist sehr genau vorgegebene Aufgabe erfüllen, bevor sie oder er wieder in das Dunkel des Parketts entlassen wird. Wo der Einbezug des Publikums jenseits dieses konventionalisierten Musters erfolgt, ist es oft nicht weit bis zum Theaterskandal, wie 2006 die Geschehnisse um Gerhard Stadelmaiers Notizblock am Schauspiel Frankfurt zeigten.
Natürlich gibt es inzwischen auch am Stadttheater immersive Formate, die das Eintauchen des Publikums in die theatrale Situation genauso zum Programm erheben, wie sie ihm weitgehende Gestaltungskompetenzen für das gemeinsame Erlebnis einräumen. Meist handelt es sich dabei um spezifische Kooperationen, wie beispielsweise 2017/18 die zwischen dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg und dem dänisch-österreichischen Performancekollektiv SIGNA, das für die Hansestadt die Performance-Installation Das halbe Leid entwickelte. Dabei konnten sich interessierte Über-18-Jährige für zwölf Stunden ein Bett in einer heruntergekommenen Hamburger Fabrikhalle mieten und während dieser langen Zeit das Ungemach eines leidenden Mentors oder einer leidenden Mentorin teilen. Aber solche Produktionen bleiben doch Ausnahme in einem Theatersystem, in dem schon aus historischen Gründen die meisten Häuser über eine große Guckkastenbühne verfügen, die nun einmal bespielt werden will. So sitzt man im Dunkeln des Parketts also doch recht komfortabel und sicher – sicher sowohl vor performenden Übergriffen aus dem Bereich der Bühne als auch vor der künstlerischen Verantwortung für den Vorstellungsverlauf.
Digitale Schnitzeljagd
Aber heute ist das anders. Die ungewöhnliche Genrebezeichnung “kooperatives Wohnzimmer-Game” macht bereits klar, dass bei LOCKDOWN gespielt wird – und zwar nicht für mich, sondern von und mit mir. Denn Projekte an der Grenze zwischen Theater und Spiel sind die Spezialität des Medientheaterkollektivs machina eX. Das Team, das aus den kulturwissenschaftlichen Studiengängen der Universität Hildesheim hervorgegangen ist, hat seit 2010 verschiedenste Projekte verwirklicht, die vielleicht als Gamifizierung des Theaters – oder als Theatralisierung des Gamings – bezeichnet werden können. Ihr Erkennungsmerkmal ist ein genau konstruierter Aktionsraum, in den die Spieler*innen geführt werden, um Rätsel zu lösen und Aufgaben zu bewältigen, was machina eX zu den Begründer*innen der Live-Escape-Games in Deutschland macht. Ihr Projekt 15 000 Gray von 2011, das ihnen verschiedene Preise und Festivaleinladungen einbrachte, geht den ersten kommerziellen Angeboten derartiger Spiele in Deutschland deutlich voraus.
Zugang zu diesen konstruierten Aktionsräumen verschafft mir heute in Zeiten des titelgebenden Lockdowns keine Eintrittskarte, sondern mein Smartphone. Die Idee, dessen theatrale Potenziale zu erkunden, ist nicht neu. Laut eigener Aussage schuf die Gruppe Rimini Protokoll mit ihrem Theaterprojekt Call Cutta 2005 „the world’s first mobile phone theatre“. Geführt von einer körperlosen Stimme aus dem indischen Callcenter erkundeten dabei Theatergänger*innen ihre Umgebung; außer für Kolkata wurde das Projekt auch für Berlin entwickelt. Die so Angeleiteten erhielten nicht nur eine neue Perspektive auf Stadt und Stadtgeschichte, sondern versuchten auch, die Person am anderen Ende des Hörers kennenzulernen. Ich aber werde heute weder angerufen noch auf einen Stadtspaziergang an der frischen Luft mitgenommen. Stattdessen erklärt mir eine kurze Telegram-Nachricht grob die technischen Spezifika des Wohnzimmer-Games – um zu lernen, wie ich andere Nachrichten zitiere und die Chat-Einladungen fremder Nummern akzeptiere, werden mir „5 bis 10 Minuten“ zugestanden. Dann geht es auch schon los.
Zu Spielbeginn finde ich mich mit meinen zwei Mitspieler*innen in die Telegram-Gruppe einer Düsseldorfer WG versetzt, in der wir von Chris begrüßt werden. Der ist laut seiner Bio „Food Lover, Robot Lover, Traveler at heart“ – und, wie ich schnell herausfinde, ein Bot. Kein Mensch kann so schnell tippen wie er uns Bilder der WG, Fragen nach dem momentanen Befinden, Erzählungen von den kulinarischen Höhepunkten der letzten Tage und Sprachnachrichten über nervige „Telkos“ auf den Bildschirm ballert. Bald ist die Aufgabe klar, die wir in den nächsten zwei Stunden bewältigen müssen: Unsere Mitbewohnerin Tess ist weg! Und wir sollten sie möglichst wiederfinden. Während meine zwei Mitstreiter*innen und ich also Telefonate führen, Düsseldorf auf noodlemaps näher kennenlernen, Rechenaufgaben lösen und Papierschnitzelcodes dechiffrieren, um unseren Bot Chris mit immer neuen Erkenntnissen, Stichworten, Fotos und Richtungsanweisungen zu füttern, entfaltet sich tatsächlich das Gefühl von Schnitzeljagd, welches wohl auch Besucher*innen in die analogen Escape Rooms treibt.
Ist also LOCKDOWN nur ein digitaler Knobelspaß? Selbst wenn, böte das Spiel in Wochen, in denen wir alle vermehrt Zeit in den eigenen Wohnzimmern verbringen, doch zumindest die nicht zu verachtende Möglichkeit digitaler Stadterkundungen durch Finger-Flanerie auf dem Smartphone-Screen. Dass aber an dem als „kriseninspirierte[-] Spontanproduktion“ angekündigten Projekt mehr dran sein könnte, deutet schon seine Rahmung an. So entstand das Smartphone-Spiel als eine Koproduktion von machina eX mit dem Forum Freies Theater (FFT) Düsseldorf und wurde im Zuge des Online-Symposiums ON/LIVE – Das Theater der Digital Natives veranstaltet. In diesem Sinne steht LOCKDOWN zumindest mittelbar in einem Theaterkontext und nicht zuletzt der Selbstanspruch von machina eX, „an der Schnittstelle von Theater und Computerspiel“ zu forschen, erlaubt die Frage: Was an der digitalen Schnitzeljagd nach Tess ist eigentlich theatral? Wo ist das Theater im Game?
Getauschte Rollen
Die sich an diese Fragen unmittelbar anschließende Überlegung, was Theater eigentlich ist, kann spezifisch höchstens für einen konkreten historischen Zeitpunkt innerhalb einer konkreten kulturellen Konstellation beantwortet werden. Als Minimaldefinition bietet sich aber die Beschreibung des theatralen Ereignisses als unwiederholbare künstlerische Erfahrung an, die verschiedene Menschen in räumlicher Ko-Präsenz und damit auch Gleichzeitigkeit nicht nur machen, sondern teilen. Bedingt wird diese Erfahrung durch Austauschprozesse, beispielsweise zwischen Darsteller*innen und Publikum oder auch zwischen einzelnen Zuschauer*innen. Egal zu welcher Zeit oder in welchem Raum, Theater ist nicht zuletzt eine künstlerische Kommunikationsform. Die Ausgestaltung dieser theatralen Kommunikation erfolgt in den Institutionen, an die die meisten Menschen beim Begriff ‚Theater‘ denken, oft auf sehr ähnliche Weise. Schauspieler*innen auf der Bühne spielen, Zuschauende im Publikumsraum schauen. Wie aber, wenn sich das Verhältnis umkehrt?
Es ist diese Umkehrung der Kommunikationssituation, die in den Arbeiten von machina eX programmatisch inszeniert wird. In ihrer Übertragung der Ästhetik und Mechanik von digitalen Point-and-Click-Adventures in den analogen Raum macht das Medientheaterkollektiv die Zu-Schauer*innen zu Mit-Spieler*innen. Die Verantwortung für das Gelingen des Abends liegt damit nicht auf der Bühne, sondern bei den Besucher*innen selbst, die sich nicht zurücklehnen und eine Aufführung an sich vorüberziehen lassen können, sondern aktiv zur Fortentwicklung des Geschehens beizutragen haben.
Auch in den Projekten von machina eX gibt es dabei oft professionelle Darsteller*innen, doch ihre Rolle ist eine andere: Sie entwickeln das im Spiel angelegte Narrativ ohne Impulse von den Spielenden nicht weiter und verweigern meistens darüber hinaus auch improvisierte Kommunikation. Stattdessen warten sie mal mehr, mal weniger geduldig auf die Problemlösungsangebote der Besucher*innen. Diese werden so zu Spieler*innen nach einem ihnen unbekannten Drehbuch und dabei von den Darsteller*innen sogar noch beobachtet. Die theatralen Rollenverhältnisse haben sich umgekehrt. Eine Verweigerung von Aktivität wird somit unmöglich, ähnlich wie in den Performances von SIGNA finden sich die Mitspieler*innen als aktiver Bestandteil der Inszenierung in die Pflicht genommen. Doch anders als bei Projekten der dänisch-österreichischen Performancegruppe, in denen meist eine Heerschar von Schauspieler*innen das Publikum (teils sogar wörtlich) an die Hand nimmt und ihm durch vielfältige Kommunikationsangebote ein Eintauchen in die so detailliert inszenierte Welt ermöglicht, erscheinen die theatralen Raumentwürfe von machina eX – und hier möchte ich der Selbstbeschreibung der Gruppe widersprechen – nicht im eigentlichen Sinne immersiv, sondern gescriptet.
Durch den derart vorgezeichneten Ereignisablauf des gamifizierten Theaters werden die Mitspieler*innen auf die Kommunikation untereinander zurückgeworfen, die im Publikumsraum während der Aufführung sonst kaum eine Rolle spielt, ja sogar sanktioniert wird. Strukturiert ist diese Kommunikation nicht von den raumgewordenen Konventionen der Guckkastenbühne, die den rezeptiv-aufmerksamen Kunstgenuss einfordern, sondern durch die Logik des Spiels. Ein meist von Anfang an bekanntes Ziel muss durch kooperatives Problemlösen Schritt für Schritt erreicht werden. So entwickelt sich nach und nach das in der Inszenierung angelegte Narrativ. Dass dieser Prozess aber nicht nur als Gamifizierung des Theaters, sondern zugleich auch als Theatralisierung des Games gelesen werden kann, liegt in der körperlichen Ko-Präsenz der Mitspieler*innen begründet, die in ihrem Handeln das unwiederholbare Ereignis gemeinsamer ästhetischer Erfahrung hervorbringen. Damit lösen machina eX auch ihren Anspruch ein, Kunst an der Schnittstelle zwischen Theater und Computerspiel zu machen. Ihre Theater-Games sind Versuchsanordnungen, die die gängige Strukturierung der theatralen Kommunikation genauso wie aktive und passive Rollenverteilungen teils auflösen, teils umkehren – und damit hinterfragbar machen.
Mit-Spielen statt Zu-Schauen
Aus dieser Perspektive gewinnt auch das kooperative Wohnzimmer-Game LOCKDOWN nochmals an besonderem Reiz. Denn in rein ästhetischer Betrachtungsweise ergeben sich zunächst durchaus Fragen bezüglich der Konzeption des Projekts. So besteht vielleicht der größte Gewinn der Arbeiten von machina eX normalerweise in der Übertragung von Handlungslogiken und Ästhetiken der Gaming-Welt ins Analoge. Die penibel eingerichteten Spiel-Räume vermitteln das Gefühl, in eine verfremdete Welt einzutreten, deren Funktionsweisen und Kommunikationsregeln man eigentlich nur aus dem Computerspiel kennt. Im Falle von LOCKDOWN wird diese Ästhetik aber ungebrochen im digitalen Raum belassen, was der Versuchsanordnung auf den ersten Blick einiges an Potenzial nimmt. Und doch stellt dasWohnzimmer-Game letztlich eine Radikalisierung der Strukturierung theatraler Kommunikation dar, wie sie machina eX in ihren analogen Produktionen inszenieren. Denn die Darsteller*innen, die im analogen Raum wie Bots auf bestimmte Stichwörter oder Handlungen der Spieler*innen reagieren, sind hier tatsächlich programmierte Nicht-Spieler-Charakter (NPCs), deren schematische Reaktion auf die Ansprache im Chat gar nicht den Versuch aufkommen lässt, die weitergehende Kommunikation mit ihnen zu versuchen.
Der einzig mögliche Austausch ist damit der zwischen den drei Mitspieler*innen, welcher letztlich auch über den Spaß am theatralen Erlebnis entscheidet. Nur wenn die drei wirklich gemeinsam an der Lösung des Rätsels um Tess arbeiten, nur wenn sie sich über den Inhalt der einzeln geführten Telefongespräche und Chat-Unterhaltungen austauschen, haben die Spielenden eine Chance, am Ende der zwei Stunden die ganze Geschichte zu verstehen. Bleibt diese Kommunikation aus oder wird sie auf ein Minimum beschränkt, endet die Veranstaltung wie ein durchhetztes Computerspiel: Den Regeln und Zielvorgaben nach irgendwie erfolgreich, aber ohne ein eigentliches Erleben der Geschichte, die die Spielmechanik vermitteln sollte. Dass einen solchen Ausgang keine mit dem idealen Ablaufskript vertrauten Darsteller*innen mehr retten können, ist das Risiko, das eine Abgabe der vollen Verantwortung für das theatrale Ereignis an die Spieler*innen mit sich bringt.
Ob die Erfahrung theatraler Publikumsermächtigung dieses Risiko wert ist, muss jede*r potenzielle Mitspieler*in selbst für sich entscheiden. Auch am 17.05.2020 darf Tess nochmals gesucht und hoffentlich gefunden werden, zusätzliche Termine sind geplant (und werden von 54Books auf Twitter bekanntgegeben). Potenzielle WG-Mitbewohner*innen sollten sich jedoch über eines im Klaren sein: „Ich bin aber nicht im Theater, um mitzumachen. Ich gehöre nicht zum Theater“ – die Möglichkeit, die Haltung einzunehmen, mit der der große Gerhard Stadelmaier 2006 den Abbruch seines Theaterabends in Frankfurt begründete, haben Spielende von LOCKDOWN nicht. Belohnt werden sie mit der vielleicht ganz neuen Erfahrung, Verantwortung für das theatrale Ereignis nicht nur scheinbar, sondern in aller Konsequenz zu tragen, von Zu-Schauenden zu Mit-Spielenden zu werden.
Es ist die Zeit der Spaziergänge. Auf den Gehwegen, in Parks, Wäldern, an Kanälen und Flüssen flanieren Menschen, einzeln oder zu zweit, auf jeden Fall in Kleingruppen, und versuchen, an die frische Luft zu kommen, die eigenen vier Wände zu verlassen und sich nicht zu berühren. Die Innenstädte sind seit Wochen merkwürdig leer und ruhig. Dort, wo sonst Touristenbusse in Schlange stehen und ihre Dieselmotoren laufen haben, ist nun Platz. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Städten erkunden ihre eigenen Altstädte und Sehenswürdigkeiten, zumindest von außen.
Im Lustgarten auf der Museumsinsel in Berlin, wo sonst vor Reisenden kein Durchkommen ist, kann man gerade gemütlich in der Sonne sitzen. Und auf dem verwaisten Gendarmenmarkt hat eine Nachbarin mit ihrer Tochter Federball gespielt. Wir sind mit unserer Familie die Treppen zum Konzerthaus hoch- und heruntergerannt, zur sportlichen Ertüchtigung, neben uns eine Arabisch sprechende Mutter mit drei Kindern. Die Stadt empfängt ihre Bewohner! Im Görlitzer Park wird nicht gegrillt, sondern gepicknickt, geschlafen, gelesen, und im Treptower Park sehe ich oft Tai-Chi- oder Yogagruppen, Eltern mit Kindern, gemütlich gehende ältere Leute.
Wer kann, ist jetzt viel draußen.
Aber sobald es auf einem Gehweg enger wird, passiert etwas: Ich habe es schon oft erlebt, dass ich beim Flanieren die mir Entgegenkommenden abscanne, überlege, in welche Richtung sie ausweichen, und dass ich dann in einem großen Bogen um sie herumlaufe, je nach Bedarf. Eine ältere Dame, die das auch so machte, musste neulich laut lachen und rief mir zu: „Wir laufen Slalom!“ Ja, Corona kann uns auch erheitern. Wir schauen uns in die Augen und nehmen den anderen wahr, der uns vielleicht begegnen könnte. Jedoch liegt die Betonung auf dem vielleicht. Denn das Vielleicht ist ja das Problem. Wir nehmen die anderen wahr, damit diese anderen uns eben NICHT begegnen. Damit sie uns fernbleiben und nicht berühren und uns vielleicht nicht anstecken.
Wenn Jogger, deren Zahl auch genauso zugenommen hat wie die der Spazierenden, so dass der Eindruck entsteht, Joggen sein das neue Clubben, wenn diese Jogger, und es sind vor allem männliche Jogger, sich also von hinten nähern, höre ich schon ihren Atem, ihr Keuchen. Und ich hoffe inständig, dass sie mir nicht in den Nacken hauchen werden, wie Corona-Vampire, sondern dass auch sie in ordentlichem Bogen um mich herumlaufen werden. Was sie leider nicht immer tun. „Die Hölle, das sind die anderen“, lautet ein Zitat aus Sartres Stück Geschlossene Gesellschaft und derzeit ist das deutlicher als sonst. Die anderen sind potenzielle Ansteckungsrisiken, eigentlich immer schon, aber jetzt besonders.
Ich lebe in einem Haushalt mit zwei Kindern, einem Schul- und einem Kindergartenkind und die potenziellen Ansteckungsrisiken durch die anderen sind uns, wie allen, die jeden Tag öffentliche Kinderbetreuungseinrichtungen aufsuchen, wohlbekannt. Wie oft kommen wir Eltern morgens zu der Kita oder nachmittags zum Hort und können uns an Schildern erfreuen, die informieren: „Wir haben Hand-Fuß-Mund, Masern, Brechdurchfall und Läuse in der Einrichtung.“ Dann betritt man beherzt die angekündigt durchseuchte Luft, knuddelt sein Kind, redet mit den freundlichen Betreuerinnen und Betreuern und geht nach Hause.
Seit Corona, seit der Schul- und Kitaschließung, in der nun neunten Coronawoche, die auch zwei Wochen Osterferien enthielt, hatten wir keine Erkältung, keine Krankheit mehr zu Hause. Ja, die anderen sind immer eine Ansteckungsgefahr, und auch ohne Corona sollten kranke Kinder zu Hause bleiben und auch ohne Corona sollten Schulen mit ordentlichen Sanitäranlagen ausgestattet sein, wo es Seife und Papierhandtücher gibt, sollte das Reinigungspersonal auch Klinken desinfizieren. Einfach, damit nicht alle ständig krank sind.
Ein guter Corona-Effekt: Jetzt sind wir also fast immer zu Hause und seitdem gesund.
Wir sehen in den Nachrichten, wie das Virus funktioniert, wie es sein Überleben und seine Weiterverbreitung organisiert und wie die Behörden und Expertinnen und Experten Ratschläge zur Eindämmung und Kurvenabflachung geben. Wie sich diese mikroskopisch kleine Kugel, die mich in der Vergrößerung auch immer an einen Kugelfisch denken lässt, durch den Atem, durch Tröpfchen von Wirtsperson zu Wirtsperson übertragen lässt. So unsichtbar und so mächtig. So mächtig, dass die Angst vor Corona geschafft hat, was sonst bisher niemand geschafft hat: bessere Luft, klare Sternenhimmel, Drosselung von Abgasen durch stillgelegte oder weniger arbeitende Industrien, weniger Flug- und Autoverkehr, mehr Fahrräder auf den Straßen – so dass derzeit auch schon temporäre Fahrradwege auf Auto-Fahrspuren eingerichtet wurden.
Weniger Konsum, weil weniger Konsummöglichkeiten. Mehr Bewusstsein für das, was wir wirklich brauchen und was unter dem Wort „Systemrelevanz“ zusammengefasst wird. Mehr Wissen darum, dass in den systemrelevanten Berufen wie Pflege, Bildung und Kinderbetreuung sowie Einzelhandel zu 80 Prozent Frauen arbeiten. Corona ist ein Stachel der Erkenntnis. Viele, mit denen ich spreche, wünschen sich jetzt und p.C., post Corona, eine Anpassung unserer Lebensorganisation anhand dieser Erkenntnisse. Mehr grüne und vielfältig, nicht monokulturell bepflanzte Naherholungsflächen, mehr Zeit füreinander, also mehr Home Office und Teilzeit, eine bessere Entlohnung der systemrelevanten Tätigkeiten und auch hier mehr Teilzeitjobs, mehr kleine Geschäfte als riesige Malls, mehr Spielstraßen, klare und sichere Radwege, beruhigten Verkehr, mehr regionale Landwirtschaft statt globale Handelsketten, die ja, und darüber müssen wir auch sprechen, ein Grund für globale Pandemien sind.
Brauchen wir alles immer jetzt und gleich und sofort?
Oder reicht auch weniger übermorgen und vielleicht?
Trotz all dieser positiven Effekte ist der auffälligste Coronaeffekt aber einer, der politisch hochbrisant ist. Es ist die Angst vor dem anderen, die Corona auslöst. Die sich im extremsten Fall in Grenzschließungen äußert. Diese Angst verhindert genau das Gute, das möglich wäre, also dass wir solidarischer werde und zueinander stehen. Diese Angst bewirkt das Gegenteil: Dass wir uns voneinander körperlich fernhalten, sogar entfernen, uns nicht umarmen, berühren, die Hand geben dürfen. Großeltern dürfen und wollen ihre Enkelkinder und sonstigen Familienmitglieder nicht sehen. Jugendliche dürfen ihre Freundinnen und Freunde nicht sehen oder zum Sport und Spielen treffen. Nachbarn nur von Tür zu Tür miteinander sprechen. Sterbende und Schwerkranke dürfen kaum noch Besuch empfangen und sind einsam am Ende. Trauerfeiern finden unter schweren Auflagen statt. Isolierte sind jetzt noch Isolierter. Es fehlt das Haut an Haut.
Natürlich wird versucht, ein Miteinander digital herzustellen und das ist auch gut und man sieht auch hier, dass diese Mittel und Wege bisher in vielen Bereichen, insbesondere in Bürojobs und in der Lehre sehr stiefmütterlich behandelt wurden. Wie viele Online-Konferenztools haben wir mittlerweile ausprobiert und teilweise exzessiv: Ich nehme an meinem Tanzkurs jede Woche per Zoom teil, sehe meine Tanzlehrerin in ihrem Wohnzimmer und alle Schlafzimmer und Flure meiner Tanzkolleginnen.
Die Grundschulklassenlehrerin lädt über einen Elternvertreter die Klasse ebenfalls zu Zoom ein. Sie selbst darf es nicht tun, da dieses Programm Sicherheitsrisiken enthält und so die Teilnahme keine schulverpflichtende ist. Lehrerinnen und Lehrer haben selten (oder nie?) berufliche E-Mailadressen von ihrer Schule und dazu gehörige Video-Konferenztools oder Cloud-Zugänge, wo man geordnet Material zum Lernen hinterlegen könnte, jeder mogelt sich jetzt gerade so durch, je nach Fähigkeit, Ausstattung und Motivation. Mit den Großeltern und anderen Verwandten sprechen wir auf Skype, was aber auch ein zweistündliches Installationstelefonat benötigte. Ostern haben wir eine familiäre und bis zu den Paten reichende Osternacht per Jitsy gefeiert, mit dem Effekt, dass eine Tante für ein Stunde „eingefroren“ war, was sie aber nicht störte, da sie uns zwar nicht gut hörte, aber sah. Und das war für sie schon etwas. Die Kinder verabreden sich nicht mehr zum Spielen sondern zum Telefonieren oder Facetimen.
Wir gingen auf Distanz. Wir sind auf Distanz.
Das Symbol dieser Angst vor den anderen ist die Maske. Kannten wir sie eher als Verkleidungsutensil beim Fasching, als zeitgenössisches Symbol für die Luftverschmutzung in meist asiatischen Großstädten oder als ein Utensil aus dem möglichst steril arbeitenden Krankenbetrieb z.B. in der Chirurgie ist sie nun zu einem begehrten Alltagsprodukt geworden. Zunächst lief der Verkauf mit medizinischen Masken über Online-Shops so gut an, so dass sich einige eine goldene Nase verdienen konnten. Dann hörte man von gigantischen Maskenbestellungen der Bundesregierung. In Krankenhäusern wie in der Charité fingen Mitarbeiter an, Masken und Desinfektionsmittel zu entwenden. Ich habe Berichte von Pflegerinnen gelesen, die ihre Masken mehrmals nutzen müssen, weil es zu wenige gibt. Kioske in Berlin, die die Grundbedürfnisse der Bevölkerung wohl am besten im Blick haben, bieten derzeit neben den Dauerbrennern Alkohol, Zigarette, Schoko nun auch Masken und selbstverständlich Klopapier an.
Die Maske ist nun also ein Alltagsgegenstand geworden. Bei uns hängen selbstgenähte Masken am Schlüsselbrett, damit man sie für den Einkauf nicht vergisst mitzunehmen. Menschen mit Nähmaschine fertigen sie für ihre Freundinnen und Freunde, verkaufen sie per Facebook oder auf Plattformen für Selbstgemachtes wie auf Dawanda oder von Hand zu Hand unter Bekannten. Der Second-Hand-Laden Vintage Berlin verkauft durch das Fenster. Die Buchhandlung Leseglück in Kreuzkölln bietet an der Kasse Masken an, die eine Kundin herstellt. All dies ist eigentlich eine schöne Geschichte über Nachbarschaftshilfe, Tauschgeschäfte, kleine Ökonomien, Kiez-Kulturen, Handwerk, etwas, was wir viel mehr bräuchten und was sich den großen Monopol-Ökonomien mit Ideenreichtum und Freundlichkeit entgegenstellt.
Die Masken sind so beliebt, dass man sie schon überall in Selfies einbaut. Ich möchte daher sehr laut rufen: Bitte keine Masken-Fotos mehr. Wir haben schon genug davon gesehen! Die Maske ist schon zu einem Fashion Statement geworden. Die Farbe wird passend zum Outfit gewählt oder sie besticht durch ein besonderes Muster. In Kreuzberg habe ich sogar schon Aufnäher dort entdeckt, wo der Mund sein müsste, die Masken rufen uns zu: „Fck Corona“, „Fck Nazis“ oder zeigen eine herausgestreckte Rolling-Stones-Zunge.
Ich frage mich, was passiert, wenn wir vom anderen nur noch die Augen sehen? Sind Augen, wie man so sagt, der Spiegel der Seele? Werden wir gut darin werden, in den Augen der anderen zu lesen? Das wäre dann noch ein erfreulicher Corona-Effekt. Doch: Kommen wir uns mit Maske überhaupt so nah, dass wir uns in die Augen sehen könnten? Werden wir hinter der Maske überhaupt noch lächeln, wenn es keiner sieht? Oder werden wir gut darin, leichte Wellenbewegungen auf dem Stoff als Mimik zu lesen? Oder bleiben wir schlicht auf 1,5 Meter Abstand?
Werden wir uns nach Corona wieder die Hände schütteln?
Werden wir uns erschrecken, wenn wir einen fremden Mund sehen?
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