Kategorie: Feuilleton

Der Corona-Effekt: Die Angst vor dem anderen

von Nikola Richter

 

Es ist die Zeit der Spaziergänge. Auf den Gehwegen, in Parks, Wäldern, an Kanälen und Flüssen flanieren Menschen, einzeln oder zu zweit, auf jeden Fall in Kleingruppen, und versuchen, an die frische Luft zu kommen, die eigenen vier Wände zu verlassen und sich nicht zu berühren. Die Innenstädte sind seit Wochen merkwürdig leer und ruhig. Dort, wo sonst Touristenbusse in Schlange stehen und ihre Dieselmotoren laufen haben, ist nun Platz. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Städten erkunden ihre eigenen Altstädte und Sehenswürdigkeiten, zumindest von außen.

Im Lustgarten auf der Museumsinsel in Berlin, wo sonst vor Reisenden kein Durchkommen ist, kann man gerade gemütlich in der Sonne sitzen. Und auf dem verwaisten Gendarmenmarkt hat eine Nachbarin mit ihrer Tochter Federball gespielt. Wir sind mit unserer Familie die Treppen zum Konzerthaus hoch- und heruntergerannt, zur sportlichen Ertüchtigung, neben uns eine Arabisch sprechende Mutter mit drei Kindern. Die Stadt empfängt ihre Bewohner! Im Görlitzer Park wird nicht gegrillt, sondern gepicknickt, geschlafen, gelesen, und im Treptower Park sehe ich oft Tai-Chi- oder Yogagruppen, Eltern mit Kindern, gemütlich gehende ältere Leute.

Wer kann, ist jetzt viel draußen.

Aber sobald es auf einem Gehweg enger wird, passiert etwas: Ich habe es schon oft erlebt, dass ich beim Flanieren die mir Entgegenkommenden abscanne, überlege, in welche Richtung sie ausweichen, und dass ich dann in einem großen Bogen um sie herumlaufe, je nach Bedarf. Eine ältere Dame, die das auch so machte, musste neulich laut lachen und rief mir zu: „Wir laufen Slalom!“ Ja, Corona kann uns auch erheitern. Wir schauen uns in die Augen und nehmen den anderen wahr, der uns vielleicht begegnen könnte. Jedoch liegt die Betonung auf dem vielleicht. Denn das Vielleicht ist ja das Problem. Wir nehmen die anderen wahr, damit diese anderen uns eben NICHT begegnen. Damit sie uns fernbleiben und nicht berühren und uns vielleicht nicht anstecken.

Wenn Jogger, deren Zahl auch genauso zugenommen hat wie die der Spazierenden, so dass der Eindruck entsteht, Joggen sein das neue Clubben, wenn diese Jogger, und es sind vor allem männliche Jogger, sich also von hinten nähern, höre ich schon ihren Atem, ihr Keuchen. Und ich hoffe inständig, dass sie mir nicht in den Nacken hauchen werden, wie Corona-Vampire, sondern dass auch sie in ordentlichem Bogen um mich herumlaufen werden. Was sie leider nicht immer tun. „Die Hölle, das sind die anderen“, lautet ein Zitat aus  Sartres Stück Geschlossene Gesellschaft und derzeit ist das deutlicher als sonst. Die anderen sind potenzielle Ansteckungsrisiken, eigentlich immer schon, aber jetzt besonders.

Ich lebe in einem Haushalt mit zwei Kindern, einem Schul- und einem Kindergartenkind und die potenziellen Ansteckungsrisiken durch die anderen sind uns, wie allen, die jeden Tag öffentliche Kinderbetreuungseinrichtungen aufsuchen, wohlbekannt. Wie oft kommen wir Eltern morgens zu der Kita oder nachmittags zum Hort und können uns an Schildern erfreuen, die informieren:  „Wir haben Hand-Fuß-Mund, Masern, Brechdurchfall und Läuse in der Einrichtung.“ Dann betritt man beherzt die angekündigt durchseuchte Luft, knuddelt sein Kind, redet mit den freundlichen Betreuerinnen und Betreuern und geht nach Hause.

Seit Corona, seit der Schul- und Kitaschließung, in der nun neunten Coronawoche, die auch zwei Wochen Osterferien enthielt, hatten wir keine Erkältung, keine Krankheit mehr zu Hause. Ja, die anderen sind immer eine Ansteckungsgefahr, und auch ohne Corona sollten kranke Kinder zu Hause bleiben und auch ohne Corona sollten Schulen mit ordentlichen Sanitäranlagen ausgestattet sein, wo es Seife und Papierhandtücher gibt, sollte das Reinigungspersonal auch Klinken desinfizieren. Einfach, damit nicht alle ständig krank sind. 

Ein guter Corona-Effekt: Jetzt sind wir also fast immer zu Hause und seitdem gesund.

Wir sehen in den Nachrichten, wie das Virus funktioniert, wie es sein Überleben und seine Weiterverbreitung organisiert und wie die Behörden und Expertinnen und Experten Ratschläge zur Eindämmung und Kurvenabflachung geben. Wie sich diese mikroskopisch kleine Kugel, die mich in der Vergrößerung auch immer an einen Kugelfisch denken lässt, durch den Atem, durch Tröpfchen von Wirtsperson zu Wirtsperson übertragen lässt. So unsichtbar und so mächtig. So mächtig, dass die Angst vor Corona geschafft hat, was sonst bisher niemand geschafft hat: bessere Luft, klare Sternenhimmel, Drosselung von Abgasen durch stillgelegte oder weniger arbeitende Industrien, weniger Flug- und Autoverkehr, mehr Fahrräder auf den Straßen – so dass derzeit auch schon temporäre Fahrradwege auf Auto-Fahrspuren eingerichtet wurden.

Weniger Konsum, weil weniger Konsummöglichkeiten. Mehr Bewusstsein für das, was wir wirklich brauchen und was unter dem Wort „Systemrelevanz“ zusammengefasst wird. Mehr Wissen darum, dass in den systemrelevanten Berufen wie Pflege, Bildung und Kinderbetreuung sowie Einzelhandel zu 80 Prozent Frauen arbeiten. Corona ist ein Stachel der Erkenntnis. Viele, mit denen ich spreche, wünschen sich jetzt und p.C., post Corona, eine Anpassung unserer Lebensorganisation anhand dieser Erkenntnisse. Mehr grüne und vielfältig, nicht monokulturell bepflanzte Naherholungsflächen, mehr Zeit füreinander, also mehr Home Office und Teilzeit, eine bessere Entlohnung der systemrelevanten Tätigkeiten und auch hier mehr Teilzeitjobs, mehr kleine Geschäfte als riesige Malls, mehr Spielstraßen, klare und sichere Radwege, beruhigten Verkehr, mehr regionale Landwirtschaft statt globale Handelsketten, die ja, und darüber müssen wir auch sprechen, ein Grund für globale Pandemien sind.

Brauchen wir alles immer jetzt und gleich und sofort? 

Oder reicht auch weniger übermorgen und vielleicht?

Trotz all dieser positiven Effekte ist der auffälligste Coronaeffekt aber einer, der politisch hochbrisant ist. Es ist die Angst vor dem anderen, die Corona auslöst. Die sich im extremsten Fall in Grenzschließungen äußert. Diese Angst verhindert genau das Gute, das möglich wäre, also dass wir solidarischer werde und zueinander stehen. Diese Angst bewirkt das Gegenteil: Dass wir uns voneinander körperlich fernhalten, sogar entfernen, uns nicht umarmen, berühren, die Hand geben dürfen. Großeltern dürfen und wollen ihre Enkelkinder und sonstigen Familienmitglieder nicht sehen. Jugendliche dürfen ihre Freundinnen und Freunde nicht sehen oder zum Sport und Spielen treffen. Nachbarn nur von Tür zu Tür miteinander sprechen. Sterbende und Schwerkranke dürfen kaum noch Besuch empfangen und sind einsam am Ende. Trauerfeiern finden unter schweren Auflagen statt. Isolierte sind jetzt noch Isolierter. Es fehlt das Haut an Haut. 

Natürlich wird versucht, ein Miteinander digital herzustellen und das ist auch gut und man sieht auch hier, dass diese Mittel und Wege bisher in vielen Bereichen, insbesondere in Bürojobs und in der Lehre sehr stiefmütterlich behandelt wurden. Wie viele Online-Konferenztools haben wir mittlerweile ausprobiert und teilweise exzessiv: Ich nehme an meinem Tanzkurs jede Woche per Zoom teil, sehe meine Tanzlehrerin in ihrem Wohnzimmer und alle Schlafzimmer und Flure meiner Tanzkolleginnen.

Die Grundschulklassenlehrerin lädt über einen Elternvertreter die Klasse ebenfalls zu Zoom ein. Sie selbst darf es nicht tun, da dieses Programm Sicherheitsrisiken enthält und so die Teilnahme keine schulverpflichtende ist. Lehrerinnen und Lehrer haben selten (oder nie?) berufliche E-Mailadressen von ihrer Schule und dazu gehörige Video-Konferenztools oder Cloud-Zugänge, wo man geordnet Material zum Lernen hinterlegen könnte, jeder mogelt sich jetzt gerade so durch, je nach Fähigkeit, Ausstattung und Motivation. Mit den Großeltern und anderen Verwandten sprechen wir auf Skype, was aber auch ein zweistündliches Installationstelefonat benötigte. Ostern haben wir eine familiäre und bis zu den Paten reichende Osternacht per Jitsy gefeiert, mit dem Effekt, dass eine Tante für ein Stunde „eingefroren“ war, was sie aber nicht störte, da sie uns zwar nicht gut hörte, aber sah. Und das war für sie schon etwas. Die Kinder verabreden sich nicht mehr zum Spielen sondern zum Telefonieren oder Facetimen.

Wir gingen auf Distanz. Wir sind auf Distanz.

Das Symbol dieser Angst vor den anderen ist die Maske. Kannten wir sie eher als Verkleidungsutensil beim Fasching, als zeitgenössisches Symbol für die Luftverschmutzung in meist asiatischen Großstädten oder als ein Utensil aus dem möglichst steril arbeitenden Krankenbetrieb z.B. in der Chirurgie ist sie nun zu einem begehrten Alltagsprodukt geworden. Zunächst lief der Verkauf mit medizinischen Masken über Online-Shops so gut an, so dass sich einige eine goldene Nase verdienen konnten. Dann hörte man von gigantischen Maskenbestellungen der Bundesregierung. In Krankenhäusern wie in der Charité fingen Mitarbeiter an, Masken und Desinfektionsmittel zu entwenden. Ich habe Berichte von Pflegerinnen gelesen, die ihre Masken mehrmals nutzen müssen, weil es zu wenige gibt. Kioske in Berlin, die die Grundbedürfnisse der Bevölkerung wohl am besten im Blick haben, bieten derzeit neben den Dauerbrennern Alkohol, Zigarette, Schoko nun auch Masken und selbstverständlich Klopapier an. 

Die Maske ist nun also ein Alltagsgegenstand geworden. Bei uns hängen selbstgenähte Masken am Schlüsselbrett, damit man sie für den Einkauf nicht vergisst mitzunehmen. Menschen mit Nähmaschine fertigen sie für ihre Freundinnen und Freunde, verkaufen sie per Facebook oder auf Plattformen für Selbstgemachtes wie auf Dawanda oder von Hand zu Hand unter Bekannten. Der Second-Hand-Laden Vintage Berlin verkauft durch das Fenster. Die Buchhandlung Leseglück in Kreuzkölln bietet an der Kasse Masken an, die eine Kundin herstellt. All dies ist eigentlich eine schöne Geschichte über Nachbarschaftshilfe, Tauschgeschäfte, kleine Ökonomien, Kiez-Kulturen, Handwerk, etwas, was wir viel mehr bräuchten und was sich den großen Monopol-Ökonomien mit Ideenreichtum und Freundlichkeit entgegenstellt.

Die Masken sind so beliebt, dass man sie schon überall in Selfies einbaut. Ich möchte daher sehr laut rufen: Bitte keine Masken-Fotos mehr. Wir haben schon genug davon gesehen! Die Maske ist schon zu einem Fashion Statement geworden. Die Farbe wird passend zum Outfit gewählt oder sie besticht durch ein besonderes Muster. In Kreuzberg habe ich sogar schon Aufnäher dort entdeckt, wo der Mund sein müsste, die Masken rufen uns zu: „Fck Corona“, „Fck Nazis“ oder zeigen eine herausgestreckte Rolling-Stones-Zunge. 

Ich frage mich, was passiert, wenn wir vom anderen nur noch die Augen sehen? Sind Augen, wie man so sagt, der Spiegel der Seele? Werden wir gut darin werden, in den Augen der anderen zu lesen? Das wäre dann noch ein erfreulicher Corona-Effekt. Doch: Kommen wir uns mit Maske überhaupt so nah, dass wir uns in die Augen sehen könnten? Werden wir hinter der Maske überhaupt noch lächeln, wenn es keiner sieht? Oder werden wir gut darin, leichte Wellenbewegungen auf dem Stoff als Mimik zu lesen? Oder bleiben wir schlicht auf 1,5 Meter Abstand?

Werden wir uns nach Corona wieder die Hände schütteln?

Werden wir uns erschrecken, wenn wir einen fremden Mund sehen?

Wie werden uns wieder näherkommen?

 

Photo by Volodymyr Hryshchenko on Unsplash

Der Gefangene der Freiheit

Ein Essay von Christian Johannes Idskov, aus dem Dänischen übersetzt von Matthias Friedrich

 

Am 30. April kam die Nachricht von Yahya Hassans Tod. Der Dichter wurde nur 24 Jahre alt. Dieser Essay wurde am 03. März fertiggestellt und war als Beitrag für die erste diesjährige Vagant-Ausgabe mit einem Thementeil über Ungleichheit und soziale Absicherung geplant. Wir veröffentlichen ihn an dieser Stelle ungekürzt und unverändert.

 

Wie konnte das geschehen? Weshalb musste es ihm so ergehen? Vielen in Dänemark erschien Yahya Hassan lange als schwer zu verstehender Fremder. Doch jetzt, da man die Umrisse seines Lebenswegs erkennt – vom unangepassten jugendlichen Kriminellen zum landesweit bekannten Dichter und später zum Gewaltverbrecher in Isolationshaft und Drogensüchtigen im Entzug –, ist man dennoch schwerlich überrascht. Hatten wir, die wir ihm in den letzten sieben Jahren mit Hilfe der Medien folgten, wirklich etwas Positiveres erwartet? Eine glückliche Entfaltung? Ein geborgenes und sicheres Leben? Stattdessen hat Yahya Hassans gesellschaftlicher Aufstieg die Vorurteile der Öffentlichkeit scheinbar bestätigt: dass man den Jungen vielleicht aus dem Brennpunkt, nicht aber den Brennpunkt aus dem Jungen entfernen kann. Bereits im Debütband schien er zu wissen, dass sein Schicksal besiegelt war: „MEINE PORNOSEELE MEINE GELDSEELE MEINE GEFÄNGNISSEELE / NEHMT MICH RUHIG GEFANGEN“.

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Natürlich war es Yahya Hassan, der sagte: „Ich verstehe ihn.“ Es ist das Jahr 2015, zwei Jahre nach dem Erscheinen seines Debüts, und Yahya Hassan ist auf dem Höhepunkt seines Starstatus. Der Mann, von dem der junge Dichter spricht, heißt Omar Abdel Hamid El-Hussein. Der Terrorist, der am 14. und 15. Februar 2015 in einem der größten Terroranschläge in Dänemarks Geschichte den Journalisten Finn Nørgaard und den jüdischen Türsteher Dan Uzan erschoss sowie fünf Polizeibeamte verletzte – bevor er in einem Schusswechsel mit dem Sondereinsatzkommando der Polizei selbst auf offener Straße getötet wurde.

Yahya Hassan brachte El-Husseins Verbrechen keine Sympathie entgegen – „natürlich sollte man so einen Idioten bekämpfen“, sagte er der Zeitung Politiken in der Zeit nach dem Anschlag (20.05.2015) –, doch wenn man heute die Äußerungen des Dichters liest, ist ein Zweifel unmöglich: Yahya Hassan sah in dem drei Jahre älteren Omar eine Schicksalsgemeinschaft.

In ihrer Kindheit lebten beide in Flüchtlingslagern im Mittleren Osten, sie wuchsen in sozial benachteiligten dänischen Wohngebieten auf und waren in gewalt- und bandenkriminellen Milieus aktiv. Yahya Hassan lief Omar El-Hussein niemals über den Weg, aber sie beide waren junge, wurzellose Kleinkriminelle, die das Gefühl hatten, ihr Dasein befände sich außerhalb der eigenen Kontrolle: „Wie ich steckte auch er ganz unten in der Gesellschaft fest. Die palästinensische Situation erzürnte, der Rechtsruck in Europa verwirrte ihn.“ Und Yahya Hassan sagte auch: „Er beging Verbrechen, während er boxte und seine Leidenschaft und sein Talent zu finden versuchte. Ich machte Verbrechen wieder gut, während ich einen Gedichtband schrieb. Er verlor seinen Boxkampf und machte mit der automatischen Schusswaffe weiter. Ich hatte das Glück, veröffentlicht zu werden.“ Zum Schluss fügte er an: „Ich sagte nicht, dass ich als Terrorist geendet wäre, aber ich hätte in einem ähnlichen Umfeld festgesessen.“

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Liest man heute YAHYA HASSAN (2013), seinen ersten Gedichtband, ist der Eindruck auf vielerlei Arten ein anderer als beim Erscheinen im Oktober 2013. Die Gedichte haben nichts eingebüßt, im Gegenteil, sie wirken hemmungsloser und komplexer. Kann man sagen, dass sie unabhängiger von der Welt geworden sind? Vielleicht dürfen sie sich erst jetzt als Lyrik offenbaren.

Damals, 2013, ließ sich das Debüt unmöglich von der politischen Debatte getrennt lesen. Viele betrachteten den Gedichtband als Augenzeugenbericht aus einem Brennpunkt, den zu betreten nur wenigen gestattet war. Der Grund dafür war einleuchtend. Zwei Wochen vor der Veröffentlichung hatte Yahya Hassan einen gewaltigen Aufruhr verursacht, als er im meistgelesenen Interview in der Geschichte der Zeitung Politiken (05.10.2013) von einer Unterschichtenkindheit erzählte, die geprägt war von Gewalt und Vernachlässigung: „Ich habe einen verfickten Hass auf die Generation meiner Eltern.“ Wie so viele andere Einwandererfamilien kam seine eigene in den Achtzigerjahren nach Dänemark. „Wir, die Ausbildungen abgebrochen haben, wir, die kriminell geworden und wir, die zu Pennern geworden sind, wir wurden nicht vom System vernachlässigt, sondern von unseren Eltern. Wir sind die elternlose Generation“, sagte er.

Zu dieser Zeit hatte der junge Dichter im Fernsehen und in Zeitungen eine ganze Menge zu erzählen. Er erzählte vom Leben in einem Brennpunkt mit einer „durchgängigen sozialen Verderbtheit“ und einer „moralischen Heuchelei ohnegleichen“. Seine Geschichten handelten von einer neudänischen Unterschicht, kontrolliert von gewalttätigen Vätern, die willig waren, den Koran zu rezitieren, in die Moschee zu gehen und „Heilige zu spielen“, wohingegen sie gleichzeitig kein Problem damit hatten, „das Sozialsystem auszutricksen und zu betrügen“, wie Hassan es im Politiken-Interview ausdrückte.

Heute lässt sich schwer übersehen, wie der erst 17-, 18-jährige Dichter nahezu eigenhändig andere Maßstäbe für eine vollkommen festgefahrene Debatte über Brennpunkte, Geflüchtete und den Islam in Dänemark setzte. Die Kritiker der Rechten hatten in den vergangenen Jahren durchgehend moniert, es käme zu einem Kampf zwischen den Kulturen, weil radikale Muslime die Freiheitsrechte einschränken würden, wohingegen die Linke die Kritik an der kulturellen Begegnung ablehnte und die Fahnen der Toleranz hisste, wenn sie Einwanderungsprobleme nicht gerade äußerst wohlwollend als ein Klassenproblem beschrieb. Der Wertekonflikt der dänischen Nullerjahre hatte eine neue Hauptperson bekommen. Nach der Veröffentlichung von YAHYA HASSAN waren die meisten sich einig, dass es in betroffenen Einwanderermilieus Probleme gab, die jetzt auf einmal – blitzartig – unmöglich zu ignorieren waren.

Aber was ist mit den Gedichten? Hatten die etwas mehr zu erzählen? Zuvorderst waren sie von einer an subjektzentrierte Lyrik erinnernden Verbrecherattitüde angetrieben, die mit einem singenden, zornerfüllten Koranvokal und überraschenden, provokanten Bildfindungen das Einwanderermilieu mit sozialer Unterdrückung und patriarchaler Gewalt verkoppelte: „FÜNF KINDER IN AUFSTELLUNG UND EIN VATER MIT KNÜPPEL / VIELFLENNEREI UND EINE PFÜTZE MIT PISSE“, lauteten die ersten Verse. Geschichten von Barbarei in intimsten Zusammenhängen waren es, die an mehreren Stellen den Gedichtband dominierten, und die Rechte guckte auf den jungen Dichter und sagte: Seht, wir haben es ja gewusst! Die Kultur der Muslime sei eine Kultur der Gewalt, die die unantastbare Freiheit des Individuums nicht verstehe. Und die Linke sagte: Vergesst es! Die Konzentration von Geflüchteten und Armut in Wohnblöcken schaffe soziale Probleme, die wiederum Gewalt und Vernachlässigung erzeugten. Nur von der muslimischen Minderheit wurde er nicht gelobt. Als er kurz nach der Veröffentlichung seine Gedichte im Odense-Vorort Vollsmose vortragen sollte, geschah dies mit Polizeiaufgebot, Helikoptern in der Luft und Live-Übertragung im Fernsehen. Ganz Dänemark war dabei, aber als der junge Dichter in den Wohnblock zurückkehrte, saß in den Zuschauerrängen des Saals fast niemand mit muslimischem Hintergrund. In Schweden schrieb die Dichterin Athena Farrokhzad in einer Besprechung des Buches (Aftonbladet, 17.03.2014), es gebe Themen, über die man ganz einfach nicht schreiben könne, wenn man aus einer muslimischen Minderheit komme. „Es fühlt sich unmöglich an, sie einer überwiegend weißen Öffentlichkeit zu schildern.“

Farrokhzads Kritik führte zu einer großen Debatte über die verschiedenen Erfahrungen von Minoritätsgruppen und wie diese literarisch umgesetzt und, nicht zuletzt, mit den weißen Mitmenschen diskutiert würden. Yahya Hassans Gedichtband war allerdings viel mehr als eine Kritik an der patriarchalen Gewalt- und Schnorrerkultur der neudänischen Unterschicht oder ein „Geschenk an die Dänische Volkspartei“, wie Farrokhzad meinte. Es war ein Buch, das bereits im ersten Gedicht den Blick vom sozialen Elend in den Wohnblöcken in Aarhus Vest auf einen Mittleren Osten mit Drohnen, Krieg, Flüchtlingslagern und Zerstörung lenkte. Es zeichnete die gesamte Reaktionskette nach, die der sozialen Katastrophe in Dänemark zugrunde lag. Kurz, die Gedichte waren die Antwort einer zornigen neuen Stimme: Hier stellte er die kriegsführenden Dänen vor die Konsequenzen ihrer politischen Handlungen. Geschichte und Globalisierung suchten nun diese naive Nation mit dem zornigen, jungen Dichter als Opfer und Boten heim. Bitteschön, Dänemark, hier habt ihr mich, eines der vielen kriegsgeschädigten Kinder des Mittleren Ostens!

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Die Vorstellung, dass Yahya Hassan sich bereits im Alter von siebzehn Jahren dazu berufen fühlte, sich selbst als Prophet zu porträtieren, ist unglaublich. Überall in seinem ersten Buch findet man diesen singenden Verkündungsdrang, ganz so, als wäre er endlich hier, Gottes ungezogene Sohn, der nächste falsche Messias, er, der sich vom Glauben entfernt hat: „DOCH SIEHE WAS SATAN HINTERLASSEN HAT / EINE EWIGE FLAMME AUS SEINER HÖLLE“. Yahya Hassan stellt sich selbst als Nachkommen vom Urmenschen der Zivilisation dar. Wieder und wieder beschreibt er sich als „Höhlenbewohner“, einen halben Mohammed, den gewöhnlichen Menschen des islamischen Glaubens, der jeden Tag versucht, aber dennoch niemals wünscht, die Offenbarung zu erlangen und sich als Allahs besonders Auserwählten zu zeigen. Wie Jesus trägt er die Leiden seines Volkes. Er ist ein exilierter, staatenloser Palästinenser mit einer gefährlichen Vaterbeziehung, ein zorniger, junger Mann, gefangen zwischen verschiedenen Identitäten. Kurz: ein Prophet mit vielen Identitäten.

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Mit am Interessantesten an Yahya Hassan sind seine Versuche, sich immerzu von den Fesseln, die ihn gefangen nehmen wollten, loszureißen. Auf paradoxe Art ist er immer gewesen, was sich die liberale Gesellschaft für das moderne Individuum erträumt hat: Er hat gegen seinen sozialen Hintergrund und sein Erbe aufbegehrt, den kulturellen Verbindungen, die ihm bei Geburt mitgegeben wurden, ist er ausgewichen, ebenso hat er sich einer rücksichtslosen und unbedingten Neuerfindung hingegeben: ja, größtenteils allen Arten der Befreiung, die wir aus der spätkapitalistischen Gesellschaft kennen.

Rückblickend ist es überhaupt nicht schwer, Yahya Hassan als das zu sehen, was Friedrich Nietzsche als „Legionär des Augenblicks“ bezeichnete. Der junge Dichter trat in einen Leerraum hinein, den vor ihm nur die wenigsten gesehen hatten. Obwohl sich auch hier die dänische Einwanderungsdebatte nicht überhören ließ, war sie auch im Pausenmodus. Der junge Dichter wollte sich weder mit der einen noch mit der anderen Seite versöhnen. Er hatte die Gemeinschaften der Gesellschaft nicht aufgegeben, sondern meinte, sie selbst gestalten zu können. Anders ausgedrückt, Yahya Hassan sah die Möglichkeit, sich selbst in einem postrevolutionären Vakuum zu manifestieren, das zu  diesen nietzscheanischen Augenblickslegionäre gewesen ist: Emigrant*innen, Initiator*innen, Redakteur*innen, Dichter*innen, Scharlatan*innen und politischen Aufrührer*innen gehört hat. Personen, die sich selbst als Vorhut der Geschichte begreifen. Die, die das Chaos nicht fürchten, sondern davon zehren.

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Bei einer derartigen Manifestationskraft lässt sich nichts dagegen einwenden, dass sich Yahya Hassan eine Zeitlang als Politiker versuchte. 2014 wurde er Sprecher der Nationalpartei, gegründet von den Brüdern Kashif Ahmad, Aamer Ahmad und Asif Ahmad. Für die erste Pressekonferenz bemächtigte sich der junge Dichter der Bühne, als handele es sich um einen Gedichtvortrag. Vierzig Minuten lang las er aus einem politischen Manifest mit Ausrufezeichen und wütenden Schlachtrufen:

Wir sind keine bürgerliche Partei. Wir sind eine Partei der Bürger*innen und haben die Mitte eingenommen, um uns in Richtung der Vernunft vorzuarbeiten. Wir sind eine Plattform für unabhängige Stimmen, die nicht in die Mikrofone der Banken schreien. Die nicht in die Mikrofone der Waffenhändler*innen schreien. Die nicht in die Mikrofone der Islamist*innen schreien. Die nicht in die Mikrofone der Islamophoben schreien. Wir sind Dänemark.

Die Idee der Partei war, die politische Landschaft zu zersplittern und denjenigen Parteien, die in ihrer Ideologie verstaubt wirkten, den Rang abzulaufen. Es ging darum, den Einwanderern des Landes ein neues politisches Gesicht zu geben, doch zugleich hatte die Partei keine Angst, dort anzusetzen, wo eine Zerstörung des langweiligen gesellschaftlichen Erbes am meisten wehtat. Unter anderem wollte die Nationalpartei Geflüchteten verbieten, in die Brennpunktviertel der Großstädte zu ziehen, stattdessen sollten sie im Rest des Landes verteilt werden – ein Vorschlag, den die bürgerlichen Parteien 2018 mit der Linken an der Spitze beinahe eins zu eins mit Ja durchsetzten und der von Rune Lykkeberg, dem Chefredakteur der Zeitung Information, als endgültige Kapitulation vor den Sozialdemokraten bezeichnet wurde (02.03.2018). Das sogenannte Brennpunktpaket ist von der UN scharf kritisiert worden.

Yahya Hassans Karriere als Politiker sollte jedoch jäh enden. Weniger als elf Monate später wurde der Dichter aus der Partei geworfen, nachdem er unter Drogeneinfluss Auto gefahren war. Bis dahin war es zu mehreren Zwischenfällen gekommen, einige davon aufgezeichnet in seinem persönlichen Facebook-Livestream, in dem der junge Dichter Nachrichten an alle Personen aus dem Bandenmilieu schickte, die ihm anscheinend nach dem Leben trachteten. Während er eine kugelsichere Weste trug, sagte er zu Allan Silberbrandt, dem Nachrichtenmoderator des Senders TV2: „Die Sache ist die, dass ich der Partei und meinem Vorsitzenden zu einem frühen Zeitpunkt des politischen Prozesses klargemacht habe, dass ich eine Person bin, die bedroht wird und sich auf der Straße mit Leuten prügeln muss.“ Auf halbem Weg aus dem Studio setzte er seinen Monolog fort, ohne sich vom Moderator unterbrechen zu lassen: „Mit euch hab ich nichts mehr zu bereden. Wie es ums Land steht, hab ich schon gesagt. Fickt euch mit eurem bürgerlichen Wischiwaschi und euren ganzen Lügengeschichten. Intrigen anzetteln könnt ihr gegen mich und meinen Schwanz, so viel ihr wollt. Mein Schwanz ist beschnitten und schön. Dir noch ‘nen guten Abend, ich mag dich wirklich gern, und grüß Pia [Kjærsgaard, frühere Vorsitzende der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei, A. d. Ü.].“ Via Facebook schickte er einen letzten Gruß: „Ab heute Abend schreibe ich nur noch Gedichte und Todesanzeigen.“

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Wenn man über Yahya Hassan spricht, ist eine Trennung von Maske und echtem Leben sinnlos. Größenwahn, knallharter Zynismus und Übertreibungskunst waren von Beginn an tragende Elemente seiner Selbstdarstellung – ganz gleich, ob es um seine lauthals vorgetragenen Gedichte, zügellosen Fernsehauftritte oder temperamentvollen Videos in sozialen Medien geht. Yahya Hassan ist auch ein Kind der modernen Technologie- und Informationsverbreitung. Er wurde sowohl verfolgt als auch verehrt, aber die öffentliche Ordnung hat er selbst zuerst gestört: Er hat gegen seine Herkunft aufbegehrt, sich aber niemals irgendeiner Art von dänischer Identität untergeordnet. Er hat die Autoritäten um sich herum niemals akzeptiert, aber er wollte sich auch nie etwas für sich selbst aufbauen. Er war, wie der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk es formulieren würde, zur Freiheit gezwungen. Man könnte ihn als einen Gefangenen der Freiheit bezeichnen. Einen vaterlosen, staatenlosen Palästinenser ohne Furcht vor oder Vertrauen auf die großen Gemeinschaften. Er hat versucht, die Verbindungen zu seiner Vergangenheit zu kappen, allerdings ist es ihm nie so recht gelungen, sich in seinem neuentdeckten Freiheitsparadies einzufinden. Als er noch auf dem Vormarsch war, ließ er sich beinahe als revolutionären Gesellschaftswandler betrachten, der versuchte, das Leben eines ganzen Milieus zu verbessern. Jetzt, da er den Kampf gegen seine eigene Vergangenheit verloren zu haben scheint und Gefängnisstrafen wegen Gewalttaten verbüßt hat sowie in der forensischen Psychiatrie behandelt worden ist, fragt man sich, ob überhaupt irgendwer imstande war, ihm zu helfen oder sein Leben zu verbessern. Yahya Hassan ist selbst zum Bild des sozialen Elends Dänemarks geworden. Der dänische Traum ist eine Lüge. Selbst für die Talentiertesten gibt es keinen leichten Weg aus dem Brennpunkt hinaus.

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Als die dänische Premierministerin am 01. Januar ihre Neujahrsansprache hielt, erzählte sie, sie glaube an eine Gesellschaft, in der jeder Mensch eine grundlegende Verantwortung für sein eigenes Leben trage. Aber sie sagte auch, dass wir dem Einzelnen nicht die komplette Verantwortung überlassen könnten. „Wenn die Kindheit bestimmt, was im späteren Leben passieren wird, dann ist das Muster immer noch zu stark und die Gemeinschaft zu schwach.“

Mette Frederiksen erinnerte insbesondere an die Kinder, die es am allerschwersten haben. Kinder, die zu Hause Missbrauch, Gewalt und Vernachlässigung erlebt haben. Der Ministerpräsidentin zufolge sei es jetzt an der Zeit, die Berührungsangst aufzugeben: „Wir müssen als Gesellschaft sichtbar werden. In Zukunft müssen mehr Kinder als heute ein neues Zuhause finden können. Und die Bedingungen für Kinder in Familien und Hilfseinrichtungen sollen noch viel stabiler sein.“

Es waren Kinder wie Yahya Hassan, von denen sie sprach.

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Im Laufe der Jahre haben sich viele auf Yahya Hassans Kritik am Brennpunktmilieu versteift, aber weitaus weniger haben sich seiner Schilderungen der unmenschlichsten Seiten des Wohlfahrtsstaates angenommen. Leicht lässt sich sein Gedichtdebüt als Reise durch die dänische Sozialhilfe beschreiben. Nach etwa einem Drittel des Buches lernt man dieses engmaschige Netz aus Aufenthaltsorten, Jugendeinrichtungen, Erziehungsbeiständen, Gefängnissen, Urinproben und Pädagogen kennen, die als Türsteher für einen mit seinem Leben unzufriedenen Teenager agieren.

Natürlich ist Yahya Hassan die Hauptfigur dieser Anti-Bildungsreise, auf der sich alles drum herum als anonyme und einengende Ausübung von Macht beschreiben lässt. In diesem System macht er keine hilfreichen Erfahrungen, erlebt nichts Positives, bis zu dem Punkt, an dem er einer neuen und ungewöhnlichen Kontaktperson begegnet, die ihn auffordert, zu schreiben und ihn auf die Spur der Literatur bringt. Kurze Zeit darauf stiehlt Yahya Hassan eine Kiste Bücher, und darin findet er den ersten Band von Karl Ove Knausgårds autofiktionalem Romanzyklus. Die Literatur, nicht die Sozialbehörden, werden zu seiner Rettung. Glaubt man dem Gedichtband, dann findet er seinen Weg ins Leben hier.

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Die Arbeiterliteratur ist reich an Geschichten, die zeigen, dass der Versuch, etwas an den Bedingungen der Schwächsten zu ändern und sie bloßzustellen, ein ungeheuer feiner Balanceakt ist. Noch 2016 musste sich der französische Autor Édouard Louis nach der Veröffentlichung seines Debütromans Das Ende von Eddy (Seuil, 2014) schwere Anschuldigungen gefallen lassen. In der Essaysammlung Etter i saumane. Kultur og politikk i arbeidarklassens hundreår (Unter die Lupe genommen. Kultur und Politik im Jahrhundert der Arbeiterklasse; Gyldendal Norsk Forlag, 2016) bezeichnete Kjartan Fløgstad Louis‘ Kindheitsschilderungen des postindustriellen Nordfrankreichs als „klassistisch“. Fløgstad zufolge machte sich Louis der Klassenverachtung schuldig, wobei das Bürgertum die „Erlösung“ sei, die Reise aus der Arbeiterklasse hingegen der reinste „Aufstieg in den Himmel“. Fløgstads Kritik, auf die Édouard Louis später in Morgenbladet antwortete, war geradezu das Echo einer Debatte, die zwei Jahre zuvor in französischen Medien stattgefunden hatte. Hier wurde Louis genauso angeklagt, klassistisch zu sein und die Arbeiterklasse in eine Kategorie mit „Natur“ und „Barbarei“ gesteckt zu haben. Fløgstads Einwände gegen Louis unterschieden sich also nicht allzu sehr von Hassans Kritik an der neudänischen Unterschicht.

Von intellektueller Seite wurde Yahya Hassan vor allem von Athena Farrokhzad kritisiert. Beging Hassan ein Sakrileg, dann lag das der schwedischen Dichterin zufolge nicht daran, dass seine Beschreibungen der Gewalt in den muslimischen Milieus unzutreffend waren. Sie meinte bloß, er hätte mehr Umsicht beweisen sollen. Kurz, die solidarische Perspektive hätte vor dem Befreiungskampf einer einzelnen, männlichen Person of Color Vorrang haben müssen. Die Frage, wie eine neudänische Unterschicht sich am besten vor der herrschenden (weißen) Klasse schützen sollte, ging Farrokhzad eher von der kollektivistischen als von der individualistischen Seite an.

Dass Yahya Hassan niemals des Klassismus beschuldigt wurde, liegt hauptsächlich daran, dass er zu keiner Zeit vorgab, das Kulturbürgertum biete irgendeine Erlösung. Als wir ihn sechs Jahre nach Veröffentlichung des ersten Gedichtbandes in YAHYA HASSAN 2 (Gyldendal, 2019) wiedersehen, hat er die Türen zum dänischen Kulturparnass eingetreten. Diesmal läuft die Reise durch die Institutionen der Gesellschaft in die entgegengesetzte Richtung. Das Buch beginnt mit Gedichten, in denen er auf dem Weg zu seinem Lektor im Verlag Gyldendal im Zentrum Kopenhagens ist. Er übernachtet im Bett des Journalisten Martin Krasnik, weil er sich nicht frei bewegen kann, und er steht unter ständigem Polizeischutz. „Prämien-Perker“ [Anm. d. Ü.: Das unübersetzbare Wort „Perker“, zusammengesetzt aus „perser“ und „tyrker“, ist eine rassistische Bezeichnung für Menschen mittelöstlicher oder arabischer Herkunft], so heißt das erste Kapitel des Buches, in dem er sich in einen Samtanzug kleidet, die Königin besucht und als Politiker und öffentlicher Debattenteilnehmer durch die Lande reist. Er spricht nicht mehr mit seinen Verwandten, sondern auf Versammlungen und fühlt sich von oben und unten, von allen Seiten beständig unter Druck gesetzt. Genau hier bricht die Vergangenheit wieder durch: „ICH WERDE GERADE ZWISCHEN ZWEI MACHTSTRUKTUREN ZERQUETSCHT (…) ICH STRÄUBE MICH MIT ARMEN UND BEINEN“. Er erzählt, die Anzüge hingen wie „SCHLAPPE LEICHEN“ über dem Ständer. Er „SCHLÄNGELT SICH UM DIE GESELLSCHAFT HERUM“ und schrumpft zu „IMPULS UND INSTINKT“. Er ist auf „UNTERGANGSFORTSCHRITT MIT DER MENSCHHEIT“.

Zeichnet das erste Buch einen Aufstieg von ganz unten in die Gesellschaft hinauf, dann stürzt Yahya Hassan im zweiten vom Gipfel hinab. Yahya Hassan beschreibt den totalen Niedergang, menschlich und sozial, durch ein System bürgerlicher Codes, staatlicher Institutionen und Kontrolle. Doch was er im ersten Buch erlebt, ist weder besser noch schlimmer. Aus den ehrwürdigen Geschäftsräumen des Gyldendal-Verlags geht er in einer rasenden Geschwindigkeit, die ihm selbst nicht einleuchtet, an den Kartoffelreihenhäusern der Østerbro-Sternchen bis in den Brennpunkt, das Gefängnis und die Psychiatrie. „ICH NAHM DAS WORT IN MEINE OHNMACHT“, schreibt Yahya Hassan an einer Stelle. Und an einer anderen: „ICH SÜNDIGTE WIDER DIE VERBESSERUNG MEINES WESENS“. Wie in seinem Debüt besteht ein deutlicher Kontrast zwischen ihm und der Gesellschaft, die immer durch fremde Instanzen repräsentiert wird, welche ihn in Schach zu halten versuchen: Polizei, Banden, Richter*innen, Gefängniswächter*innen, Psychiater*innen, Ärzt*innen, Medien und Verlage. Yahya Hassan ist ständig auf der Flucht vor der Gesellschaft – vor ganz oben wie auch vor ganz unten. Er ist an den Wurzeln ausgerissen, findet aber außerhalb des Brennpunkts anscheinend zu nichts irgendeine Verbindung. Er ist zu einem zornerfüllten und enttäuschten Touristen geworden, der sich apathisch und verantwortungslos zu allen um sich herum verhält: „ICH GLAUBE NICHT AN MEIN LACHEN / ICH GLAUBE NICHT AN MEIN SCHLUCHZEN / DANN LAUFE ICH UMHER UND RÄUSPERE MICH LEICHT / MAL SCHREIBE ICH GEDICHTE MIT GEBROCHENER HAND / IN EINER SPRACHE DIE NACH UND NACH ÜBERLADENER IST ALS MEINE MUTTERSPRACHE / MAL SCHIESSE ICH LEUTE AB / DIE NICHTS VERSTEHEN AUSSER SCHÜSSEN / MAL GEHE ICH FRÜH INS BETT / UM AUFZUSTEHEN FÜR NICHTS / MAL TRAINIERE ICH / UM WIEDER UMGENIETET ZU WERDEN / MAL HABE ICH NOCH EINEN WINTER ÜBERLEBT / UM NOCH EINEN SOMMER HINTER GITTERN ZU VERBRINGEN / MAL VERFLUCHE ICH WER FÜR MICH BETET / UND FINDE FRIEDEN IM NAMEN MEINES FEINDES“.

*

In Yahya Hassans Gedichten gibt es keinen Ort, wo er sicher und geborgen ist. Ruhe findet er einzig und allein im Schicksal, wobei er weder vor den Repressalien der Götter noch des Vaters oder der Sozialbehörden Furcht empfindet. Zusammen liefern Yahya Hassans zwei Gedichtbände den Eindruck eines Menschen, der alles geopfert hat, aber dennoch zum Untergang in einer Gesellschaft verdammt war, die ihm niemals helfen konnte. Er ist das Symptom eines Problems, welches der Wohlfahrtsstaat nicht greifen und daher nicht beheben kann. Er demonstriert die Ohnmacht und Hilflosigkeit des Wohlfahrtsstaates. Die letzten Verse in YAHYA HASSAN 2 klingen wie ein Punkt, der erst noch gesetzt werden muss: „GELDSTRAFEN HAFT UND GEFÄNGNIS PRALLEN AN MIR AB / NICHT WEIL ICH UNGEEIGNET BIN ZUR STRAFE / SONDERN WEIL ICH ZU SEHR GEEIGNET BIN DAFÜR“.

 

Die Übersetzungen aus YAHYA HASSAN (2013) stammen aus Annette Hellmuts und Michel Schlehs deutscher Fassung (Ullstein 2014), die Übersetzungen aus YAHYA HASSAN 2 (2019) von Matthias Friedrich.

Christian Johannes Idskov, 1989 geboren, studierte Literaturwissenschaften in Odense und Kopenhagen. Er ist Kritiker für die Zeitung Politiken und Online-Redakteur der skandinavischen Kulturzeitschrift Vagant.

Matthias Friedrich, 1992 geboren, studierte Kreatives Schreiben in Hildesheim und Skandinavistik in Greifswald. Er übersetzt norwegische Literatur, u. a. von Svein Jarvoll und Thure Erik Lund, und arbeitet gerade an Leif Høghaugs Roman Kælven (Arbeitstitel: Der Kälberich), der voraussichtlich 2021 erscheint.

Der Essay wurde ursprünglich auf der Internetseite der Zeitschrift Vagant veröffentlicht.

Geschichten der Seuche – Vier Sachbücher zur Pandemie

von Susanne Wedlich

Das öffentliche Interesse an Erregern und Epidemien war vermutlich nie größer und Mikrobenliteratur jeglicher Art hat neuerdings Massenappeal. Die Auswahl an Sachbüchern ist groß: in dieser Sammelrezension wird es um vier Werke zu den Grundlagen der Epidemiologie, den Gefahren neuer Erreger, den Schrecken der „Spanischen Grippe“ und zur Vision einer pandemiefreien Zukunft gehen.

Für die meisten von uns ist es eine neue Erfahrung, als Gesellschaft einem Erreger fast hilflos ausgeliefert zu sein. Dabei besteht das eigentliche Novum doch eher darin, dass uns dieses Trauma bislang erspart geblieben war. Die Geschichte der Menschheit war immer auch eine Geschichte der Seuchen, auch wenn unser kollektives Gedächtnis dieses Motiv fast schon aus den Augen verloren hatte.

Das ändert sich jetzt und literarische Wiedergänger wie Boccaccios Decamerone werden als brandaktuelle Lektüretipps gehandelt, während das Interesse an Sachbüchern zu Erregern und Epidemien wahrscheinlich nie größer war – auch bei mir. Als Biologin und Wissenschaftsjournalistin ist mir die Materie grundsätzlich vertraut. Neu ist aber die akute Dringlichkeit der Lektüre mit der Hoffnung auf ein viel tieferes epidemiologisches Verständnis als bisher.

Sehr viel mehr wäre nicht zu erwarten, richtig? Wie sollte das Wissen um historische Ausbrüche helfen, wenn ein ganz neuer Erreger unser Leben umkrempelt? Was würden die Kenntnisse um frühere Quarantänen bringen, wenn sich derzeit die Lage in Deutschland nicht einmal mit der Situation in Italien vergleichen lässt? Wie faktenfixiert und falsch das gedacht war, zeigte allerdings die Lektüre jedes einzelnen der vier Bücher, um die es hier gehen soll.

Denn jetzt fehlte der gewohnte geistige Sicherheitsabstand. Sachbücher zu Seuchen hatte ich bislang anscheinend wie Krimis gelesen, also als höchstens theoretisch relevant, letztlich aber unendlich weit weg. Nun geht alles unter die Haut, historische Auswüchse lesen sich zum Verwechseln aktuell und für das Werk eines sonst hochgeschätzten Autors hätte meine Geduld fast nicht ausgereicht.

Den Anfang macht der schmale Band Seuchen von Kai Kupferschmidt. Der Wissenschaftsjournalist berichtet oft über Ebola und andere Epidemien, hält auch jetzt ein internationales Publikum in Sachen COVID-19 auf dem Laufenden. Sein Buch ist die Notfallapotheke für epidemiologisch interessierte Leser: Corona-bedingt sind viele der Fachbegriffe und Konzepte jetzt zu hören und zu lesen. Hier werden sie noch einmal klar und angenehm schnörkellos auf den Punkt gebracht.

Das Terrain ist abgesteckt, wird von dem amerikanischen Wissenschaftsautor David Quammen in Spillover auf über 500 Seiten aber ungleich tiefer umgepflügt. Wie springen Erreger auf den Menschen über? Warum treten diese Zoonosen immer häufiger auf? Und was macht sie so gefährlich? Quammen beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit diesem Thema und hat selbst schon Forscher bei der Suche nach neuartigen Erregern und ihren natürlichen Reservoirs begleitet.

Dazu gehören Expeditionen in den kongolesischen Regenwald, auf chinesische Wildtiermärkte oder ins Hinterland von Bangladesch – um möglicherweise infizierte Fledermäuse zu jagen. Quammen hat unglaublich viel zu erzählen und zieht seine Geschichten frei nach Agatha Christie als Whodunits auf: Welcher Erreger hat´s ausgelöst und welches Tier ist sein Handlanger, äh, natürlicher Wirt? Die Rolle der Schnüffler übernehmen natürlich die wagemutigen Forscher.

Quammen macht dabei viel richtig, erzählt vor allem Wissenschaft nicht linear. Stattdessen räumt er neben den Erfolgsgeschichten auch den Irrungen und Wirrungen auf dem Weg dahin viel Platz ein. Es ist also sicher der aktuell angespannten Lage geschuldet, dass ich den sonst so verehrten Autor hier streckenweise eher gnadenlos weitschweifig denn als begnadeten Erzähler empfand und auf die eine oder andere launige Anekdote gern verzichtet hätte.

Widerstand ist aber zwecklos und weil in der Fülle der Details grandiose Geschichten stecken, habe ich mich ab der Hälfte des Buches lieber Quammens mäanderndem Erzählfluss anvertraut. Der führt in die Seitenarme der Seuchengeschichte mit unbekannteren Erregern wie dem Hendravirus, macht aber auch lange bei den großen Stationen wie Cholera, HIV und SARS Halt.

Die britische Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney wiederum fokussiert in 1918. Die Welt im Fieber auf die Spanische Grippe, eine Pandemie, die den Planeten in mehreren Wellen überrollte und bis zu 100 Millionen Menschenleben gefordert haben könnte. Spinneys wunderbares Werk beschränkt sich nicht auf den Westen, sondern dokumentiert unter anderem auch Ausbrüche in Australien, Brasilien und China.

Warum hat diese „beinahe vergessene Katastrophe“ kaum Spuren in unserem historischen Bewusstsein hinterlassen? Es habe keine Sieger gegeben, die Geschichte hätten schreiben können“, schreibt Spinney: „Nach einer Pandemie gibt es nur Besiegte.“ Und Nutznießer, ließe sich ergänzen. Denn Seuchen leisten damals wie heute Verschwörungstheorien und xenophoben Ressentiments Vorschub.

So hält US-Präsident Donald Trump hartnäckig an seiner Formulierung vom Chinese virus fest. Im Internet wird der Erreger zuweilen auch zur menschengemachten Biowaffe ernannt, eine Behauptung, die in den vom Krieg zerrütteten Ländern auch über die Grippe von 1918 kursierte, wenn sie nicht Ländern wie Spanien, Deutschland und Brasilien zugeschrieben wurde – trotz oder gerade wegen ihres bis heute nicht eindeutig geklärten geografischen Ursprungs.

Furchtbar modern liest sich auch ein Magazinartikel von 1918, wonach Behörden die Gefährlichkeit der Krankheit übertreiben würden, die „nur alte Menschen“ dahinraffe. Und ein Historiker befand in Bezug auf die Influenza, dass demokratische Strukturen für die Kontrolle einer Pandemie nicht besonders hilfreich seien, weil unterschiedliche Belange konkurrieren würden. Denn wer sich für „eine blühende Wirtschaft einsetzt, höhlt zwangsläufig die Gesundheitsfürsorge aus.“

Eine Szene aus Spinneys Buch schließlich überlagert sich besonders schmerzlich mit dem Bild, das in meinen Augen wie kein anderes für COVID-19 steht: So wie kürzlich Militärfahrzeuge in dunkler Nacht die Toten aus Bergamo holen mussten, stauten sich 1918 zweihundert Särge auf einem New Yorker Friedhof, weil die Gräber nicht schnell genug ausgehoben werden konnten. Die Grippe hatte eine spezifische Gruppe von Einwanderern außerordentlich hart getroffen: die Italiener.

Alles Vergangene ist jetzt und alles Ferne ist nah. Kein noch so großer räumlicher oder zeitlicher Abstand in den Erzählungen kann mehr Distanz schaffen. Das gilt, wenn Kupferschmidt am Anfang von einem kleinen Jungen in Westafrika berichtet, der im Dezember 2013 mit als Erster einer Ebola-Epidemie zum Opfer fiel. Das gilt auch, wenn Nathan Wolfes The Viral Storm (auf deutsch Virus: Die Wiederkehr der Seuchen) in Thailand beginnt, wo im Dezember 2003 ein anderer kleiner Junge an der neu aufgetretenen Vogelgrippe starb.

Der amerikanische Virologe Wolfe skizziert in seinem Buch ebenfalls historische Ausbrüche, hat den Blick aber fest auf die Zukunft gerichtet. Denn er arbeitet an einer Utopie, die angesichts unserer aktuellen Lage fast unvorstellbar scheint: Wolfe möchte ein Virenfrühwarnsystem einrichten. Als globales Immunsystem soll es das Auftreten neuer und bereits gefürchteter Erreger antizipieren oder wenigstens so schnell registrieren, dass eine großflächige Ausbreitung verhindert werden kann.

Für eine pandemiefreie Zukunft müssten biologische und digitale Daten aus verschiedenen Quellen integriert werden: Wo sind die Menschen? Was sorgt sie? Womit sind sie infiziert? Wohin bewegen sie sich? Mit wem stehen sie in Kontakt? Große Populationen können und sollen nicht überwacht werden. Stattdessen setzen die Forscher auf Menschen, die aufgrund ihres Standorts oder ihres Verhaltens ein hohes Infektionsrisiko tragen.

Zu diesen viralen Wachposten gehören etwa all jene, die im zentralafrikanischen Regenwald Primaten und andere Wildtiere jagen, zerlegen und essen. Über deren Blut und andere Körperflüssigkeiten kommen sie mit neuartigen Mikroben in Kontakt, die möglicherweise im Menschen ausharren und irgendwann ausbrechen können. Über Routinekontrollen in lokalen Labors sollen diese biologischen Zeitbomben künftig aber aufgespürt und entschärft werden.

Neben der biologischen Überwachung könnten digitale Daten viral chatter vermelden, also potenziell krankheitsbezogene Auffälligkeiten. Alarmierend wäre beispielsweise die lokal gehäufte Recherche von schweren Symptomen im Netz. Die Nutzungsmuster mobiler Geräte lassen außerdem Kontakte zwischen Menschen nachvollziehen. Das sind Daten, die auch jetzt schon in Bezug auf COVID-19 und die freiwillige soziale Isolierung der Bevölkerung ausgewertet wurden.

Das ist umstritten, aber gibt es eine Wahl? Wolfe zufolge können wir bei Ausbrüchen vorerst nur hektisch reagieren, schnell Impfstoffe und Medikamente entwickeln sowie unser Verhalten ändern. Und wer würde hier widersprechen? Doch die Frequenz der Ausbrüche könnte noch zunehmen, weil uns unsere globalisierte Lebensweise verwundbar macht. So exquisitely susceptible to pandemics sei unsere moderne Gesellschaft, schreibt Wolfe, also ganz außerordentlich anfällig für Pandemien.

Als Franz K. aus unruhigem Fieberschlaf erwachte…

… fand er sich in einem neuen Staat wieder

von Florian Keisinger

Der folgende Text ist das Resultat der Lektüre von Rainer Stachs lesenswerterKafka-Biographie in drei Bänden, an der Stach insgesamt 18 Jahre gearbeitet hat und die zwischen 2002 und 2014 im S. Fischer Verlag erschienen ist. Zudem gibt es die Bücher auch in einer limitierten Gesamtausgabe im Schuber, inklusive eines Zusatzbandes „Kafka von Tag zu Tag. Dokumentation aller Briefe, Tagebücher und Ereignisse“ und eines historischen Stadtplans von Prag, auf dem sich die Stationen im Leben Kafkas anschaulich nachvollziehen lassen. Einschließlich der Ereignisse während des endgültigen Zusammenbruchs des Habsburgerreiches im Oktober 1918 und der Ausrufung des tschecho-slovakischen Staates, wovon Kafka jedoch, trotz unmittelbarer Nähe, kaum etwas mitbekommen haben dürfte.

Am 30. April 1918 kehrte Franz Kafka aus Zürau nach Prag zurück. In Zürau, einem kleinen Ort in Westböhmen, hatte er, vom Kriegsdienst freigestellt, acht Monate zusammen mit seiner Schwester Ottla auf deren Gut verbracht. Neben Sonnenbaden und dem Verfassen von Aphorismen („Zürauer Aphorismen“) hatte er sich dabei vor allem der Gartenarbeit gewidmet – und sich endgültig von seiner Langzeitverlobten Felice Bauer getrennt.

Dem vorangegangen war ein Blutsturz am Morgen des 17. April 1917, der nicht nur den Beginn einer tödlichen Lungentuberkulose markierte, sondern Kafka auch zu einem lange hinausgezögerten Doppelentschluss veranlasste: Zum einen, das Projekt Ehe ein für alle Mal zu begraben; zum anderen, seine Tätigkeit als Beamter der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt zu beenden (Den ersten Entschluss hielt er nicht lange durch, kurze Zeit verlobte er sich erneut; der zweite scheiterte am Widerwillen seiner Vorgesetzten und wurde in einen mehrmonatigen Erholungsurlaub umgewandelt).

Bei seiner Rückkehr fand er Prag in einem Zustand vor, der das Resultat seiner eigenen Phantasie hätte sein können: Militärischer Zusammenbruch und politische Auflösung kennzeichneten das Stadtbild; es drohten Hungersnot und Bürgerkrieg. In großer Eile (und mit Weitsicht) hatte Kafkas Vater Hermann den familieneigenen Galanteriewarenladen gegen ein unscheinbares Mietshaus eingetauscht; als deutschstämmige Juden galt es vorsichtig zu sein im überbordenden Taumel tschechischer Nationalisten.

Hinweise darauf, dass Kafka selbst die Entwicklungen mit Sorge verfolgte, finden sich indes nicht. Während der umtriebige Max Brod in die Rolle des Politikers schlüpfte und als Mitglied des neu geschaffenen „Jüdischen Nationalrates“ die Interessen der jüdischen Bevölkerung vertrat, schien Kafka die Ereignisse mit gleichmütiger Distanz zu verfolgen. Die Nachmittage, so erfährt man von seinem Biographen Reiner Stach, verbrachte er im Prager „Institut für Pomologie, Wein- und Gartenbau“, wo er lernte, einen Schrebergarten fachmännisch zu betreiben; außerdem nahm er Hebräisch-Unterricht und war wieder in die elterliche Wohnung eingezogen.

Dort ereilte ihn am 14. Oktober ein hohes Fieber; er hatte sich, wie viele andere auch, mit der Spanischen Grippe angesteckt. Zu den Merkmalen der Krankheit zählte, dass sie gerade die scheinbar Gesündesten und Vitalsten in der Alterskohorte der 20- bis 40-Jährigen am härtesten traf; Kafka war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt.

Allein in Prag erlagen in den Oktoberwochen 1918 etwa 200 Menschen am Tag der Pandemie, rund 15 Prozent der Bevölkerung galten als infiziert; wer rasch und richtig versorgt wurde, dessen Überlebenschancen lagen bei 97 Prozent. Schulen, Kinos und Theater waren geschlossen, Krankenhäuser und Leichenhallen überfüllt, der Beginn des Wintersemesters verschoben; Menschenansammlungen galt es zu meiden, was in Zeiten von Staatszusammenbruch und Revolution leichter gesagt als getan ist.

Während Kafkas Fieber auf über 41 Grad anstieg und er in einen Zustand des Deliriums verfiel, in dem ein Organversagen nicht ausgeschlossen war – zumal sich auch noch eine Lungenentzündung eingestellt hatte –, spielten sich direkt vor seinem Fenster historische Szenen ab. Die letzten verbliebenen einsatzfähigen (und einsatzwilligen) Kontingente der einst mächtigen k.u.k.-Armee brachten ihre Truppen in den Einfallstraßen rund um den Altstädter Ring in Stellung; es zirkulierten Gerüchte, laut denen die Ausrufung eines unabhängigen tschechischen Staates unmittelbar bevor stehe. Doch handelte es sich dabei um Fehlinformationen, weswegen sich die Menge gegen Abend auflöste und auch die Soldaten – zum letzten Mal in der jahrhundertelange Geschichte Habsburgerreiches – wieder abzogen. Von der endgültigen „Liquidation des alten Staates“ sprach tags darauf das „Prager Tagblatt“.

Wieviel Kafka von alledem mitbekommen hat, ist nicht bekannt; ob und inwiefern es ihn überhaupt berührt hätte, schwer zu sagen. Vermutlich hätte er sich, wie schon im August 1914, diskret unters Volk gemischt und den Tumult schweigend beobachtet.

14 Tage später, am 28. Oktober 1918, wurde im Prager Gemeindehaus der tschecho-slowakische Staat ausgerufen. Mit Gegenwehr war aufgrund der mittlerweile nahezu vollständig eingetretenen Implosion des österreichisch-ungarischen Staates nicht mehr zu rechnen.

Kafka hatte zu diesem Zeitpunkt das Schlimmste überstanden und befand sich auf dem Weg der Genesung. Allerdings sollte es zwei weitere Wochen dauern, bis er wieder soweit bei Kräften war, das Haus zu verlassen.

Was ihm in diesen Wochen des Oktober 1918 widerfahren war, hätte er sich selbst kaum besser ausdenken können: Als Bürger der Habsburgermonarchie war er in einen unruhigen Fieberschlaf verfallen, um als Bewohner der neuen tschechischen Demokratie wieder zu erwachen. Den für den Herbst des Jahres 1918 so zeittypischen Widerstreit zwischen Körper und Geschichte, Pandemie und Politik, der die Erfahrungen von Millionen Menschen in Europa prägte – wobei die Pandemie in der öffentlichen Aufmerksamkeit deutlich hinter den politischen Ereignissen rangierte, zumindest im mittleren und östlichen Europa –, Kafka erfuhr ihn am eigenen Leib.

Wobei die Pandemie, das gilt es der Einordnung halber zu betonen, in der Aufmerksamkeit der Zeitgenossen (und im diametralen Gegensatz zur Corona-Situation des Jahres 2020) deutlich hinter den politischen Ereignissen rangierte, insbesondere in den Gesellschaften des mittleren und östlichen Europas, die am gravierendsten vom Ende des Krieges betroffen waren. Dies verdeutlicht ein Blick in die Zeitungen, deren Berichterstattung sich vor allem mit den Folgen des Krieges und den daraus resultierenden revolutionären Zuständen auf den Straßen befasste. Beiträge zur parallel grassierenden Spanischen Grippe rückten da in den Hintergrund; sie finden sich überwiegend auf den hinteren Seiten der täglich mehrfach erscheinenden Tagespresse. Hinzu kommt, dass die Sensibilität der Menschen nach den Erfahrungen von vier Jahren Krieg und Zerstörung gegenüber Krankheit und selbst Tod eine andere war als heute; zumal gegenüber einer Krankheit, die zwar weltweit mehr Menschenleben forderte als der Ersten Weltkrieg (was jedoch erst im Rückblick so richtig deutlich wurde), von der sich jedoch auch die überragende Zahl der Infizierten binnen weniger Wochen wieder erholte.

Kafka war hier keine Ausnahme. In seinen Aufzeichnungen finden sich keine Hinweise darauf, dass er seiner Ansteckung mit der Spanischen Grippe eine übermäßige Bedeutung beigemessen hätte. Seine Pflege erfolgte zu Hause und durch die Familienangehörigen, von denen sich glücklicherweise keiner ansteckte. Und auch in der Rückschau schien sich das Ereignis rasch verflüchtigt zu haben. Als er sich wenige Jahre später, im April 1924, zur Behandlung seiner Tuberkulose, die mittlerweile auch auf den Kehlkopf übergegriffen hatte, in ein Wiener Krankenhaus begab, hat er bei der Anamnese die Erwähnung der Vorerkrankung aus dem Oktober 1918 schlicht vergessen.

Dennoch erwiesen sich die Langzeitfolgen der Spanischen Grippe für Kafka letztlich als fatal. Und nicht nur historisch, sondern auch persönlich markierte der Oktober 1918 für ihn eine tiefgreifende Zäsur. Finanziell hatte er fast sein gesamtes Vermögen mit Kriegsanleihen verloren, weswegen ihm die für nach dem Krieg erträumte Existenz als freier Schriftsteller verwehrt blieb (sofern er den Mut zu diesem schon mehrfach verschobenen Schritt überhaupt aufgebracht hätte). Gesundheitlich vermochte er sich nie vollständig zu erholen. Die Schwächung des Körpers in Folge der Spanischen Grippe hatte die nur scheinbar geheilte Tuberkulose zurückgebracht; sie sollte ihn nicht wieder loslassen. Sechs Jahre später, ein spätes Opfer der schwersten Pandemie des 20. Jahrhunderts, wird er ihr 40-jährig erliegen.

Beitragsbild von Anthony DELANOIX

Körperlos? – Theater im digitalen Raum

von Felix Lempp

 

Thomas Melle trägt einen dunklen Pullunder, sitzt mit locker überschlagenen Beinen auf seinem Stuhl und schaut ins Publikum:

„Alles hier ist live. Und gleichzeitig mache ich hier jeden Tag genau dasselbe. Sie sind die Unregelmäßigkeit, nicht ich. Sie leiden darunter, dass Sie wie ein Algorithmus Ihre eigene Position immer wieder neu im Verhältnis zu den anderen bestimmen müssen. Aber in der Summe verhalten sich auch Sie und die anderen Zuschauer in diesem Raum jeden Tag ungefähr gleich.“

Aber natürlich stimmt das nicht – nichts ist gerade gleich. Denn ich sitze nicht mit anderen Theaterbesucher*innen in den Münchner Kammerspielen, die Eintrittskarte zu Stefan Kaegis Uncanny Valley im Jackett, sondern gut 600 km nördlich ganz ohne Billett in meiner kleinen Hamburger Wohnung. In den Kammerspielen sitzt gerade niemand, dort wird auch auf absehbare Zeit niemand sitzen, solange ein Virus das ganze Land lahmlegt – und zwar anders, als uns Filme wie die Dokumentation über Internet-Viren Zero Days das angekündigt haben. Denn die Bedrohung ist keine digitale, ganz im Gegenteil: Verfolgt man in den letzten Wochen soziale Medien, kann man den Eindruck gewinnen, dass das, was viele Menschen in Zeiten von Corona psychisch auch gesund hält, gerade eine digitale Kommunikation ist, die die körperlich-zwischenmenschliche zwar nicht ersetzen kann, aber hilft deren momentane Einschränkung zu ertragen.

Was sich neben dem Austausch mit anderen Menschen auch ins Netz verlagert, ist ein Teil des kulturellen Lebens.  Dabei machen auch die Theater mit – und wie: Neben kleinen Lyrikhappen und Alltagsperformances der Theaterschaffenden stellen die Häuser vor allem Mitschnitte aktueller und älterer Inszenierungen (meist für einige Stunden) online. Das Branchenportal nachtkritik.de lud unter #streamingtrommeln und #smalltownstream sogar zum gemeinsamen Ansehen von Inszenierungen ein. Dies funktionierte auch deshalb so gut, weil mit Christopher Rüping und Falk Richter die beiden Regisseure von Trommeln in der Nacht  bzw. Smalltownboy im begleitenden Chat dabei waren und so dem gemeinsamen Theaterschauen und -diskutieren den Reiz des Making-of hinzufügten. Das Angebot der Theater ist divers und wird erkennbar über die Wochen weiterentwickelt. Also ein Hoch auf die Digitalisierung, ein Hoch auf Online-Kultur und -Theater – und alles ist gut? Nein! Denn natürlich ist alles komplizierter.

 

Leipzig ist überall – Berlin auch?

„Die Buchmesse ist überall“ – unter dieses Schlagwort stellte Deutschlandfunk Kultur seinen Bücherfrühling angesichts der abgesagten Leipziger Frühjahrsversammlung der Buch- und Medienbranche. Auch im Netz bemühten sich viele Leser*innen durch Empfehlungen und Diskussionen unter ähnlichen Mottos wie #lbmzuhause oder #virtuallbm, die finanzielle Katastrophe, die der Wegfall einer Präsentationsmöglichkeit in Leipzig gerade für kleinere Verlage bedeutet, abzufedern. Was sich hier also beobachten lässt, sind die Möglichkeiten, die das Internet einer gut vernetzten Community zur Herstellung von Sichtbarkeit bietet.

Die Leipziger Buchmesse ist aber natürlich nicht die einzige kulturelle Großveranstaltung, die dieses Jahr wegen der gesundheitlichen Gefahr ausfällt. Mit dem Berliner Theatertreffen ist – neben den meisten anderen Festivals – auch das wohl prestigeträchtigste deutsche Theater-Branchentreffen abgesagt. Führt also auch hier der Weg „von der Homepage zur Home-Stage“, wie nachtkritik.de angesichts der vielen Streaming- und Digitalformate titelte, die allerorts entstehen? Der Versuch jedenfalls wird unternommen, wie die Leitung der Berliner Festspiele jüngst unter der Überschrift “Theatertreffen virtuell” ankündigte: Sechs Inszenierungen der Zehnerauswahl sollen für jeweils 24 Stunden online gestellt werden, eingebettet in Nachbesprechungen und ein Kontextprogramm zur digitalen Praxis im Theater. Es wird spannend sein, dieses aus der Not geborene Experiment ab dem 1. Mai zu verfolgen, galt doch bisher, dass Theater eben gerade nicht überall sein kann – schon gar nicht im digitalen Raum.

Das hat mit den Spezifika dieser Kunstform zu tun, die sich (nicht erst in Abgrenzung zum Film) durch das unwiederholbare Ereignis der Aufführung definiert, die von Akteur*innen und Publikum gemeinsam an einem Ort geteilt wird. Romane kann man auch im stillen Kämmerlein lesen, aber für die im kulturellen Stadtgespräch gefeierte Inszenierung muss man sich doch ins Theater bewegen. Doch dann kam Corona und mit dem Virus die Schließung der Theater, die, das wird in der Debatte häufig übersehen, nicht nur die Rezeption, sondern auch die Produktion neuer Inszenierungen und Formate hemmt, wie Christopher Rüping auf Twitter erklärt:

„Das Problem ist eben, dass wir bei geltenden Bestimmungen momentan keine Möglichkeit haben, auch nur zu dritt, viert oder fünft im selben Raum zu sein. Solange das so ist, bleiben die Möglichkeiten für wirklich innovative Formate digitalen Arbeitens begrenzt.“

So betrachtet ist das momentane Streaming von alten Inszenierungsmitschnitten weit weniger innovativ und zeitgemäß, als es zum Teil verkauft wird. Es erscheint vielmehr als die einzige Möglichkeit der Öffentlichkeitswirkung für die Theater.

Schon kommt aber die Frage auf, ob die Suche nach Öffentlichkeit gerade überhaupt die drängendste Aufgabe des Theaters sein sollte: So wirft die Dramaturgin Katja Grawinkel-Claassen den Häusern einen „Corona-Reflex“ vor, der im Sinne der neoliberalen Marktlogik eines kulturellen perform or perish zu einer „digitalen Überproduktion“ führe. „Hört auf zu streamen!“, fordert in diesem Sinne auch der Theaterkritiker Uwe Mattheiß und sieht in der gegenwärtigen Konjunktur der Online-Ersatzspielpläne gar den Kern der theatralen Kunst gefährdet:

„[W]as ist darstellende Kunst ohne die körperliche Präsenz von Akteur*innen und Publikum? Das ist keine analoge Nostalgie, sondern die Frage nach dem materiellen Substrat, das von der Kunst nicht abzutrennen ist, ohne das nichts Form wird, sondern nur die beliebige Reihung zufälliger Gedanken.“

Sollten also die Theaterschaffenden das Streamen beenden und sich in die künstlerische Isolation zurückziehen, um schon einmal den postpandemischen Spielplan zu planen, wenn die Häuser wieder öffnen und Zuschauer*innen wie Performende in trauter körperlicher Ko-Präsenz die Guckkastenbühnen deutscher Stadt- und Staatstheater aufs Neue beleben? Wird dann endlich wieder alles gut? Einiges spricht dagegen.

 

Körperkult

Was in der Verteidigung eines materiellen, körperlichen Kerns des Theaters, der durch seine Verlegung in digitale Räume irreparabel beschädigt würde, oftmals mitschwingt, ist die Vorstellung des ‚echten‘ und ‚authentischen‘ Theaters als eine Art Antidot gegen Globalisierung und Medialisierung. Wo der Schweiß spritzt und sich die Darstellenden verhaspeln, scheinen Kunst und Künstler*in unmittelbar und sinnlich erfahrbar zu sein, scheint der Gegenstand unserer Wahrnehmung nicht über tausende Kilometer, durch hunderte virtuelle Knotenpunkte und dutzende Insta-Filter zu laufen, sondern sich endlich wieder in der körperlichen Begegnung als direkte Kommunikation zu manifestieren. Insofern bringt das Theater tatsächlich die Welt auf die Bühne: nicht im Sinne eines naiv verstandenen Naturalismus als deren Abspiegelung, sondern als Inszenierung eines räumlichen Versuchsaufbaus, der allen Zuschauenden die Möglichkeit gibt, sich zu Welt in Beziehung zu setzen. Dass es diese Möglichkeit einer gemeinschaftlichen kulturellen Selbstverortung und damit letztlich auch identifikatorischen Selbstvergewisserung bieten kann, reklamiert das Theater seit jeher als eine seiner sozialen Leistungen.

Verfolgt man momentan den Diskurs über das Streaming und die digitale Diskussion von Inszenierungen in den sozialen Netzwerken, zeigt sich, dass es genau diese analoge Gemeinschaft ist, die gerade besonders vermisst wird: Was viele Theaterbegeisterte im gemeinsamen Rezipieren und Diskutieren der Inszenierungen zur Zeit suchen, ist nicht unbedingt ein ästhetisches Erlebnis, das dem der analogen Bühnensituation nahekommt. In der Versammlung um das ‚digitale Theaterlagerfeuer‘ hoffen sie in Zeiten sozialer Vereinzelung vielmehr auf die gemeinschaftsstiftenden Potenziale des Theaters. Während also die einen versuchen, zumindest einen Abglanz der theatralen Gemeinschaft in den digitalen Raum zu retten, sehen die anderen durch diesen temporären Umzug mit dem Verlust der analogen Materialität des Theaters auch seine künstlerische Berechtigung bedroht. Aber was genau ist das eigentlich für eine theatrale Gemeinschaft, um die derart verbissen gerungen wird?

 

Theatrale Gemeinschaft – und Selektion

Laut der Erhebung des Freizeit-Monitor 2019 der Stiftung für Zukunftsfragen, der das Freizeitverhalten der Deutschen untersucht, beantworteten die Frage, ob sie mindestens einmal im Jahr „eine Oper bzw. ein Klassikkonzert, ein Ballett oder ein Theaterstück“ besuchten, gerade einmal 22 % der Befragten mit ‘Ja’. Schon hier drängt sich der Eindruck auf, dass nur durch die Zusammenfassung all dieser Kunstformen, die die Studie dann auch als „Freizeittätigkeit ‚Hochkultur‘“ ausweist, überhaupt nennenswerte Prozentsätze unter den Befragten zusammenkamen.

Ein noch desolateres Bild ergibt sich, wenn man die Häufigkeit der Veranstaltungsbesuche genauer aufschlüsselt: Mindestens einmal im Monat besuchten nur  4 % der Befragten eine der genannten Veranstaltungen, auf wöchentlicher Basis (1 %) waren die Theaterschaffenden wohl so gut wie unter sich. Zum Vergleich: Mindestens einmal pro Jahr ein Buch lasen 68 % der Befragten, mindestens einmal pro Woche immerhin noch 31 %. Man muss also festhalten, dass die theatrale Gemeinschaft einen sehr kleinen Ausschnitt der Gesamtbevölkerung ausmacht – 88 % antworteten auf die Frage nach der Häufigkeit ihrer ‘hochkulturellen’ Freizeitaktivitäten mit ‚seltener als einmal jährlich‘. Hinzu kommt:  Diese Gruppe ist höchst selektiv. Welche Faktoren über die Zugehörigkeit bestimmen, dürfte niemanden überraschen –  es sind formale Bildung und Einkommen.

So besuchten immerhin 38 % der formal Höhergebildeten (Abitur / Studium) und 29 % der Besserverdienenden (Haushaltsnettoeinkommen von über 3.500 €) mindestens einmal jährlich Theater, klassisches Konzert, Ballett oder die Oper. Von den Befragten mit Haupt- oder Volksschulabschluss taten das nur 13 %, bei Geringverdiener*innen (Haushaltsnettoeinkommen von unter 1.499 €) waren es 15 %. Es ist also eine sehr spezifische Gemeinschaft, die im Theater entsteht. Vielleicht erscheint uns diese auch als unbedingt schützenswert. Wir müssen uns dann aber auch klar darüber sein, wie ausschließend und gesamtgesellschaftlich gesehen nischenhaft diese geschützte Gemeinschaft erscheint.

Selbstverständlich wäre es unsinnig, als Allheilmittel gegen diesen Befund die unbedingte Digitalisierung des Theaters anzuführen. Selektoren wie Einkommen oder formale Bildung haben natürlich auch und zunächst mit Vermarktungsstrategien und spezifischen Bildungsvoraussetzungen des Theaters zu tun. Aber wenn die Herausbildung dieser derart selektiven theatralen Gemeinschaft so stark über den geteilten Raum gedacht wird, wäre es dann nicht trotzdem an der Zeit, über Theater auch in seinen räumlichen Dimensionen nachzudenken? Wenn Theater nach wie vor Welt(bezug) auf die Bühne bringt, muss es dann nicht auch die eigene Rolle in den sich jetzt konfigurierenden digitalen Räumen reflektieren?

 

Meme-Fabrik Theater?

Dafür, dass mit einer Öffnung des Theaters hin zu dem, was in seiner programmatischen Verschiedenartigkeit oftmals als „Netzkultur“ zusammengefasst wird, auch eine Öffnung der theatralen Gemeinschaft einhergehen könnte, gibt es zumindest Indizien. So sieht der Co-Chefredakteur von nachtkritik.de Christian Rakow das Streamen in Zeiten von Corona als einen Schritt auf dem Weg zu seinem Traum, in dem auf Partys genauso aus Inszenierungen zitiert würde wie aus Filmen, „und zwar ganz selbstverständlich, ohne Bildungsdünkel, einfach weil man weiß, dass andere wissen“. Er beobachtet in diesem Sinne erfreut die „ästhetischen und kommunikativen Handlungen“, die an das Streamen von Inszenierungen anschließen. So entstehen gerade beispielsweise erste gifs und Memes, die sich am Material der Inszenierung bedienen, um einen kleinsten Ausschnitt des theatralen Gesamtgewebes zu isolieren und für die popkulturelle Anschlusskommunikation online zur Verfügung zu stellen.

Dass diese Meme- und gif-Produktion doch nur die Nische der Theater-Nerds bedient, ist fürs Erste richtig, zeigt aber auch, wie wenig viele Stimmen aus demjenigen Kulturbereich, den der Freizeit-Monitor 2019 als den “hochkulturellen” ausruft, von den produktiven Transformationskräften des Netzes wissen wollen. Denn noch vor einigen Jahren konnte man Gleiches über so gut wie alle Memes und gifs sagen, doch längst sind diese digitalen Kommunikationsformen ihren ursprünglichen Heimatplattformen entwachsen – heute diskutieren auf Twitter zum Beispiel Hochschuldozent*innen über Pro und Contra ihres Einsatzes in der universitären Lehre. Wenn die Büchse der Pandora einmal geöffnet wurde, verbreitet sich der Inhalt schnell. Und wer nicht glaubt, dass ihre eher symbiotische als parasitäre mediale Weiterverwendung auch der hochkulturellen Quelle nicht schaden muss, sollte Pandoras unboxing-Video schauen. Was das Streamen von Inszenierungen hier also ermöglicht, ist eine kulturelle Anschlusskommunikation, indem es das, was auf den Probebühnen der Nation in sechs Wochen erarbeitet und dann zwei Jahre lang gespielt wird, einer großen Gemeinschaft im Internet verfügbar macht.

Spätestens hier erfolgt nun sicherlich der Aufschrei vieler Theaterfreund*innen – und mit Recht. Denn natürlich stimmt das so nicht. Der Stream mach nicht das theatrale Erlebnis der Aufführung erfahrbar, sondern dampft die Inszenierung auf ihren „informativen Wert“ ein, wie es Christopher Rüping formuliert hat. Und deshalb liegt im aktuellen Streaming nicht nur eine Chance für das Theater im digitalen Raum, sondern auch eine große Gefahr. Denn wenn das Theater sich bei der Erschließung digitaler Räumlichkeit lediglich als Produktionsmaschine für Memes und gifs versteht, die ohne jeden Kontext im Internet zirkulieren – sind wir dann nicht auf direktem Weg zu dem Theater der substanzlosen beliebigen Reihung zufälliger Gedanken, vor welchem Mattheiß warnt?

Hier zeigt sich, dass Streaming auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Theater und digitalem Raum nur eine der Antworten darstellen kann – und es ist, trotz ihrer Dominanz in der momentanen Diskussion, keinesfalls die wichtigste. Denn entscheidender noch als ein erleichterter Zugang zu und die breite Diskussion von theatralen Produkten ist die Frage, wie Theater Digitalität ästhetisch-konzeptionell reflektiert. Bei keiner der gestreamten Inszenierungen ist ihre digitale Präsentation konzeptioneller Ansatz. Das Streaming ist und bleibt daher mal schlechter gemachte, mal besser begleitete Notlösung, bleibt Surrogat für die Unmöglichkeit der körperlichen Ko-Präsenz von Publikum und Performenden und markiert in diesem Sinne eher einen ästhetischen Mangel, als dass es ihn behebt.

 

Digitalität als Auftrag

Aber es gibt auch grundsätzliche und vor allem konzeptionelle ästhetische Überlegungen, wie Digitalität und Theater zusammengedacht werden können – und es gab sie schon vor Corona. Die Akademie für Theater und Digitalität beispielsweise wurde unter Direktion des Intendanten Kay Voges zur Spielzeit 2019/20 als sechste Sparte des Theater Dortmund gegründet. Sie fordert einen Beitrag des Theaters zur „epochalen Aufgabe, die zahlreichen neuen Verbindungen von digitaler und analoger Welt, also die Digitalität, zu untersuchen: phänomenologisch, soziologisch, philosophisch, technisch und – als Kerndisziplin der AKADEMIE – künstlerisch“. Die Fragen, die sich einem Theater stellen, das seine Aufgabe in solch einem ehrgeizigen Programm ernst nimmt, sind vielfältig:

„Wie reagiert das Theater auf diese Veränderungen? Mit welchen Erzählweisen, Versuchsanordnungen und technologischen Erfindungen? Welches Know-How brauchen Theaterschaffende jetzt? Und welches in der Zukunft? Welche Werkzeuge können und müssen die Theater selbst entwickeln?“

Die daraus erwachsenden Reflexionen zu Theater und Digitalität sind viel grundsätzlicher als die momentane Diskussion pro / contra Streaming. Mit ihnen muss sich das Theater aber zukünftig auseinandersetzen, wenn es nicht den Anschluss an die Lebenswelt seines Publikums verpassen will.

Entsprechende Überlegungen betreffen verschiedene, miteinander vernetzte Ebenen: Es geht zum einen um die vorurteilsfreie Beschäftigung mit ästhetischen und narratologischen Inszenierungsverfahren der Netzkultur, die beispielsweise den Besucher*innen von Jette Steckels aktueller Hamburger Hamlet-Inszenierung begegnen, wenn sie beim Vor-Aufführungs-Schampus in die Insta-Story der durchs Foyer streunenden Influencer Rosi und Güldi – aka Rosenkranz und Güldenstern – geraten. Es geht weiterhin um die konzeptionelle Auslotung der theatralen Potenziale von technischen Neuerungen wie VR, wie sie die Cyberräuber in ihrem Theater der virtuellen Realität einsetzen. Und es geht nicht zuletzt um Überlegungen, wie dem Publikum programmatisch die Partizipation an der Aufführung ermöglicht wird, ein Raum-Schaffen, das – wie der Dramaturg Cornelius Puschke anmerkt – nicht zwingend sofort etwas mit der Implementierung von Technik zu tun haben muss.

All diese Fragen zielen letztlich auf die Erforschung der Entstehungsfaktoren, Beschaffenheit und Aktionspotenziale der theatralen Gemeinschaft im digitalen Zeitalter, deren analoge Manifestation wir Theaterbegeisterte in der Krise alle so vermissen. Es wäre aber problematisch, die momentane Unmöglichkeit der körperlichen Ko-Präsenz nur als Mangel zu begreifen, der hoffentlich bald wieder aufgehoben sein wird. Stattdessen bietet es sich an, nach der Krise neue Wege zu erproben, die das Theater konzeptionell und ästhetisch gehen kann, um nicht nur digitale Räume, sondern vielleicht sogar neue Publikumsgruppen zu erschließen.

Wohlgemerkt: Es geht hier nicht darum, die Krise neoliberal zur Chance umzuinterpretieren, sie ist für viele Beschäftigten an den Häusern – von der Freien Szene ganz zu schweigen – existenzbedrohend. Deswegen kann es gerade auch nur um ein Überstehen der Situation bis zu dem Zeitpunkt gehen, ab dem geregelte Arbeitsbedingungen auch im Theater wieder möglich sind. Vielleicht bleiben aus der Zeit des Virus aber neben all ihren Härten und Notlösungen auch Theaterprojekte wie die in Augsburg, Zürich oder Indie-Produktionen ganz ohne den institutionellen Rückhalt eines Hauses in Erinnerung, die die momentane Unmöglichkeit analoger Gemeinschaft als konzeptionellen Ausgangspunkt ihrer Theaterarbeit nehmen.

 

Die Melle-Maschine

Ganz egal, wie Theater nach dem Corona-Virus aussieht: Wir müssen keine Sorgen haben, dass es seine bisherigen Spielstätten endgültig verlassen wird und wir ihm für immer in die virtuelle Gemeinschaft der Chatrooms und Livestreams zu folgen haben. Eine Erkundung der Möglichkeiten und Aufgaben des Theaters im digitalen Raum bedeutet ja keinesfalls seine bedingungslose Unterwerfung unter die Regeln der Virtualität, ganz im Gegenteil. Genauso, wie ein Vergleich der gestreamten Inszenierungskonserven mit körperlich geteilten Aufführungen ihrem momentanen Charakter als krisenbedingter Notlösung nicht gerecht wird, blendet eine Verkürzung der Diskussion um digitale Theaterformen auf die Konservierung von Produktionen im Stream die Komplexität der Problemstellung aus.

Um zu zeigen, dass auch ein Theater, das die analoge Bühnensituation auf den ersten Blick nicht antastet, Fragen unserer digitalen Lebenswelt behandeln kann, kehren wir abschließend noch einmal zu Thomas Melle zurück, den ich zu Beginn der Überlegungen auf meinem Hamburger Bildschirm beobachtet habe. Denn jetzt kann ich es ruhig verraten: Eigentlich saß da gar nicht Thomas Melle, sondern ein Roboter mit Melles Gesicht, Körpergröße, Frisur. Eine Melle-Maschine.

Wenn also diese Melle-Maschine sagt, dass sie „jeden Tag genau dasselbe“ mache und nicht sie, sondern die Zuschauenden die Abweichung seien, dann ist das wörtlich zu verstehen. Ihr Programm läuft jede Aufführung gleich ab, spontanes Lachen oder Unruhe im Saal sind ihr egal. All die kleinen Mikrointerkationen zwischen Bühne und Publikumsraum, die die Gemeinschaftsbildung von Performenden und Zuschauenden eigentlich bedingen, finden nicht statt. Warum das alles also nicht grundsätzlich über den Bildschirm schauen? Was habe ich davon, dem Roboter gemeinsam mit anderen zuzusehen? Ist das hier eigentlich noch Theater – und wenn ja: Was für eines?

Diese Fragen führen mitten hinein in den Problemkomplex ‚Theater im digitalen Zeitalter‘, obwohl wir eigentlich im Publikumsraum vor der Bühne sitzen; ohne Corona zumindest sitzen könnten. Der Virus macht die Frage nach dem Raum des Theaters momentan zwar besonders akut, die Grundfrage nach neuen Möglichkeiten und Grenzen theatraler Gemeinschaftsbildung im Digitalen stellt sich aber auch unabhängig von Corona. Ein Theater, das sich der Auseinandersetzung mit dieser Frage reflexhaft durch den Hinweis auf die gemeinschaftsstiftende körperliche Ko-Präsenz aller theatralen Kunst zu entziehen versucht, macht es sich zu einfach. Ein Theater, das auf derartige Fragen lediglich mit dem Onlinestellen von Inszenierungen und ihrer digitalen Begleitung antwortet, aber auch.

Wir Lektomaniker – “Ubiquitäre Literatur” von Holger Schulze

von Holger Schulze

 

Wir lesen immer. Überall. An beinahe jedem Ort ist etwas lesbar. Nicht erst durch die Allgegenwart von Text in den sozialen Medien und an anderen Orten des Internets sind wir zunehmend von Lesbarem umgeben. Daher kommt der neue Band der Reihe “Fröhliche Wissenschaft” von Holger Schulze “Ubiquitäre Literatur. Eine Partikelpoetik“, der am 30. April 2020 beim Verlag Matthes & Seitz erscheint zu dem Schluss: “Ohne Unterlass bewegt sich diese Literatur durch unsere Hände, von Kurznachrichten zu Bewegtbildern, vom Wortwechsel zur Verkaufsbotschaft, vom Werbefilm zum Diagramm. Denn diese neuen Formen des Textens bestehen aus Partikeln, aus den atomisierten Spuren der Digitalisierung.”

Aus diesem Band veröffentlichen wir vorab das einleitende Kapitel.

Das Wahrnehmbare lesen

 

Wörter sind immer
in unserem Blickfeld,
auf Etiketten, Bücherregalen,
Dateien und so weiter.
Schriftliche Sprache
ist allgegenwärtig,
nahtlos integriert
in unsere Umgebung.[1]
(Anahid Kassabian)

 

Im Wald der Lektüre

Ich stehe im Wald: einem Wald der Lektüre. Um mich herum stehen Säulen, auf denen Worte, Zeichen, schräg angeschnittene und übereinandergelagerte Buchstaben angebracht sind. Ein Lesewald in Nordrhein-Westfalen. Denn Worte, wie Anahid Kassabian schreibt, sind stets „integriert in unsere Umgebung“. Lassen Sie uns durch diesen Wald

© Ferdinand Kriwet, Fotografie: © Carsten Gliese

schweifen. Schön saftig und weit bietet eine Lichtung sich uns dar, lädt ein zum Liegen und Kugeln, Hocken, Trinken, Rauchen und Spintisieren – wie das der Locus amoenus so will. Doch ehe wir uns versehen, stolpern wir und prallen gegen etwas, das gar nicht hierherzugehören scheint. Vor uns steht eine Reihe von Säulen, weißlich oder durchscheinend, auf denen Zeichen angebracht sind. Keine lesbaren Zeichen, die uns bekannt sind – eher Brüche von Zeichen, Halbzeichen, Schrägbuchstaben, Schieflettern. Das hindert uns nun jedoch keineswegs daran, sofort zu versuchen, diese Chiffrenschliffe entziffern zu wollen. Versuchen wir’s!

Diese Säulen sind keine Naturerzeugnisse, auch keine Beispiele unbedacht hervorgebrachter Laienkunst. Es sind Texte. Wir befinden uns im Jahr 2002 in Mönchengladbach. Die Säulen dieses Lesewalds sind Teil einer Arbeit im öffentlichen Raum des Autors und bildenden Künstlers, Radioautors und Dichters Ferdinand Kriwet. Kriwet betrat die Kunst- und Literaturgeschichte zuerst in den 1960er-Jahren mit konkreter Poesie wie ROTOR [2] oder durch die runse auf den redder  [3]. Später entstanden großflächige Rauminstallationen unter Verwendung imaginärer Logos und Schriftschnitte wie im obigen Beispiel – etwa Mitmedien [4] oder Yester’n’Today [5]. Seine Hörstücke der 1970er- und 1980er-Jahre, die er „Hörtexte“ nannte, erhielten etliche Preise und wurden Klassiker: OOS IS OOS (1968), ONE TWO TWO (1968), RADIOBALL (1975) und Dschubi Dubi (1977). Neben diesen Hörtexten veröffentlichte er Vortragstexte, Sprechtexte, Vorlesetexte, Lesestücke, Schrifttexte, Schreibtexte. Die Möglichkeiten des Lesens und Schreibens unterscheidet er – begrifflich streng – somit ganz nach ihren Funktionen, Aufführungssituationen und Schreibtechniken. Alles Lesen und Schreiben wird bei ihm Text – und alle seine Texte entspringen aus Lesen und Schreiben.

Eine charakteristische Begeisterung der 1960er-Jahre für den öffentlichen Text wirkt hier nach, in dieser endlosen Vielfalt von Textformen, Schreibtechniken, Leseformen und Arten der Textaneignung im Werk Kriwets. Diese Begeisterung für Werbeslogans, Zeitungsanzeigen und Schlagzeilen, Fernsehwerbung und Fernsehseriendialoge, Schlagertexte und Hitlisten entstand freilich nicht erst in jenem Jahrzehnt. Sie lässt sich lange zurückverfolgen, bis hin zu Georg Christoph Lichtenbergs faszinierten Notizen aus London vom Ende des 18. Jahrhunderts; ein Jahrhundert später dann bei den Symbolisten und Naturalisten – die Metropolen-, Nachrichten- und Publikationsekstase nimmt zu –; schließlich technophil verschärft bei Futuristen und Dadaisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts und bei den Spätavantgarden im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts: sei es bei den französischen Oulipo, bei William S. Burroughs oder FLUXUS-Komponisten, bei Happeningkünstlern der 1960er-Jahre. [6] Kriwet schließlich besingt diese veränderte Rezeption von Wort und Bild – so der Titel seiner Poetik – im Jahr 1965 wie folgt:

Sie wollen z. B. mit dem Autobus einen Bekannten besuchen; an der Haltestelle sehen Sie sich dem Fahrplan, einem Poem aus Zahlen und Ikonen, in Augenhöhe senkrecht gegenüber, während der Busfahrt blicken Sie Schilder („Mit dem Schaffner sprechen verboten!“, „Festen Halt suchen“, „Betätigung dieser Knöpfe nur durch den  Schaffner“ etc.) im Businneren an, derweil Reklametafeln, Neonschriften, Verkehrsschilder draußen für Sie an Häuserwänden, auf Bauzäunen, an Stangen und Masten posieren und Ihr Gegenüber liest vielleicht gerade die Zeitung, welche Ihnen ihre Rückseite zuwendet. [7]

 

Allgegenwartsliteratur

Text ist überall, Sprache ist überall. Abgebildet, notiert, in Verbindung mit Bildern, Ideogrammen, in Bewegung, animiert, abgefilmt, dargestellt und ablesbar. Unaufhörlich umgeschrieben, neu reingesendet als Untertitel, Kommentar und Anmerkung. Die Avantgarden und Spätavantgarden des 20. Jahrhunderts, zwischen Futurismus, Lettrismus und FLUXUS, dokumentierten die Wucht des sogenannten linguistic turn in jenen Jahren: Die Welt ist durch Sprache geformt und ohne das historisch und kulturell sich wandelnde menschliche Verständnis der Sprache zu verstehen, lässt sich auch die Welt nicht verstehen. Die Avantgarden ratifizierten die Kraft dieser faktisch zeichentheoretischen Erkenntnis – die das tägliche Leben durchdringt – auf eine material eindrückliche Weise: gerne befeuert von den je angezeigten Drogen, den Techniken zur Bewusstseinsveränderung oder -erweiterung und den Sexualentgrenzungen der Saison. Die Welt war ihnen nun vollständig lesbar, sprechbar, deutbar, vor allem aber auch beschreibbar und beschriftbar geworden. Die Omnipotenzfantasie der Sprach- und Textförmigkeit der Welt, der Handlungen, ja aller Dinge und Entitäten konnte künstlerisch und literarisch vorgeführt werden. Seit den Modernitätserfahrungen der ersten Metropolen – London, Paris, Rom, viel später New York, Berlin, schließlich Tokio, Hongkong, Schanghai – wurde eine Gleichzeitigkeit der Schriften und Statements, Ansagen und Zwischenrufe, des überhörten und der Fehllektüre, des Protokollierens, Rekombinierens und der einander neu interpretierenden Plakate nicht nur allgemein erfahrbar und diskutierbar, sondern zu einer identitätsstiftenden Erfahrung stilisiert: die Epiphanie des Ichs, das Textbruchstücke sammelt. Was zunächst künstlerisch vorgeführt wurde, in vielstimmigen Gedichten und arrangierten Bewusstseinsströmen, in Collagebildern und Textmontagen, Hitparaden und Produktlisten, in Zeitungsklebe- und -lesearbeiten, in der Aufzählung von Dingen, Situationen, Objekten und Gedanken, Autoren und Texten, Songs und Bands, Firmen- und Dragqueennamen, notiert in Sudelheften und Bumsbüchern, in Schmier- und Notizheften – all dies bestimmt mittlerweile, im 21. Jahrhundert, den breiten Strom, der durch alle Netzwerke und Nachrichtenkanäle fließt. Anfang der 1970er-Jahre jagte Rolf Dieter Brinkmann durch die Straßen von Köln und sprach in sein Aufnahmegerät, das ihm der WDR zur Verfügung gestellt hatte [8]:

Da gehe ich also jetzt an alten Läden vorbei. Ich gehe an alten Kleidern vorbei, an verblichenen Seidenstoffen. Ich gehe an Autolichtern vorbei. Die Autolichter tun meinen Augen weh. Die Pfützen, die Regenpfützen, die schmierigen Regenpfützen, die werden durch eine grüne Leon-…- richtreklame gefärbt. Sie werden durch weiße Neonlichter gefärbt. [9]

Denkempfindungen, Namen von Ladengeschäften, Aufschriften und Beobachtungen – instantan [10] aufgezeichnet, archiviert, umgeschrieben. Die Metropolenerfahrung bringt durch Kontingenz und Überlagerung eine andere Art zu schreiben hervor. Geschrieben wird an allen Orten, ganz dem Impuls hingegeben, der Umgebung und ihrer Zerstreuung, den kleinen Momenten und größeren Tollereien: ein dummes Schreiben [11] – im allerbesten Sinne:

Ich geh an – einem goldenen Schriftstück, das heißt: TRANSTÜRK HOLDING AG ALMANYA (KÖLN) BÜROSU. Das auf einem, das auf einer gläsernen Wand gedruckt ist, vorbei. Alles Büros. Alles Neonlicht-richtreklamen. Alles Kellner, die Pommes Frites-Büros, Pommes Frites, Büros, hehehe, haha, haha, ha. Pommes, „pom-mes“: Erde, „frites“: gebratene Erde! Gebratene-Erde-Büros! Kellner, die an Gebratene Erde-Büros entlang flitzen und die gebratenen Erde-Büros wiederum – puuuhh-tschschsche … Ist das ein kalter Wind! [12]

Die Konsistenz eines literarischen Werkes wird also zum Ende des 20. Jahrhunderts literatur- und kunstgeschichtlich noch weiter abgebaut: Das Werk ist nicht mehr nur offen, unfertig oder in progress – schlichtweg jedes Partikel wird als werkhaft gelesen und in sich selbst als abgeschlossen geformt begriffen. Umherschwirrende Partikel lassen das Unfertige und Skizzenhafte, das Kombinatorische und Materialhafte, das Hingeworfene und Improvisierte, die vermeintlich makellose Werk- und Formgestalt von innen heraus aufbrechen:

Ein Stereo-Gerät. Eine elektrische Ölheizung. Einige Bücher. Nein, an Literatur bin ich nicht mehr so wild interessiert. [13]

Meisterschaft und Abschluss wurden immer weiter verworfen, neu stilisiert, immer weiter aufgelöst und abgebaut. Im Abbau der Meisterschaft und der Kontrolle über das Werk wurde nun eine Meisterschaft zweiter Ordnung gefordert: Ein Werk sollte nicht mehr einen Zustand außerhalb des Alltäglichen repräsentieren. Die Arbeit musste vielmehr unausdenklich eng an die Alltagserfahrung, das gewöhnliche, wenig bemerkenswerte Erleben angenähert werden. Dieses Schreiben wurde nun allgegenwärtig. Die Menge des Geschriebenen und des Gelesenen wächst seither ins Maßlose. Manuskripte, Notizen und Materialien, Formulierungen, Worte, Schriftideen, Zeitungsausrisse, rauskopierte Netzfundstücke, Sprachpartikel wuchern zu gargantuesken Korpora. In den späten 1970er-Jahren schreibt William S. Burroughs:

Einiges von diesem Material verwende ich und anderes nicht. Ich habe hier buchstäblich Tausende von Seiten mit Notizen, roh, und ich führe auch ein Tagebuch. [14]

Wir Lektomaniker

Texte sind überall, wir lesen überall. Wir sind Lektomaniker: Manisch getriebene Leserinnen und Leser. Gebratene-Erde-Büros. Noch findet sich diese Diagnose nicht im neuesten Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Sie kann zu überraschenden Zwickmühlen führen:

Leute mit Text-Tattoos stellen mich vor harte Herausforderungen. Einerseits sind mir Respekt, nicht anstarren, persönliche Grenzen super wichtig. Andererseits ist da dieser Zwang, jedes verdammte Wort vor Augen zu lesen. [15]

Unaufhörlich lesen wir – und zwar nicht nur metaphorisch. Die gesamte Welt ist nun gepflastert mit mehreren Schichten aus Texten und Zeichen, Monologen und Nachrichten. Wir lesen wirklich die gesamte Welt um uns herum. Eine bewegliche, eine umtriebige Lektüre, allerorten. Freilich ist das noch lange nicht genug: Alle Texte auf Körpern und Fahrzeugen, Gebäuden und Möbeln, auf Tieren und Pflanzen nehmen wir gerne hinzu. Gebratene-Erde-Büros. Wir sind Lektomaniker, es ist ansteckend, wir werden nie wieder aufhören: „Graffiti is the Twitter of the streets.“ [16]

Ferdinand Kriwet, mit dessen Lesewald diese Einleitung begann, war zweifellos solch ein Lektomaniker. Gebratene-Erde-Büros. In einer Fernsehsendung formulierte er 1971 die Poetik seines Schreibens dann auch, während er im Fernsehstudio umherging, in dem einige seiner Arbeiten ausgestellt waren. Herumgehend, zeichnend, ausrichtend, abreißend formulierte er wie nebenhin seine Poetik der allgegenwärtigen Schrifthandlung und Schriftwahrnehmung:

Ich verstehe unter Schrift, beziehungsweise unter den Ergebnissen, die man mit Schrift machen kann – also Literatur –, alle Möglichkeiten der optischen Information. […] es gibt einen Satz von einem Kollegen von mir – Franz Mon – der besagt: Es gibt nichts Wahrnehmbares, was nicht auch lesbar wäre. [17]

Exaltiert und extremistisch mag diese Poetik damals erschienen sein. Offenbar brauchte es überambitionierte, weiße, männliche und junge Künstlerpersönlichkeiten, um dafür zu werben. Es ist nun der Alltag. Lesen im Netz findet allerorten statt, die geliebte „Transsubstantiation von graphischen Zeichen in Laute, Worte, propositionale Gehalte, Bedeutung und Sinn“ [18]. Die Literatur ist damit nun allerorten. Sie ist ubiquitär.

Dieser Band untersucht die ubiquitäre Literatur in zwei Teilen. Im ersten Teil, der Partikelpoetik, werden die Beweisstücke zusammengesucht, die belegen, wie die Schriftkultur unserer Gegenwart tatsächlich eine ubiquitäre Leseschreiblesekultur geworden ist: Eine Dichtkunst der Partikel. Der atomisierte Text, eine Art Partikelsuppe ohne Plot, veränderte die Lektüre zu Beginn des 21. Jahrhunderts und wird darum im ersten Kapitel verwundert bestaunt und betastet. Ein Zustand der publizistischen und ästhetischen Dynamisierung der Partikel lässt sich hier beobachten, dessen wichtigste Konsequenz das zweite Kapitel im Titel trägt: Kleine Formen koppeln gern. Der Kontext tanzt also – so auch der Titel des dritten Kapitels – um poetisch komplex geformte Texte herum, denn „Hermeneutik ist heilbar“ (Christiane Frohmann) und erzeugt erst die vielfältigen Spielformen der zeitgenössischen Memblematik, der Lust an den Missverständnissen und den medialen Springprozessionen. Dies alles bringt – wie die Überschrift des vierten Kapitels verheißt – die Partikel in Poiesis durch Kalauer-Kombinatorik, klebrige Texte, im Flow einer Textpersona und ihrer sardonischen Heuristik.

Der zweite Teil, über die ubiquitäre Literatur, beschreibt einzelne Situationen des allgegenwärtigen Leseschreiblesens: Eine Literaturtheorie des Ubiquitären. Im fünften Kapitel wird zunächst das zerstreute Ich gelobt, da es viele Unbekannte mitschreiben lässt und ein Fließgleichgewicht der Einflussnahmen ermöglicht. Es gilt somit: Dummheit schreibt, im sechsten Kapitel, ohne eine Idee, sondern aufgrund von Kohäsionskräften – und erzeugt just dadurch beeindruckende Genauigkeit, Anschaulichkeit und Haltbarkeit (in den Worten Italo Calvinos). Ist es nicht eine „Euphorie im Alltag“ (Katja Kullmann) und des „Instantanen“ (Christiane Frohmann), so frage ich mich im siebten Kapitel, die diese Instagrammatologie hervorbringt? Es entstehen schließlich Situationstexte, ein Bedürfnisse artikulierendes Mitschreiben an der Umgebung, das purer Genuss ist für Lektomaniker wie uns – und das im achten und letzten Kapitel dieses Buches mit einem neuen Ehrentitel bedacht wird: Ambient Writing.

Der Begriff der ubiquitären Literatur verdankt sich den Sound Studies: der Erkundung von Klangpraktiken und Klangtechnologien in Geschichte und Gegenwart. Klänge begleiten uns schon länger unaufhörlich. Es ist kaum ein Jahrzehnt her, dass Anahid Kassabian die Begriffe der „ubiquitous music“ [19] und des „ubiquitous listening“ [20] dafür einführte. Kulturpessimistische Erkenntnisverweigerung und störrisches Beharren auf Hörertypologien und Audiopietismen ließen sie hinter sich. Musik wird gegenwärtig vor allem als ubiquitäre Musik gehört, eine kulturprägende Form des Genusses, wie Anahid Kassabian schreibt:

Es gibt nur sehr wenige Arten von Musik, die nicht als ubiquitäre Musik gehört werden – tatsächlich werden die meisten nur auf diese Weise gehört. Von klassischer Musik in Restaurants und im Auto bis hin zu Techno in Clubs und auf Webseiten, die Wohneigentum bewerben, entgeht diesem Schicksal wohl kaum eine Musik. [21]

Das Lesen und Schreiben der flugs zirkulierenden Texte vollzieht sich nach diesem Vorbild des ubiquitären Hörens von Musik. Gebratene-Erde-Büros. Durch die Weisen des Hörens lassen sich auch die Weisen des Lesens besser begreifen. Literaturforschung profitiert von Klangforschung. Es gibt nichts Wahrnehmbares, was nicht auch lesbar wäre. Begleiten Sie mich in die zirkulierende Süße und Klebrigkeit der Lettern und der Worte, der Typografien:

TYPE IS HONEY. [22]

© 2020 MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH

 

Kurzbio: Holger Schulze, 1970 in Baden-Baden geboren, ist Professor für Musikwissenschaft an der Universität  Kopenhagen und leitet dort das Sound Studies Lab. Seine Arbeiten zur Klang- und Medienkultur erschienen  zuletzt bei Matthes & Seitz Berlin, MIT Press und  Bloomsbury Academic. http://www.soundstudieslab.org

 

Anmerkungen:

1 »words are almost always in our field of vision, on labels, bookshelves, files, and so on. Written language is ubiquitous, seemlessly integrated into our environments.« Kassabian, Ubiquitous Listening: Affect, Attention, and Distributed Subjectivity, Berkeley 2013, S. 32 (Übersetzung: H. S.).

2 Ferdinand Kriwet, Rotor, Köln 1961.

3 Ferdinand Kriwet, durch die runse auf den redder, Berlin 1965.

4 Württembergischer Kunstverein Stuttgart 1975.

5 Kunsthalle Düsseldorf 2011.

6 Holger Schulze, Das aleatorische Spiel. Die Entdeckung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 179–262.

7 Ferdinand Kriwet, »Zur veränderten Rezeption von Wort und Bild«, in: ders., Leserattenfänge – Sehtextkommentare, Köln 1965, S. 14 f.

8 Rolf Dieter Brinkmann, Wörter Sex Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973, München 2005 (Transkription: H. S.).

9 Brinkmann, Wörter Sex Schnitt, CD 3, Track 4 (Transkription: H. S.).

10 Christiane Frohmann, »Instantanes Schreiben«, in: Orbanism, 29. Mai 2015, online: {https://orbanism.com/frohmann/2015/instantanes-schreiben-christiane-frohmann-literaturinstitut-leipzig-20150529/}.

11 Kenneth Goldsmith, »being dumb«, in: The Awl, 23. Juli 2013, online: {http://www.theawl.com/2013/07/being-dumb}.

12 Brinkmann, Wörter Sex Schnitt, CD 3, Track 4 (Transkription: H. S.).

13 Brinkmann, Wörter Sex Schnitt, CD 1, Track 1 (Transkription: H. S.).

14 »Some of this material I use and some I don’t. I have literally thousands of pages of notes here, raw, and I keep a diary as well.« William S. Burroughs, Brian Gysin, The Third Mind, New York 1978, S. 5 (Übersetzung: H. S.).

15 Ute Weber, 13.08.2018, {https://twitter.com/UteWeber/status/1028982252179529729}.

16 Stephen King, 18.04.2018, {https://twitter.com/stephenking/status/986643494499438592}.

17 Ferdinand Kriwet, »Live«, in: Farbe bekennen. Auseinandersetzung mit der Kunst der Gegenwart – Ferdinand Kriwet, WDR 1970, ausgestrahlt am 14.5.1971 (Transkription: H. S.).

18 Simon Aeberhard, »Fehllesen«, in: Rolf Parr, Alexander Honold (Hg.), Grundthemen der Literaturwissenschaft , Berlin 2018, S. 177.

19 Anahid Kassabian, »Ubiquitous Musics: Technology, Listening, and Subjectivity«, in: Andy Bennett, Steve Waksman (Hg.), The SAGE Handbook of Popular Music, London 2015, S. 549–562.

20 Kassabian, Ubiquitous Listening.

21 Ebd., S. 109, »There are very few kinds of music that are not listened to as ubiquitous music, and in fact listened to frequently in that way. From classical music in restaurants and cars to techno in clubs and on condo websites, very little music escapes this fate.« (Übersetzung: H. S.).

22 Ferdinand Kriwet, »Type Is Honey – Rundscheibe VI (1962)«, in: Emmett Willams (Hg.), An anthology of concrete poetry, New York/Villefranche/Frankfurt a. M. 1967, »Kriwet, Ferdinand«.

Ethik gegen Ästhetik – Ein philosophischer Kampf

von Philip Schwarz

 

In den vergangenen Jahren hatten das Feuilleton und kulturinteressierte Menschen nicht zum ersten und sicher nicht zum letzten Mal Gelegenheit, die Freiheit der Kunst gegen moralische Urteile und Ansprüche der sogenannten “Politische Korrektheit” zu verteidigen. Eine Liste dieser Kontroversen, die weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf chronologische Ordnung erhebt, würde die folgenden Fälle enthalten: Rassismus in Kinderbüchern, Mohammed-Karikaturen, das Gomringer-Gedicht Avenidas an der Wand einer Berliner Hochschule, #vorschauenzählen, Dekolonialisierung des Kanons, Nobelpreis für Peter Handke, Woody Allens Memoiren. Auch in Bereichen, die zwischen den Polen E und U eher der Unterhaltung zugeordnet werden, ist diese Debatte lebendig, beispielsweise, wenn es um den Kampf gegen Sexismus in Videospielen geht, die sich in Bezug auf Ästhetik und Charakterdesign auf stereotype Weise  vorwiegend an ein heterosexuelles Cis-männliches Publikum richten.

In all diesen Fällen gibt es nicht wenige Kommentator*innen, die sofort bereit sind, darzulegen, warum die betreffenden Kunstwerke nicht Gegenstand einer moralisch motivierten Kritik sein könnten. Die Fälle sind sicherlich unterschiedlich, aber die Kommentierung ist in einer Hinsicht strukturell ähnlich: Sie etabliert eine Dichotomie zwischen der Kunst und der Moral. Die im traditionellen Feuilleton sowie in den sozialen Netzwerken vorgebrachten Argumente suggerieren, dass „die Kunst“ von „der Moral“ zu trennen sei. Dieses Argument wird selten explizit artikuliert, aber eine aufmerksame Lektüre der entsprechenden Wortmeldungen zeigt, dass es überall vorausgesetzt wird. Die Zurückweisung moralischer Kritik an Kunst bezieht ihre vermeintliche Autorität und Legitimität zu einem großen Teil aus dieser Voraussetzung. Dies äußert sich beispielsweise in der wiederholt vorgebrachten Argumentationsfigur von der Autonomie der Kunst, die diese gegen moralische Kritik immunisiere. Wenn die Sphäre der Kunst in sich geschlossen und gegenüber moralischer Kritik immun ist, lässt sich die moralische Kritik als unsachlich und dem Thema nicht angemessen zurückweisen, ohne dass eine inhaltliche Auseinandersetzung nötig wäre. Tatsächlich aber ist die These von der Abgrenzbarkeit zwischen Kunst und Moral hinfällig, weil die Forderung nach der Moralfreiheit der Kunst ihrerseits eine moralische Forderung darstellt.

Was genau ist nun gemeint, wenn Moral und Kunst voneinander getrennt werden sollen?

Wie man sich diese Trennung vorstellen kann, lässt sich zunächst metaphorisch mit zwei Brettspielen, für die unterschiedliche Regeln gelten, verdeutlichen: Die Kunst nach moralischen Gesichtspunkten zu beurteilen wäre demnach ebenso sinnlos, wie die Schachregeln auf Mensch-ärgere-dich-nicht anwenden zu wollen und umgekehrt. Es spricht aber Einiges dafür, dass die Abgrenzung zwischen Kunst und Moral nicht so eindeutig ist, wie die zwischen den Spielregeln von Schach und Mensch-ärgere-dich-nicht. In beiden Bereichen haben wir es mit einer Form des Werturteils zu tun. Etwas kann moralisch wertvoll sein oder künstlerisch wertvoll oder auch beides gleichzeitig. Die Immunitätsthese geht davon aus, dass der künstlerische Wert den moralischen vollkommen verdrängt: Wenn etwas nur ausreichend künstlerischen Wert hat, wäre demnach die Frage nach dem moralischen Wert unerheblich.

Natürlich lassen sich Kunst und Moral unterscheiden. Bestimmte Dinge lassen sich moralisch beurteilen, aber es wäre sinnlos, nach ihrem künstlerischen Wert zu fragen. Umgekehrt ist etwa die Frage, welche Beethoven-Symphonie die schönste ist, eine nach dem ästhetischen Wert und nicht nach dem moralischen. Aber das bedeutet nicht, dass es sich bei Kunst und Moral um zwei autonome Felder handelt, deren jeweilige Gegenstandsbereiche sich wechselseitig ausschließen. Warum sollte der Umstand, dass etwas Kunst ist, es dem Bereich der moralischen Beurteilung entziehen? Moralische und künstlerische Urteile sind verschiedene Urteile, die sich auf verschiedene Kategorien beziehen. Daneben gibt es zahlreiche weitere Kategorien wie etwa die juristische, die soziologische, die ökonomische usw. Die Kategorien und Urteile betreffen aber immer denselben Gegenstand, auf den sie sich beziehen.

Ein Verlag, der ein Manuskript im Postfach hat, kann fragen, ob es künstlerisch interessant ist, er kann fragen, ob es moralisch richtig wäre, es zu veröffentlichen, er kann fragen, ob es sich lohnt, oder ob es erlaubt ist. Jede dieser Fragen bezieht sich auf eine andere Kategorie der Bewertung, und jedes Urteil über eine der Kategorien steht erst einmal für sich. Insofern stimmt es auf den ersten Blick, dass Moral und Kunst voneinander unabhängig sind. Ein künstlerisches Urteil bezieht sich auf eine andere Kategorie – beantwortet eine andere Frage – als ein moralisches. Diese Kategorien sind aber nicht isoliert voneinander. Urteile, die sich auf eine Kategorie beziehen, sind für Urteile in anderen Kategorien nicht bedeutungslos. Wenn der Verlag zum Beispiel entscheidet, dass es juristisch nicht zulässig ist, ein Manuskript zu veröffentlichen, kann das auch bedeuten, dass es sich ökonomisch nicht lohnen würde, weil die Veröffentlichung einen teuren Gerichtsstreit nach sich ziehen würde. Es gibt auch Fälle, in denen der moralische Wert durch den künstlerischen Wert begründet wird: Würden wir nicht beispielsweise sagen, dass es moralisch falsch ist, einer anderen Person die Auseinandersetzung mit einem Stück Kunst aufzuzwingen, das diese Person als langweilig, hässlich oder anderweitig wertlos empfindet?

Worum geht es in der Moral? Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, das zu schützen, was wichtig ist, und Menschen zu ermöglichen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen. (Wer möchte, kann diese Bedürfnisse „Werte“ nennen.) Mit jedem Bedürfnis, das eine Person hat, geht ein moralischer Anspruch an andere Personen einher, dieses Bedürfnis zu berücksichtigen.

Was das Bedürfnis auszuschlafen damit zu tun hat

Einer Person den Besuch eines Museums, Films, Konzerts oder was auch immer aufzunötigen, dem sie künstlerisch nichts abgewinnen kann, ist also deswegen moralisch falsch, weil diese Person davon abgehalten wird, stattdessen etwas zu tun, das ihr wichtig ist. Wenn ich versprochen habe, Sonntags früh um acht beim Umzug zu helfen, wäre es moralisch falsch, einfach im Bett liegen zu bleiben, weil viele andere Personen Pläne gemacht haben, die sie aufgeben müssen, wenn ich nicht da bin, um zu helfen. Sie werden also in einem gewissen Umfang daran gehindert, das zu tun, was sie sich wünschen und dadurch in ihren Ansprüchen an mich verletzt. Anders stellt sich die Frage aber dar, wenn ich auf dem Weg zur Verabredung einer Person begegne, die Erste Hilfe benötigt und ins Krankenhaus gebracht werden muss. Ihr Bedürfnis nach körperlicher Gesundheit ist im Zweifel wichtiger als das Anliegen meiner Freund*innen, eine verlässliche Hilfe beim Umzug zu haben. Daher könnte man hier argumentieren, dass es moralisch falsch wäre, mein Versprechen zu halten, anstatt dem Unfallopfer zu helfen. Eine Entscheidung zu treffen, bedeutet immer, verschiedene Bedürfnisse abzuwägen. Für jedes Bedürfnis gibt es Gründe, ihm den Vorzug zu geben. Sie abzuwägen bedeutet zu entscheiden, welche Bedürfnisse aus guten Gründen wichtiger sind als andere. Wenn ich entscheide, im Bett liegen zu bleiben, wäge ich nicht etwa moralische Verpflichtungen gegen mein davon unabhängiges egoistisches Verlangen nach Schlaf ab. Ich urteile, dass mein Bedürfnis und damit mein moralischer Anspruch ausschlafen zu können Vorrang hat gegenüber dem Anspruch auf Zuverlässigkeit, den die anderen an mich haben. Auch egoistische Entscheidungen sind in diesem Sinne moralische Entscheidungen.

Genauso verhält es sich mit der Forderung, dass die Kunst gegenüber moralischen Ansprüchen immun bleiben müsse. Die Frage „Ausschlafen oder Versprechen halten“ ist keine Frage von Egoismus gegen Moral, sondern eine Frage danach, wessen Bedürfnisse wichtiger sind, und die Frage „Freie Kunst oder Political Correctness“ ist keine Frage von Kunst gegen Moral, sondern ebenfalls eine Frage nach dem Vorrang bestimmter Bedürfnisse gegenüber anderen.

In beiden Fällen geht es um verschiedene Dinge, die Menschen wichtig sind und dabei zumindest bis zu einem gewissen Grad unvereinbar. In dem Moment, in dem darüber diskutiert wird, welche Personen ihre Bedürfnisse erfüllen dürfen und welche dafür auf die Erfüllung ihrer Bedürfnisse verzichten müssen, führen wir unvermeidlich eine moralische Diskussion. Dass Kunst langweilig oder ästhetisch uninteressant wird, wenn sie moralischer Beurteilung unterworfen ist, ist nur dann ein Problem, wenn der Genuss interessanter Kunst als wichtiges Bedürfnis verstanden wird. Das Argument ist dann ungefähr folgendes: unser Leben wäre ärmer, wenn wir keinen Zugang zu interessanter Kunst hätten, und es ist moralisch falsch, Bedingungen zu schaffen, in denen unser Leben ärmer ist. Deswegen wäre es moralisch falsch, Kunst moralisch zu beurteilen. Aber genau das geschieht, indem dieses Argument vorgebracht wird. Es setzt ja voraus, dass das Bedürfnis nach interessanter Kunst Vorrang hat vor den Bedürfnissen, die in der Forderung nach politisch korrekter Kunst Ausdruck finden.

Noch offensichtlicher wird es, wenn die Immunitätsthese durch den Verweis auf Anliegen verteidigt wird, die außerhalb der Kunst liegen. Je nach Zusammenhang werden hier verschiedene Anliegen herangezogen. So wird etwa argumentiert, dass die Kunst eine gesellschaftliche Funktion erfülle und so dazu beitrage, Bedürfnisse zu erfüllen.

“Aber die weitaus ernstere Folge ist die Bedrohung des Lebensraums, nicht nur der Kunst, sondern auch der freien Entfaltung der Bewohner dieses Raums. Diese hängt ganz wesentlich mit unserer Befähigung zusammen, in Möglichkeitsräumen, im Imaginierten und im Geträumten unterwegs sein zu können, die Normativität des Faktischen zu durchbrechen und die Vorstellungskraft als Korrektiv einzusetzen.”

Ganz ähnlich ist das Argument, dass Satire wenn schon nicht alles, dann doch sehr viel dürfen muss, um ihre Funktion, wichtige Diskussionen anzustoßen, wahren zu können.  Hier wird also das Anliegen, eine bestimmte Art der Diskussion zu ermöglichen gegen das Anliegen der “Politischen Korrektheit” abgewogen und für wichtiger befunden. Dies wurde vor allem deutlich, in der Diskussion um die Entfernung von Eugen Gomringers Gedicht Avenidas von der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule, in deren Verlauf die Übermalung zu einem „Generalangriff auf unsere Kultur und damit auf unsere Freiheit“ erklärt wurde. Gerade hier wird suggeriert, die Immunitätsthese habe mit Moral nichts zu tun. Auf der einen Seite die „Tugendterroristen“ mit ihren überzogenen moralischen Forderungen, auf der anderen Seite die Verteidiger (absichtlich nicht gegendert) der Freiheit. Wenn nun aber Freiheit kein moralisches Anliegen ist, weiß ich nicht, was überhaupt eines ist.

Auch die Forderung nach mehr Diversität und das Beharren darauf, dass nur Talent zählen solle, ist eine Variante dieses Konfliktes. Die Forderung, dass die Kunst von nicht-weißen, nicht-heterosexuellen oder allgemein von Künstler*innen marginalisierter Gruppen mehr Sichtbarkeit erhalten solle, wird oft dadurch zurückgewiesen, dass es doch nur um Qualität gehen solle. Auch dies ist ein moralisches Argument. Denn entweder heißt es auch hier wieder, dass die Kunst unabhängig bleiben müsse, um interessant sein zu können. Dann wird sie wieder als ein Bedürfnis behandelt, und es muss eine moralische Abwägung stattfinden. Oder aber der Gedanke ist, dass die Künstler*innen einen Anspruch darauf haben, für ihre Arbeit angemessen erfolgreich zu sein. Dann wäre das Argument, dass es unmoralisch sei, den künstlerischen Erfolg von anderen Kriterien abhängig zu machen als vom ästhetischen Wert des Werkes.

Die Sache mit den Kinderbüchern

Im Fall der Redaktion von Kinderbüchern wird mit Authentizitätsüberlegungen argumentiert:

„Einzelne Wörter in älteren Texten mögen aus heutiger Sicht problematisch scheinen, heißt es dann, aber das sei eben die Wortwahl der Autor/-innen, die dem Sprachgebrauch der damaligen Zeit entspreche. In das so entstandene sprachlich-literarische Gesamtkunstwerk dürfe man nicht eingreifen. Wenn Preußler einmal N~lein geschrieben habe, solle er auch fünfzig Jahre später dazu stehen, und erst recht dürfe ein Text nicht verändert werden, wenn die Autorin – wie im Fall von Astrid Lindgren – bereits verstorben sei.”

Je nachdem, wie diese Argumentation verstanden wird, wird hier der Anspruch der Leser*innen auf das unveränderte Buch oder der Anspruch der*des Verfassers*in auf die Bewahrung des ursprünglichen Werkes gegen den Anspruch auf diskriminierungsfreie Sprache verteidigt. Auch dies ist eine Abwägung verschiedener moralischer Ansprüche.

Damit geht es nicht mehr darum die Kunst als autonome Sphäre vor dem ungerechtfertigten Angriff durch externe Maßstäbe zu verteidigen, sondern es geht um die Vermittlung zwischen verschiedenen Anliegen. Die Kunst kann also gar nicht frei von moralischer Beurteilung sein, weil bereits die Forderung genau danach eine moralische Bewertung der Kunst voraussetzt. Die Argumentation besteht im Wesentlichen darin, den Kritiker*innen entgegenzuhalten, sie hätten keine Autorität in der Angelegenheit, und sie seien deswegen gar nicht erst anzuhören. Aber wenn die Forderung, die Kunst müsse der Moral entzogen sein, um interessant bleiben zu können, ihrerseits eine moralische Forderung ist, dann haben wir es hier nicht mit zwei abgetrennten Bereichen zu tun.

Kunst moralisch zu beurteilen ist dann ähnlich wie die Frage, ob es in Ordnung ist, zur Verabredung zu spät zu kommen, wenn das die einzige Möglichkeit ist, dem Unfallopfer zu helfen. In beiden Fällen haben wir es mit verschiedenen Bedürfnissen zu tun, zwischen denen auf irgendeine Weise vermittelt werden muss.

Was bedeutet dies nun für die Debatte?

Wenn wir verstanden haben, dass die Verteidigung der Kunst gegen die moralische Kritik ihrerseits ein moralisches Bedürfnis vertritt, stellt sich die Frage, um die es hier geht anders dar. Die Beschreibung der Situation durch die Vertreter*innen der Immunitätsthese ist schlicht falsch. Es ist nicht so, dass an den in sich geschlossenen Bereich der Kunst äußere Maßstäbe angelegt werden, die hier nicht sinnvoll anwendbar sind. Es ist vielmehr so, dass verschiedene moralische Anliegen abzuwägen sind. Das Anliegen an interessanter Kunst ist eines davon, und es ist unbestreitbar ein berechtigtes Anliegen. Die Welt wäre in der Tat ärmer, gäbe es keine interessante Kunst.

Auch die anderen Bedürfnisse sind ohne Zweifel berechtigt. Die Kunst hat eine gesellschaftliche Funktion, durch die bestimmte Bedürfnisse erfüllt werden. Diese müssen berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite stehen die Anliegen der Betroffenen: der Wunsch nicht mehr mit einer Sprache konfrontiert zu werden, die jahrhundertelang zur Rechtfertigung und Verharmlosung von Gewalt, Unterdrückung und systematischer Benachteiligung benutzt wurde. Der Anspruch, die eigene Geschichte zu erzählen und damit Gehör zu finden. Und – denn wir sollten uns keinen idealistischen Illusionen hingeben – das Anliegen, auf einem hart umkämpften Feld, in dem es nicht immer gerecht zugeht, wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Eine Entscheidung zu treffen und dabei Gründe abzuwägen bedeutet immer zu fragen, was wichtig ist und wie die Welt aussehen soll. Oft nur im Kleinen: Kaffee oder Tee? Aufstehen oder Liegenbleiben? Die Blaue Krawatte oder die Rote? Aber oft geht es um die großen Dinge: Freiheit oder Gerechtigkeit? Veränderung oder Status Quo? Immer wieder müssen wir aushandeln, welche Anliegen wichtiger sind, aus welchen Gründen sie das sind, und welche Gründe gute Gründe sind. Dies ist eine äußerst schwierige Aufgabe. Aber wir tun dies tagtäglich in Bezug auf alle möglichen Fragen und sind dabei erfolgreich. Warum sollte es in dieser Frage anders sein?

Und seitab liegt die Stadt: I. Herkunft

von Daniela Dröscher und Senthuran Varatharajah

 

Im Eröffnungsvortrag des Festivals »Und seitab liegt die Stadt: I. Herkunft«, der hier exklusiv vorab erscheint, fragen Daniela Dröscher und Senthuran Varatharajah nach der Bedeutung von Herkunft im gegenwärtigen Literaturbetrieb und laden die eingeladenen Autor*innen dazu ein, »die Rede zu wenden«, und das, was in ihr verdrängt, vergessen, verschwiegen, verleugnet, verneint wurde, zur Sprache zu bringen. Das Festival findet am 23. und 24. April 2020 auf der Seite www.lcb.de/seitab sowie über die Facebook- und Twitter-Accounts des Literarischen Colloquiums Berlin statt.

 

»Wo kommen Sie her?« Wir alle kommen irgendwo her – ob wir wollen oder nicht. Roger Willlemsen gab der Literaturkritikerin Insa Wilke einmal einen intimen Einblick in sein poetologisches Selbstverständnis und literarisches Selbstbewusstsein, als er auf diese Frage – mit lakonischer Eleganz, und vielleicht auch mit Trauer – antwortete: »aus der Sprachlosigkeit.«

Schriftsteller·innen wissen: dieser Satz ist wahr.

Wir wissen auch: dieser Satz ist nicht alleine wahr.

Der Begriff ›Herkunft‹ bestimmt – explizit und implizit – immer noch unseren politischen Diskurs. Es gibt genug Beispiele. Sie liegen auf der Hand. Auch im deutschsprachigen Diskurs über Literatur wird Herkunft als doppeltes Thema verhandelt: Entweder bezieht er sich auf eine geographische oder auf eine soziale Tatsache. Und dennoch: Obwohl literarische Texte, die von Migration, Flucht und vertikaler Mobilität erzählen, bei Independent- und großen Publikumsverlagen veröffentlicht werden, scheint ein Sprechen über den Begriff ›Herkunft‹ in dem, was man den ›deutschsprachigen Literaturbetrieb‹ nennt, kaum stattzufinden. Über ›Diversität‹, verstanden als ein demokratischer Anspruch und nicht als kapitalistische Demonstration, wird in Hinblick auf Literatur erst seit Kurzem gesprochen.

Der deutschsprachige Literaturbetrieb ähnelt darin einer gesamtdeutschen Situation: in ihm spiegelt sich eine größere Ordnung wider. Die ostdeutsch sozialisierte Autorin Sabine Rennefanz erlebte Westdeutschland nach der Wende als »ein Land, das so tat, als seien die Millionen Ausländer gar nicht da.« Deutschland erkannte erst erschreckend spät an, ein sogenanntes ›Einwanderungsland‹ zu sein: Noch im Jahr 1996 verwahrte sich der CDU-Innenminister Manfred Kanther dagegen, Deutschland so zu bezeichnen.

Das einzige Zugeständnis der Literatur an die ›Fremden‹ schien lange Zeit der Adelbert-von-Chamisso-Preis zu sein, eine Auszeichnung, die von 1986 bis 2017 an auf Deutsch schreibende Autor·innen ›nichtdeutscher Sprachherkunft‹ verliehen wurde. Mit den Jahren aber wurde diese Auszeichnung zurecht immer kontroverser diskutiert. Elisabeth Endes sprach einmal kritisch davon, dass man Schrifsteller·innen mit dem berühmtem ›Migrationshintergrund‹ zu »liebenswerten Exoten« stilisiere und sie überdies darauf reduziere, authentisch Auskunft zu geben aus der und über die ›Fremde‹. Schrifsteller·innen wie Emine Sevgi Özdamar, Libuše Moníková, Rafik Schami und Terézia Mora unterlagen dem Gebot der Authentizität, wonach Werk und Autor zur Deckung kommen müssten. Als etwa Saša Stanišić es im Jahr 2014 wagte, einen Roman über ein Dorf in der Uckermark zu schreiben, warf Maxim Biller ihm eine offenbar dazu noch als ›unmännlich‹ empfundene Anpassung an den Mainstream vor.

Seit der sogenannten Flüchtlingskrise im Sommer 2015 jedoch hatte sich das Sprechen über geographische Herkunft im Literaturbetrieb und im literarischen Diskurs verändert: Es werden seitdem zunehmend mehr Romane von Autor·innen veröffentlicht, die mit ihrer Familie nach Deutschland geflohen oder eingewandert sind, die in Deutschland nach der Flucht oder der Migration ihrer Eltern geboren wurden, und die über diese Erfahrungen – mittel oder unmittelbar – schreiben, ohne aber zu Repräsentant·innen ihrer jeweiligen Kultur reduziert zu werden. Vielmehr geraten die Texte unabhängig von ihrem Thema als Literatur in den Blick, sprich: in ihrer Form und ästhetischen Eigensinnigkeit

Zwei Ereignisse in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur und Literaturkritik veränderten wiederum das Sprechen über die soziale Bedeutung des Begriffs ›Herkunft‹: die von Florian Kessler 2014 angeregte sogenannte ›Arztsohn-Debatte‹ und die deutschsprachige Veröffentlichung von Didier Eribons Rückkehr nach Reims im Jahr 2016. Interessanterweise war es gerade ein französischer Autor, der hierzulande eine breite Debatte über soziale Herkunft und Klassenbewusstsein initiiert hat: Das Sprechen über Klasse brauchte also wiederum den Umweg über Frankreich, und alles Französische markiert hierzulande selbst einen ›feinen Unterschied‹, ist es doch konnotiert mit Noblessse, Chic und haute volée, selbst noch bei diesen Themen. Richard Kämmerlings attestierte Eribon auch sogleich einen »Adel von unten«.

Seit Eribon gibt es zumindest in Ansätzen ein Bewusstsein für die Relevanz der Kategorie ›class‹ sowie ihre Verflechtungen mit den Kategorien ›race‹ und ›gender‹. Selim Özdogan etwa konstatiert in seinem viel diskutierten Text Die Geschichte mit der Herkunft: »Literatur entsteht hauptsächlich in einer bildungsbürgerlichen Mitte und das wird weiterhin so bleiben.« In Anspielung an Michel Foucaults Vorschlag zu einem »Jahr ohne Namen« – also der Idee, ein Jahr lang ausschließlich Texte ohne Nennung des Autor·innennamens zu veröffentlichen – zitiert er Matthias Warkus, der vorschlägt: »Bin dafür, dass wir alle Leute mit reichen Eltern ein Jahr lang keine Romane veröffentlichen lassen und dann nochmal schauen, wie der Buchmarkt aussieht.«

Auch diese Aneignung, so augenzwinkernd sie gemeint ist, birgt bereits die Gefahr der neuerlichen Exotisierung und einer Verengung hin auf das authentisch schreibende ›Arbeiter·innensubjekt‹. Und wie, wenn überhaupt, würden diese Stimmen gehört werden? Hito Steyerl fragte in ihrem Vorwort zu Can the subaltern speak?: »Ist die Arbeiterklasse heute subaltern?« Und beantwortete die Frage mit: Ja, sie ist subaltern. Nein, sie kann nicht sprechen. Jeder Versuch, so ihre Argumentation, als sozial Deklassierte eine Stimme zu entwickeln, käme einer »Lippensynchronisation der ›Experten‹« gleich – insofern der Resonanzraum der Hochkultur ein in jeder Hinsicht weißer Raum ist.

Eine weitere entscheidende Kategorie, welche die Funktion ›Autor·in‹ massiv reguliert, ist die der geschlechtlichen Identität.  Während man anderswo Ikonen des Feminismus erkannte und anerkannte, reduzierte man in Deutschland Autorinnen zu ›Fräuleinwundern‹. Lange Zeit war der deutsche Literaturbetrieb nicht nur unhinterfragt weiß und bildungsbürgerlich, sondern auch unhinterfragt patriarchal und damit heterosexuell – als hätte Judith Butler ihren Gender Trouble nicht geschrieben. Antje Rávik Struwel, Yōko Tawada oder Gunther Geltinger sind in ihrer Thematisierung von LGBTQ-Lebenswelten Pionier·innen. Und wie ist es heute? Während an deutschsprachigen Hochschulen das Bewusstsein für Diversität und gendersensible Sprache unlängst Einzug erhalten hat und Margarete Stokowski im deutschen Feuilleton das Ende des Patriarchats ausrufen kann, scheint die Literaturkritik mit diesen Fragen bisweilen nicht nur zu fremdeln, sondern explizite Abwehrstrategien dagegen zu entwickeln.

Das erstaunt nicht weiter. Denn es ist genau diese Trias aus Sexismus, Rassismus und Klassismus, die sich zu einem unentwirrbaren »Herrschaftsknoten» zusammenzieht, so der Begriff von Frigga Haug. Ein wesentliches Anliegen unserer Konferenz ist deshalb zum einen eine intersektionale Perspektive. Wir verstehen ›Herkunft‹ als einen vielschichtigen und in sich verzweigten Begriff. Verkürzt gesagt: eine Herkunft haben wir alle – selbst bildungsbürgerlich sozialisierte, westdeutsche Schriftsteller·innen ohne ›Migrationshintergrund‹. Nur konnte man sich mit dieser einen spezifischen Herkunft eben lange Zeit als unsichtbare Norm inszenieren und wahlweise, wie Naika Foroutan zeigt, ostdeutsche oder migrantische Identitäten abwerten. Eine »Critical Westdeutschness« (Matthias Warkus & Peter Neumann) ist damit in jeder Hinsicht überfällig. Gerade mit Verweis auf die vielen Schriftsteller·innen – ostdeutsch wie westdeutsch –, deren Familien durch die Geschichte von Flucht und Vertreibung geprägt sind, plädiert auch Deniz Utlu für einen weiten Gebrauch des Begriffs ›Migration‹: »Einen migrantischen Hintergrund hat so ziemlich jeder Mensch in diesem Land (…), (nur) findet (sie) sich nicht krampfhaft thematisiert, widerspricht nicht dem ›Deutschsein‹. (…).«

Doch immer wieder ist es die Herkunft, die ganzen Bevölkerungsgruppen zum Vorwurf gereicht. Der rassistisch motivierte Terroranschlag von Hanau wurde sprachlich vorbereitet. Forderungen nach »neue[n] Grenzen des Sagbaren« gehören, wie Hasnain Kazim bemerkt, spätestens seit dem bundesweiten Wahlerfolg der AfD zum publizistischen Tagesgeschehen. Es war und ist schon immer eine Fähigkeit von Schriftsteller·innen gewesen, die Sprache, in der sie schreiben, in einer Art kritischen Intimität zu überprüfen – jenseits von Debatten um Political Correctness, Sprechverbot und Zensur.

Auch deshalb haben wir Schriftsteller·innen dazu eingeladen, sich dem Thema ›Herkunft‹ anhand von Redewendungen zu nähern. Also »die Rede zu wenden«, und das, was darin verdrängt, vergessen, verschwiegen, verleugnet, verneint wurde, zur Sprache zu bringen. Es sind durchaus gewaltvolle Idiome darunter – so gewaltvoll wie die sprachlichen Zurichtungen durch spezifisch deutsche Formen von Rassismus, Sexismus und Klassismus.

Die Texte unserer Gäste arbeiten mit ethischen Reflexionen, ohne je ihren ästhetischen Anspruch eines poetischen Schwebens aufzugeben. Die Frage, die sie an uns und sich selbst stellen, ist nicht: »Was und worüber darf ich schreiben?«, sondern: Wie und worüber möchte ich schreiben – um aus der Sprachlosigkeit, aus der wir alle kommen, zur Sprache kommen zu können?

Beitragsbild von Ivan Bandura

Verhaltenslehren des Schmerzes. Valerie Fritschs “Herzklappen von Johnson & Johnson”

Schon früh erfährt die Hauptfigur in Valerie Fritschs neuem Roman, auf wie unterschiedliche Arten sich Menschen aus einer Welt zurückziehen, die nur Leid für sie bereithält. Almas Haus kommt der Heranwachsenden „beängstigend kulissenhaft“ vor, „brüchig zusammengezimmert“ von ihren Eltern, „wackelig und unstimmig in den Einzelheiten, als wären sie nur geborgt“. Vater und Mutter fügen sich ein in eine familiäre Entourage, bei der jedes Mitglied auf seine Weise verlernt hat, glücklich zu sein. Den Großvater lernt Alma als eingesunkenes Gespenst kennen, das aus sowjetischer Gefangenschaft zurückgekehrt war, ohne sich zurechtzufinden im sogenannten Wirtschaftswunder. Und zur Großmutter findet Alma erst als junge Erwachsene Zugang; in langen Gesprächen erzählt die Ältere der Jüngeren von einem Damals voller Kuriosa, bei dem nichts sprechender ist als das Schweigen über den gefallenen Bruder.

Es gibt auf den gut 170 Seiten zu diesen und anderen Sujets keine Einzelszenen im klassischen Sinne. Gespräche werden nicht wiedergegeben, sondern referiert. So legt sich der lange Hauch einer Erzählerstimme über den Stoff, der insgesamt vier Generationen umspannt. Der dritte Roman der österreichischen Schriftstellerin becirct auch deswegen so sehr, weil er bei alledem die Distanz zu wahren weiß. Tatsächlich legt Fritsch mit „Herzklappen von Johnson & Johnson“ eine Theorie poetischer Nahdistanz vor. Immer wieder tarieren ihre Figuren aus, wie viel Abstand sie zu sich selbst, den eigenen Erinnerungen oder anderen Menschen benötigen. Als die erwachsene Alma und der Photograph Friedrich ein Paar werden, zeigt sich, dass die Distanznahme Teil ihrer innigen Beziehung ist: „Die Nähe war ihnen auch nach Jahren keine Gewohnheit, sie kam und ging, sie gaben sich ihr hin, wenn sie sich einstellte, zwangen sie nicht herbei und ließen auch ihr Ausbleiben zu, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben“.

Ein Faible für das große Ganze

Insgesamt beleuchtet Fritschs Roman die mal schöne, mal schmerzhafte Erscheinung der Dinge und setzt sich der stupenden Wirkkraft der Wirklichkeit aus. Um den Effekt existenzieller Gestimmtheit zu vermitteln, verlässt sich Fritsch wie im vorherigen Roman „Winters Garten“ auf einen höchst evokativen Stil. Das Weltpathos spannt die Fibern dieser Prosa energetisch auf, jedes Komma möchte auratisch sein, jeder Satz will teilnehmen am großen Ganzen, an der Abgeschiedenheit des großelterlichen Hauses, an der kannibalistischen Kälte Stalingrads und an der Wochenbettdepression, in die Alma nach der Geburt ihres Sohnes Emil fällt. Dessen Biographie wird durch einen Gendefekt geprägt sein, der jegliches körperliches Schmerzempfinden unterbindet.

Für einen solchen Text gibt es nichts Schlimmeres als den Vorwurf des Lauen. Alle Rhetorik arbeitet denn auch daran, die erfahrene Wucht gelebten Lebens zu vermitteln. Das ist als Lektüreerfahrung ungemein reizvoll, zugleich erbarmungslos intensiv, weil es schlichtweg keine Leerstellen vorsieht. „Herzklappen von Johnson & Johnson“ gesteht sich keinen Moment der Entspannung zu. Und der Leser muss recht schnell einen Kompromiss schließen: die eigene Fabulierlust hintanstellen, um sich einer Imagination zu überantworten, die alles mit ihrem sinntönenden Manierismus durchdringt.

Charakterisiert werden die Familienmitglieder, indem sie in Atmosphären verpackt werden, in perfekt ausgeleuchtete Stimmungstableaus. Der Gram des Großvaters offenbart sich nicht in einem artig evidenten Dialog, in dem die blinden Flecken nachkriegsdeutscher Aufbau- und Verschwiegenheitskunst ausgestellt würden, sondern im Bild eines nackten Greises, der nachmittags in Badewannen steigt, um sein Fleisch zu wärmen, das „sich an die Winterjahre zu erinnern schien, selbst wenn er sie vergessen hatte“.

Der Text hat sich zwar Themen wie vererbte Traumata, Mutterschaft und Altersdepressionen verschrieben und sich dadurch historische, psychologische und soziale Parameter gegeben. Aber an deren Erkundung hegt er gar kein so großes Interesse. Hier will sich vielmehr eine opulente Sprache ins Werk setzen, die erst in einem zweiten Schritt nach den Sujets für ihr Sprechen sucht. Dazu passt, dass der Suizid der Großmutter vor allem deswegen in Erinnerung bleibt, weil die nächste Seite mit einem ungeheuer guten Bild aufwartet: Das Haus hat die Lebensmüde mit Post-Its zugeklebt, auf denen jeweils der Name derjenigen Person steht, die den Gegenstand erben soll – das tottraurige Testament als neongelber Blätterwald, durch den auch noch ein Luftzug gehen muss.

„Fasziniert vom großen Exzess“

Zum Ende dehnt sich der Horizont. Die Steppe, die „keine Formen kennt außer jener der Leere und jener der Weite“, wirft sich schier endlos auf, während der Zoom auf die einzelnen Figuren wieder zurückgefahren wird. Die Reise in den Osten ist doppelt motiviert: Friedrich soll für eine Zeitschrift verfallene Landstriche fotografieren. Nach dem Tod der Großeltern möchte Alma wiederum die Ruinen jenes Internierungslagers aufsuchen, das die großväterliche Biographie einst entzweigebrochen hatte.

Die Route führt durch Osteuropa hinein in die kasachische Steppe. Auch in diesen Passagen bleibt sich der Roman treu: Die politische Realität der durchkreuzten Länder kann ihm nicht wirklich in den Blick geraten – dafür sucht er zu sehr nach der sphärischen Resonanz, die ein Detail erklingen lassen könnte. In den Augen eines Roma-Kindes kann die Erzählerin nur ein magischeres, kein schlechteres Leben erblicken.

In dieser Hinsicht ist „Herzklappen von Johnson & Johnson“ einem Ästhetizismus verpflichtet, der sich sowohl bejubeln als auch bekritteln lässt: Einerseits wird das 20. Jahrhundert rhythmisiert, das doch auf grässliche Weise aus dem Takt geraten ist. Andererseits wird jedes Quäntchen Wirklichkeit einer Schönheitskur unterzogen, um schließlich in höherer Form als Metaphern- oder Syntaxkunstgebilde auf ebendiese Wirklichkeit zurückzuverweisen: „Die ganze Steppe war ein Knochenbaukasten, aus dem man sich magere Geister zusammenzimmern konnte, dürre, harte Geschöpfe mit den merkwürdigsten Formen, weißleuchtend, ein gespenstisches Wundervolk, wie gemacht für die leere Landschaft.“ Und wie gemacht für diese Literatur des Grandiosen.

Für den jungen Emil gerät die Reise zum Initiationsmoment. Zu Beginn war seine Mutter beschrieben worden, wie sie als Mädchen in Wahrnehmungsekstasen geriet, „fasziniert vom großen Exzess, der nackten, nervösen Existenz“. Nun ist er, der Schmerznaivling, der stets neu lernen muss, wie nah er die Wirklichkeit an sich heranlassen darf, an der Reihe, zwischen ihren vielgestaltigen Erscheinungen groß zu werden. Und er wird sich wie dieser Roman der Aufgabe stellen müssen, im richtigen Augenblick auf Abstand vor ihrer Wucht zu gehen.

Immer im Lockdown – Warum Shirley Jackson die Autorin der Stunde ist

 von Till Raether

 

Als vor einigen Wochen das Literarische Quartett zum ersten Mal unter der Leitung von Thea Dorn ausgestrahlt wurde, empfahl sie den Roman Die Pest von Albert Camus als, uff, „Antihysterikum“ und passende Lektüre für die Corona-Ära. Das war nicht nur sehr naheliegend, sondern auch etwas seltsam. Camus benutzt in seinem Buch den Ausbruch einer Seuche als Metapher für die Absurdität des menschlichen Zusammenlebens, insbesondere unter dem Faschismus. Warum also den Menschen ein Buch empfehlen, in dem das, was derzeit das reale Erleben aller ist, nur metaphorisch auftaucht, um etwas ganz anderes zu erzählen? Eigentlich müsste man doch jetzt Bücher lesen, die nicht die Seuche als Metapher verwenden, sondern die unabhängig von der Krankheitsmetapher über Isolation, Rückzug und Möglichkeiten von Trost sprechen. Die US-amerikanische Kurzgeschichten-, Gruselroman- und Frauenzeitschriften-Autorin Shirley Jackson ist deshalb eher die Schriftstellerin der Stunde. Mit der Einschränkung, dass Trost in ihrem Werk Mangelware ist, versteckt an überraschenden Orten, aber darum umso kostbarer.

„Virginia Werewoolf“ hat ein früher Kritiker Jackson wegen ihrer anspruchsvollen Grusel-Romane genannt, in den Fünfzigern für viele ein Widerspruch in sich. Jacksons wichtigste Romane handeln davon, wie Menschen sich in einer feindlichen Umgebung hinter verschlossene Türen zurückziehen und dort versuchen, nach ihren eigenen Regeln zu leben. Wobei sie nicht merken oder es ihnen egal ist, dass sie in einer eigenen Gedankenwelt leben, die mit einer geteilten Realität nichts mehr zu tun hat, und die von außen vielleicht wie Wahnsinn aussieht.

In Der Spuk in Hill House zieht sich eine sozial isolierte Frau mit drei anderen Personen in ein düsteres Herrenhaus zurück, um unter Anleitung eines windigen Professors als parapsychologisches Versuchskaninchen zu wirken. Sie verspricht sich davon paradoxerweise eine Art Anschluss ans Leben und die Gemeinschaft anderer. Jackson stellt sie vor mit der bemerkenswert brutalen Satzreihung: „Eleanor Vance war 32 Jahre alt, als sie nach Hill House kam. Die einzige Person auf der Welt, die sie wahrlich hasste, war nun, seit dem Tod ihrer Mutter, ihre Schwester. Sie verabscheute auch ihren Schwager und ihre fünfjährige Nichte und hatte keine Freunde.“

Ähnlich desolat ist die Ausgangslage der Figuren in The Sundial, Jacksons Parodie einer Gesellschaftskomödie oder drawing room comedy, in der sich eine zusammengewürfelte Gruppe von Oberschicht-Angehörigen und solchen, die es gern wären, in ein Herrenhaus zurückziehen, um den Weltuntergang zu erwarten, komplett mit Nudel- und Toilettenpapiervorräten. Gleich auf der ersten Seite sinnieren ein Schulkind und seine Mutter darüber, dass die Großmutter, Herrin des Hauses, ja wohl den gerade zu Grabe getragenen Vater und Ehemann die Treppe hinuntergestoßen und getötet habe, was schon wenige Absätze später von der gleichen Großmutter kaum bestritten wird. Und in Wir haben schon immer im Schloss gelebt haben sich zwei Schwestern nach dem Tod ihrer gesamten Familie in ihr, ja, Herrenhaus zurückgezogen, um sich freiwillig von der Außenwelt abzuschotten, was diese Außenwelt aber nicht zulassen kann. Die Art, wie die jüngere Schwester Merricat einmal in der Woche ins Dorf huscht, um möglichst schnell und mit möglichst wenig Kontakt einzukaufen, gleicht gerade unheimlich dem aktuellen Einkaufsverhalten der ganzen Welt.

Kontaktsperre mit der Realität

„Kein lebender Organismus wird lange gedeihen“, beginnt Jackson Spuk in Hill House, „wenn er sich immer nur in der reinen Wirklichkeit aufhalten muss. Sogar Lerchen und Heuschrecken wird von manchen nachgesagt, dass sie träumen.“ Diese in parodistisch professoralem Ton vorgetragene Weisheit ist so etwas wie die Vertragsvorlage von Jackson an ihre Leser*innen: Kommt rein, aber erwartet hier keinen Realismus, sondern träumt wie die Lerchen und die Heuschrecken. Diese Erlaubnis und diese Einsicht in die Notwendigkeit, sich auf die Dauer nicht nur in der so genannten Wirklichkeit aufhalten zu können, macht Jackson zur womöglich idealen Begleiterin in Lockdown-Tagen, während derer man hin und wieder eine Kontaktsperre mit der Realität braucht. Ein solche situative Leseempfehlung bedeutet aber natürlich auch, Shirley Jackson auf die Brauchbarkeit für eine Gegenwart und auf ein paar wenige Aspekte ihres Werkes zu reduzieren. In Wahrheit ist sie immer die richtige Autorin, für jede Gegenwart, mit oder oder Corona. Das liegt daran, dass in Jacksons Texten immer Lockdown ist, für sie ist social distancing die einzige Verhaltensweise, um in einem feindlichen Universum zu überleben und zu navigieren. Das Bedürfnis nach Selbst-Isolation ist die Default-Einstellung ihrer Figuren.

Shirley Jackson (1916 bis 1965) stammte aus einer wohlhabenden kalifornischen Familie, wurde ihr Leben lang von ihrer lieblosen Mutter geplagt, führte eine unglückliche Ehe und starb jung, als sie gerade angefangen hatte, ihren ersten heiteren und optimistischen Roman zu schreiben. Ihre Biografie muss wegen dieser psychologischen Eckdaten immer wieder als Interpretationsrahmen ihrer Texte herhalten, sicher auch angeregt dadurch, dass Jackson den Großteil des Familieneinkommens damit verdiente, für Frauenzeitschriften sarkastische Texte über ihr Alltagsleben mit vier Kindern und einem eher unnützen Mann zu schreiben, dem damals ebenso bedeutenden wie heute vergessenen Literaturwissenschaftler Stanley Edgar Hyman. Sie ließ selbst keine Gelegenheit aus, ihre Biografie entlang der Motive ihrer Prosa zu mythologisieren, etwa, wenn sie über den Ursprung ihrer Familie schreibt und man unwillkürlich an die verfallenden Herrenhäuser ihrer Romane denkt: „Mein Großvater war ein Architekt, und sein Vater, und dessen Vater. Einer von ihnen baute Häuser ausschließlich für Millionäre in Kalifornien, und daher kam das Vermögen der Familie. Einer von ihnen war überzeugt, man könnte Häuser auf den Sanddünen von San Francisco errichten, und dorthin verschwand das Vermögen der Familie.“ Auch die Legende, sie habe wie manche ihrer Protagonistinnen Hexerei praktiziert, beruht auf der von ihr sorgsam verbreiteten Selbststilisierung.

Steinigung vorm Mittagessen

Zwischen dem Ende der 1940er und dem Anfang der 1960er Jahre schrieb Jackson eine Reihe recht erfolgreicher psychologischer Schauerromane und eine große Zahl Kurzgeschichten. Eine davon, The Lottery, veröffentlicht im Sommer 1948, ist vermutlich die Kurzgeschichte der US-Geschichte, die am meisten Aufsehen erregte, jedenfalls hat der New Yorker bis zu Cat Person von Kristen Roupenian nie mehr Reaktionen auf einen fiktionalen Text bekommen. The Lottery beschreibt ein bräsig-betulich abgewickeltes Steinigungs-Ritual in einem Dorf in Neu-England , von der umständlichen Auslosung bis zur Tötung der ausgelosten Dorfbewohnerin. Der Erzählton verstörte hunderte Lerserbriefschreiber*innen, weil er die finale Grausamkeit des Steinigungsrituals vorbereitet als Schilderung einer amerikanischen Kleinstadt-Idylls im Stile von Thornton Wilder oder Louisa May Alcott. Die Auslosung auf dem Dorfplatz, deren Sinn einem beim Lesen erst am Ende der Geschichte klar wird, soll „weniger als zwei Stunden dauern, damit sie um zehn Uhr morgens beginnen und so zeitig vorüber sein konnte, dass die Dorfbewohnern noch Gelegenheit hatten, rechtzeitig zum Mittagessen wieder zu Hause zu sein … Die Lotterie wurde – wie die Square-Dances, der Teenager-Club und die Halloween-Feier – von Mr. Summers betreut, der die Zeit und die Nerven hatte, sich bürgerlichem Engagement zu widmen. Er war ein rundgesichtiger, jovialer Mann, der örtliche Kohlenhändler, der den Menschen leid tat, weil er keine Kinder hatte und seine Frau eine Nörglerin war.“

Es ist dieser so vertraute unterhaltungsliterarische Realismus, der die Geschichte zu einem elementar erschütternden Text macht: Was wir bestenfalls für eine Idylle und schlimmstenfalls für öden Alltag halten, ist eine Illusion, die durch ritualisierte Gewalt ermöglicht wird, und der einzige Verfremdungseffekt, den Jackson hier und anderswo einsetzt, ist, dass sie diese Gewalt hinter den Kulissen hervorzieht und bei strahlendem Sonnenlicht auf dem Dorfplatz zur Schau stellt.

Seit ihrem 100. Geburtstag 2016 erlebt Jackson eine gewisse Renaissance: Netflix hat Der Spuk von Hill House als beliebte Mini-Serie verfilmen lassen, es gibt eine von Michael Douglas produzierte Hollywood-Adaption von Wir haben schon immer im Schloss gelebt, Jacksons Hauptwerk, und beide Romane liegen seit 2019 in neuen Übersetzungen im Leipziger Festa Verlag vor. Shirley, ein leider sehr schematischer und flacher Schauerroman über Jacksons häusliches Leben und ihre hexerischen Neigungen, von Susan Scarf Merrell, ist gerade mit Elisabeth Moss in der Rolle von Jackson verfilmt worden. Eine viel besprochene Biographie von Ruth Franklin, A Rather Haunted Life (2016), unternimmt den aufwendigen Versuch, Jacksons Leben und ihr Werk im Kontext der ersten Welle des US-Feminismus zu kanonisieren. Jacksons Romane, so Franklin mit dubioser Bestimmtheit, würden  „ganz genau“ davon handeln, was Betty Friedan in The Feminine Mystique die „schizophrene Spaltung“ der amerikanischen Frau zwischen der weiblichen Rolle der Hausfrau und der eher männlichen Karriere-Option nannte: also von Frauen, die buchstäblich verrückt werden, weil sie im Patriarchat nicht damit zurechtkommen, die ihnen zugewiesenen und einander widersprechenden Rollen zu erfüllen.

Das Ende des Storytellings

Tatsächlich lassen sich zwei Romane Jacksons als Geschichten pathologisch gespaltener Persönlichkeiten lesen, Hangsaman (Der Gehängte) und The Bird’s Nest. Und auch ihre Isolations-Romane Spuk in Hill House und Wir haben immer im Schloss gelebt lassen sich als Abstieg in eine Art Wahnsinn oder ein sich damit Arrangieren lesen. Wie immer aber macht es wenig Sinn und wenig Freude, Texte über Menschen und insbesondere Frauen, die sich außerhalb der Norm bewegen, und die außerhalb der Norm denken und empfinden, als Metaphern für mental health issues zu lesen. Oder, fast noch reduzierender: Krankheit als Metapher für gesellschaftliche Strukturen und ihre Auswirkungen zu vermuten in Texten, in denen die Menschen einander oder sich selbst für verrückt erklären. Krankheit als Metapher hat Jackson nie interessiert; wenn überhaupt, dann Metapher als Krankheit, die einen scheinbar genrekonformen Text befällt und am Ende sozusagen dahinrafft.

Der Zürcher Diogenes-Verlag hat eine Weile versucht, Jackson im deutschsprachigen Raum als gehobene Unterhaltungsautorin durchzusetzen, aber sie hat nie auch nur entfernt einen Status erlangt wie andere, mit ihr thematisch und stilistisch vergleichbare Diogenes-Hausautorinnen, Muriel Spark und Patricia Highsmith. Obwohl ihre Texte nach einem ähnlich eigenwilligen Prinzip funktionieren wie die von Spark und Highsmith: relativ statische Figuren, die sich durch eine quasi linksgedrehte Genre-Simulation hangeln, ohne Erlösung, Strafe oder auch nur Entwicklung zu erfahren. Offenbar funktionierte dies bei Spark und Highsmith, Jacksons Schwestern im Geiste und im Stil, bei deutschsprachigen Leser*innen besser, weil Spark und Highsmith an in Europa vertraute Traditionen anknüpfen (oder sie auf den Kopf stellen). Spark an die der britischen Schul-, Universitäts- oder Adels-Komödie, Highsmith an das klassische Whodunit, aus dem sie einfach aber genial ein Hedunitsowhat machte.

Jackson hingegen kommt aus einer singulär US-amerikanischen Tradition. Ihre Vorfahren sind die Autor*innen der amerikanischen Gothik. Einerseits der (hierzulande ebenfalls eine zeitlang von Diogenes gepushte) Charles Brockden Brown, der so genannte erste Romancier der USA, der im späten 18. Jahrhundert an den Grenzen der damals als solche empfundenen Zivilisation Protagonist*innen in unheimlichen Herrenhäusern an die Grenze der Realität führte und dazu brachte, an ihren Sinnen zu zweifeln – oft als metaphorische Auseinandersetzung mit der unbegreiflichen Frontier-Erfahrung. Und natürlich Edgar Allan Poe, dessen Werk immer von der unheimlichen Konfrontation mit dem Innenleben angstgeplagter Protagonisten in engen Räumen erzählt. Herrenhäuser, auch hier, bei Poe etwa das metonymische House of Usher, Gebäude und Familie zugleich.

Die andere Herkunftslinie Shirley Jacksons führt zu Emily Dickinson, die hölderlinähnlich 18 Jahre ihr Zimmer und ihr weißes Gewand nicht verließ und dabei hinter verschlossener Tür in 1800 Gedichten eine lyrische Freiheit und Unbegrenztheit in den starren Konventionen des 19. Jahrhunderts suchte. Zwar wird der Rückzug von Jacksons Figuren aus feindlichen Umständen in die Isolation (etwa von ihrer Biographin Ruth Franklin) mitunter als Beschreibung Jacksons eigener Unfähigkeit gesehen, ihrer unglücklichen Ehe nicht entfliehen zu können. Tatsächlich aber finden Jacksons Figuren wie Dickinson in der häuslichen Abgeschiedenheit eine Freiheit, die es für sie in der Außenwelt nicht gibt.

Zwar gibt es diese Traditionen in verwandter Form auch in deutscher Sprache (das räumlich Klaustrophobische verwoben mit dem poetisch Entgrenzten, bei Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann, Marieluise Kaschnitz, Christine Nöstlinger?) – aber Jackson hat eine Eigenart, die sie auf Anhieb etwas schwerer zugänglich macht. Jackson verweigert sich komplett dem Erfolgsmodell jeden aktuellen Storytellings: Sie interessiert sich nicht für die psychologische Entwicklung ihrer geradezu archaischen, typenhaften Figuren.

Dieses statische Form der Charakterisierung signalisiert Jackson gleich zu Beginn von Wir haben schon immer im Schloss gelebt, wenn sie schreibt: „Ich heiße Mary Katherine Blackwood. Ich bin 18 Jahre alt und lebe mit meiner Schwester Constance zusammen. Ich habe oft gedacht, dass ich mit ein wenig Glück als Werwolf hätte auf die Welt kommen können, denn meine Mittel- und Ringfinger sind an beiden Händen gleich lang, aber ich muss mich damit zufriedengeben, was ich nun einmal bin. Ich wasche mich nur ungern, ich mag weder Hunde noch Lärm. Ich mag meine Schwester Constance, Richard Plantagenet und Amita phalloides, den Grünen Knollenblätterpilz. Alle anderen in meiner Familie sind tot.“

Das Buch könnte, nach kurzen 224 Seiten, auch mit diesen Worten wieder aufhören. Nichts bei Jackson folgt der erfolgversprechenden Richtlinie, dass Figuren sich über die Laufzeit eines literarisch anspruchsvollen Unterhaltungsromans entwickeln müssen. Zwei oder drei einschlägige Fragen liegen heute der Figurenentwicklung und damit der Plotstruktur fast jeden US-amerikanischen Erfolgsromans zugrunde: Was wollen die Figuren und was brauchen sie (und das ist nie dasselbe), und was lernen sie? Nämlich, tja: dass sie am Ende etwas anderes brauchen, als sie anfangs wollten. Eine grausame Folie der figurengetriebenen narrativen Dynamik, die auf die Dauer in ihrer Gleichförmigkeit selbst klaustrophobisch wird, und durch deren Verweigerung Jackson ihren Figuren und ihren Leser*innen neue Freiräume verschafft.

Freiheit durch Stillstand

Zum Beispiel Mary Katherine Blackwood, genannt Merricat, in Wir haben schon immer im Schloss gelebt. Sie will mit ihrer Schwester nach dem Tod ihrer Familie unbehelligt in ihrem herrschaftlichen Elternhaus leben, und genau das braucht sie auch. Ähnlich geht es allen Protagonist*innen in den drei Isolations-Romanen von Shirley Jackson: Keine hat am Ende der jeweiligen Erzählung über sich und die Welt etwas gelernt, was sie nicht schon vorher wusste. Wir haben schon immer im Schloss gelebt  ist dabei eine mitreißende Geschichte darüber, wie das Alltagsleben der verwaisten Schwestern Merricat und Constance von außen bedroht wird: durch ein paar, die ihnen Gutes tun wollen, durch andere, die sich an ihnen bereichern wollen, und durch jene, die sie im Kontrast zu ihrer dörflichen Gemeinschaft als „das Andere“ definieren und ablehnen, weil der begründete Verdacht besteht, Constance oder Merricat hätten ihre gesamte Familie getötet. 

Zwar nutzt Jackson die Bedrohung von außen, um den Plot voranzutreiben, und die brutalen Angriffe auf das „Schloss“ der Schwestern beschreibt Jackson mit düsterem Gusto – ihr eigentliches Interesse aber gilt offenbar der Nähe und Zärtlichkeit zwischen den Schwestern. In Merricat, der ungewaschenen Ich-Erzählerin, und Constance, der gepflegten älteren Schwester, macht Jackson zwei Archetypen des Weiblichen zu ihren Heldinnen. Die eine, Merricat, ist die Hexe, die den Bannkreis ihres Anwesens mit zauberischen Ritualen und Totems beschützt; die andere, Constance, ist die Hausmutter, die kocht, bäckt, einweckt und putzt. 

Jacksons rebelliert gegen das Diktat der Figurenentwicklung, indem sie diese beiden Spielarten des fiktionalen Weiblichen nicht als defizitär beschreibt, sie aber auch nicht als heroisiert. Stattdessen erlaubt sie sich, beide Archetypen zu unveränderlichen Charaktermerkmalen ihrer Heldinnen zu machen, an denen alle patriarchalischen Angriffe von außen abprallen. Und zwar gerade dadurch, dass beide Frauen ihre Rollen nicht als Mangel empfinden. Constance wehrt sich lächelnd gegen alle Aufforderungen, doch wieder das Haus zu verlassen und unter Leute zu gehen, und kocht lieber weiter Marmelade; Merricat lässt alle Vorwürfe, sie sei ungezogen und dreckig, mit finsterer Miene über sich ergehen und vergräbt danach Rachetotems im Wald. 

Tatsächlich ist dies gerade vor dem Hintergrund eines gewissen Selbstverbesserungs-Sounds, der die Corona-Krise begleitet, eine erleichternde Lese-Erfahrung. Man muss die Krise nicht als Chance und die Isolation nicht nur als Aufforderung zum persönlichen Wachstum begreifen und sich damit am Ende womöglich selbst enttäuschen; man kann sich auch einfach damit abfinden, dass man an und in der Krise nicht wachsen, sondern mehr oder weniger so bleiben wird, wie man vorher schon war.

Während in Wir haben schon immer im Schloss gelebt ein gewisser Trost gerade durch die Sturheit und Stagnation der Figuren entsteht, findet man Trost in The Sundial und Der Spuk von Hill House nur noch in den Begleitumständen des menschlichen Zusammenlebens: in der Qualität geteilter Mahlzeiten, in zufällig im Gespräch entstehender, aber flüchtiger Nähe, durch die Fähigkeit, sich selbst von außen und mit einem gewissen Humor zu betrachten. Die Figuren in The Sundial etwa finden darin Trost, dass sie eine in ihrem Empfinden große Unwägbarkeit (die Fährnisse des alltäglichen, aber in seiner Banalität zerstörerischen Lebens) durch eine etwas kleinere ersetzen (die Apokalypse des heraufziehenden Weltuntergangs bzw. die Apokalypse seines Ausbleibens).

Jacksons Protagonistinnen finden also, und sei es noch so flüchtig, Freiheit und Trost in bedrohlichen, ausladenden Häusern, die von Patriarchen für ihre Familien gebaut wurden, oft gegen deren Willen: die Gebäude sind zu kompliziert, zu reich, zu groß, zu abgeschieden. Gerade in diesem Widerspruch aber werden Jacksons Romane lebendig. Ihr Unterhaltungswert entsteht durch den gleichförmigen, absurden, vergeblichen Kampf der Protagonist*innen, das Leben ohne großen Willen zur Verbesserung auf bestmögliche Weise durchzustehen. Die Autorin hat damit, in ihrer Schaffenszeit, eine gewisse Nähe vielleicht zu Albert Camus’ Sysiphos und Samuel Becketts im Kreis laufenden Helden, und sie nimmt eine Gegenposition ein etwa zum psychologischen Fotorealismus ihres Zeitgenossen John Updike und zum scheinbar organischen, ungezwungenen Schreiben und Erzählen der Beat-Poeten. Sie reduziert und stilisiert psychologische Impulse, statt sie zu beschreiben, zu erforschen oder zu überhöhen.

Natürlich fehlt dadurch auch immer etwas in ihren Büchern. Zum einen die gängige Palette von Deutungsmöglichkeiten, die der literarische Unterhaltungsroman und die Genre-Literatur ihren Leser*innen normalerweise anbieten: Du kannst dies hier wegen des Plots und der Figuren lesen, aber auch als Kommentar über die Gesellschaft (Krimi) oder die menschliche Verfasstheit an sich (Horror). Zum anderen die Identifikationsangebote, die viele Leser*innen in Romanen suchen, die durch Genre- oder Vermarktungskonventionen eine gewisse Zugänglichkeit signalisieren. 

Durch diesen Mangel aber entstehen in Jacksons klaustrophobischen Welten Freiräume. Niemand weiß in ihrem Roman The Sundial, warum die kostbare, aber unansehnliche Sonnenuhr, die mitten auf dem Rasen des Anwesens steht, ein vom Steinmetz willkürlich ausgesuchtes Chaucer-Fragment trägt: „WHAT IS THIS WORLD?“ Es ist eine Frage, die sich nicht beantworten lässt, erst recht nicht, wenn man, wie die Protagonist*innen, das Ende eben jener Welt erwartet. Alles fängt an und endet mit Ratlosigkeit. Bei Jackson aber ist diese Ratlosigkeit nicht bedrohlich, sondern entlastend, sie ist das positive Gegenbild dazu, was sonst den Protagonist*innen blüht: „Ich möchte doch nur wertgeschätzt werden“, denkt Eleanor Vance in Der Spuk von Hill House, „aber stattdessen sitze ich hier und rede Unfug mit einem egoistischen Mann.“

 

Die deutschen Zitate aus „Spuk in Hill House“ (The Haunting Of Hill House) und „Wir haben schon immer im Schloss gelebt“ (We Have Always Lived In the Castle) stammen aus den schönen Übersetzungen von Eva Brunner oder lehnen sich daran an; die anderen Zitate wurden für diesen Text übersetzt.

 

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