Kategorie: Rezensionen

Mai 2015/3

9783630874661_CoverTagebücher und Briefe – Michail Bulgakow

Die Aufführung aller meiner Stücke ist in der UdSSR verboten, und von meinen belletristischen Werken wird keine Zeile gedruckt.

Michail Bulgakow ist zuletzt durch die vielgerühmte Neuübersetzung von Der Meister und Margarita wieder in den Sichtbereich des deutschen Lesers gelangt nachdem er erste Bekanntheit bereits Ende der 60er-Jahre durch die Übersetzung von Thomas Reschke erreicht hatte. Dass neben der schriftstellerischen Leistung Bulgakows aber auch dessen Leben für den (geistes-)geschichtlich-interessierten Menschen von Interesse sein muss,  zeigt nun eine Ausgabe seiner Tagebücher und Briefe betreut von eben diesem Reschke und seiner, also Reschkes, Frau bei Luchterhand. Das schwere Leben eines regimekritischen Autors im Russland nach dem ersten Weltkrieg und bis zu seinem Tod 1940, die Existenzängste, aber vor allem das Ringen um die geliebte Arbeit belegen nicht nur verzweifelte Tagebuchnotate und Briefe, sondern auch solche die direkt an das Regime und Stalin selbst gerichtet wurden.

Wir sitzen in Moskau fest, hoffnungslos, endgültig, wie Fliegen in der Marmelade.

Ein zutiefst eindrücklicher und bedrückender Weg sich dem Werk dieses armen Menschen, anders kann man es nicht sagen, zu nähern. Hierfür, ruhig auch von hinten nach vorne lesen, eignet sich hervorragend der Anhang, der sehr angenehm die Waage zwischen dem Zuviel an detaillierter Information und dem Zuwenig für das Verständnis des Unvorbereiteten hält.

8Himmel und Erde – Jürgen Dollase
Noch nie wurde auf dieser Seite ein Kochbuch besprochen, doch dieses ist außergewöhnlich und voller Text, daher muss diese Ausnahme gemacht werden. Jürgen Dollase ist einer der, wenn nicht der,  profilierteste Restaurantkritiker Deutschlands – quasi der Chef von 54restaurants – und reitet auf einem hohen Ross – as I do. Nur fehlt ihm mein Augenzwinkern.

Man muss also mit dem Ton des Jürgen D. umzugehen wissen, wenn er zum einen voraussetzt, dass der Leser jeden Tag kocht, ihm aber gleichzeitig als Hobbykoch fast jegliche Kompetenz abspricht; er betont, dass bitte stets nur die besten Produkte verwendet werden sollen, berichtet aber sogleich, dass die von ihm verwendeten zum Teil für Otto N. nicht zu bekommen sind. Die Frage muss also zwangläufig lauten, darf ein solcher Meister seines Fach überheblich sein oder täte ihm auch etwas Demut gut, zumal eben keine Spur von Ironie zu spüren ist.

Das [von mir gekochte] Essen scheckte gut, was ich auch – ehrlich gesagt – nicht anders erwartet hatte.

Zudem ist nicht immer ganz klar für welchen Leser Dollase schreibt. Ist es denn eine wichtige Information, dass er bei wenig Lust zu Kochen einfach mal ein Kilo Langustinen pro Person in den Topf wirft? Otto N. wird etwas beschämt an seinem Knopfloch nesteln und betreten zu Boden sehen, während ich die Menge verdoppel. Vor lauter Selbstverliebtheit geht ihm da auch mal durch, ob er nun beim 60. oder 65. Geburtstag Witzigmanns im Tantris das halbe Kalb gegessen hat – geschenkt. Die in der Vorrede sehr gelobten Bilder von Thomas Ruhl sind dafür nicht immer ganz gelungen.

Warum ich dieses Buch doch uneingeschränkt empfehlen kann? Nicht weil, das Cover aussieht als würde sich Neil Young ein Mahl kredenzen oder wir sehen können wie der Grinch in seiner Scheune grillt, sondern weil Dollase ausnahmslos weiß wovon er spricht. Die Einleitung zu jedem Kapitel sind neben allem Brimborium mit das Beste was man in der aktuellen Literatur über das Kochen auf höchstem Niveau lesen kann. Seine Überlegungen zu Aufbau und Struktur von einzelnen Gerichten bis hin zu Menüs sind höchstinteressant, die vorgestellten Rezepte voller Raffinesse und neben dem eigenen Anspruch frei von jedem Dogma. Dollase lässt alles, selbst ihm nicht zusagende Richtungen und Auswüchse des Kochens, als Einfluss gelten und vermittelt am Ende doch worauf es ankommt: die Lust am Kochen und die Freude an einem guten Produkt.

(Bei Dollase ist es wie beim in Rückblick 2 genannten Thomas Fischer, ein absoluter Mann vom Fach, der eigentlich der Welt nur etwas Gutes tun möchte und sein Wissen teilen, dass das leider nicht vom Pferd aus funktioniert, müssen aber beide noch lernen. Also absteigen und Hand reichen.)

9Brunos Kochbuch – Martin Walker
Ausnahmen und die Regel. Das völlige Gegenteil zum obigen Buch ist das zur Bruno Krimi-Reihe erscheinende Kochbuch Martin Walkers. Einfache und typische Gerichte des Perigord werden mit tollen Landschafts- und Zutatenfotos dazu mit einleitenden Texten und zwei kleinen Zusatz Bruno Fällen garniert. Hier ist gleich klar welcher Leser angesprochen werden soll, der Fan der Krimis, der hinter die Kulissen schauen möchte und dabei etwas lernen. Das Niveau der Gerichte ist niedrig bis sehr simpel, was aber niemanden verwundern dürfte, doch neue Ideen und Rezepte sind doch auch für den geübteren Koch dabei. Nur zu loben ist auch die Ausstattung: in großformatigem Leinen und sehr vielen Fotos und das für unter 30 €!

cover.htmlCéline – Philippe Muray
Wer ist dieser sagenumwobene Schriftsteller? Der Antisemit und nach dem zweiten Weltkrieg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Beihilfe zum Mord angeklagte, dieser Autor von dessen Reise ans Ende der Nacht Charles Bukowski sagte es sei das beste Buch, das in den letzten zweitausend Jahren geschrieben worden sei. Es ist die Geschichte eines Mannes und eine Schriftstellers, der in dieser Form nur im 20. Jahrhundert möglich gewesen sein dürfte.

Philippe Muray geht in einem grandiosen “Langessay” den Fragen nach, die bis heute Louis-Ferndinand Céline umgeben: Was bedeutet die ungebrochene Begeisterung für seinen revolutionären Stil sowie für das Verbot, mit dem das finstere Hauptkapitel seines Lebens belegt ist? Wie kommt es, dass wir in seinem Antisemitismus nur ein kurzes Intermezzo sehen möchten, das uns freistellt, seine “vorher” und “nachher” entstandenen Werke ebenso unbefleckt wie unschuldig zu lesen? Denn eines steht fest, man kann Céline hassen oder lieben, seine beiden Hauptwerke Reise ans Ende der Nacht und Tod auf Kredit sind bahnbrechende Werke der Literatur, denn Céline hat mit literarischen Mitteln beispielhaft vorgeführt, wozu die Entfesselung der befreiten Negativität führte, deren albtraumartige politische Konsequenz wir zu Genüge kennen.

Muray schreibt auf sehr hohem Niveau, jeder Satz zitierenswert, wie man unschwer erkennen kann. Bereits auf den ersten dreizig Seiten steckt soviel Wissen und Weisheit über Leben und Werk Célines, dass man immer wieder Pausen einlegen muss. Am besten parallel die beiden Romane liest. Ohne Vorwissen dürfte dieser Muray nicht lesbar sein. Hat man aber den Atem und die Geduld ist dies so ungefähr die detaillierteste und tiefste Möglichkeit sich diesem Scheusal und Genie zu nähern. Sollte ich demnächst Céline verschenken, dann nur in einem Paket mit Muray – großartig!

Mai 2015/2

7Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens – Max Goldt
Regel Nr. 1: Bist Du in einem Buchladen und in Eile, brauchst schnell Lektüre für eine anstehende Reise, der Buchhändler hat natürlich keines der Bücher Deiner sehr speziellen Wunschliste vor Ort – ach was, selbst wenn – kaufe ein Buch von Max Goldt. Du bist traurig, lies Max Goldt, Du bist fröhlich, lies Max Goldt, Du kannst nicht lesen, lerne es umgehend und lies Max Goldt! Der Schriftsteller und Kolumnist ist wahrscheinlich einer der unterschätztesten Beobachter und Intellektuellen unserer Zeit! Voller Witz und Können, sprachlicher Brillianz und Tiefgang schreibt der medienscheue Goldt über alles was es gibt: Zahnreinigung und die Erinnerung an Orangenbonbons, Bärchenanhänger an Rucksäcken, Fernsehmusik, alte Kabel, neuen Namen für die Ostsee und Günter Grass (s.u.).

6QQ – Max Goldt
Das sicher etwas stärkere Buch der beiden Sammlungen ist QQ und statt eigener Lobpreisung kann ich mich im zweiten Teil nur Daniel Kehlmann anschließen, wenn er sagt “Daß (Max Goldts Werk) aber, liest man genau, zum am feinsten Gearbeiteten gehört, was unsere Literatur zu bieten hat, daß es wahre Wunder an Eleganz und Poesie enthält und daß sich hinter seinen trügerischen Gedankenfluchten die genaueste Komposition und eine blendend helle moralische Intelligenz verbergen, entgeht noch immer vielen, die nur aufs Lachen und Pointen aus sind.” Amen.

Sehr gut zum Einstieg eigenen sich auch Ä und Ein Buch namens Zimbo. Ach egal was, lest einfach alles von Max Goldt!

urlEintagsfliegen – Günter Grass
“Sollte ich eines Morgens in mein Wohnzimmer treten und feststellen, daß dessen angestammter und vertrauter Wandschmuck über Nacht von unbekannter Hand durch zweihundert Graphiken von Günter Grass ersetzt wurde, würde ich mich trotz des vermutlichen Wertzuwachses außerstandes sehen, von Herzen kommende Symptome von Begeisterung zu zeigen. In Kiel mußte ich einmal aufgrund eines Wolkenbruchs in eine Galerie flüchten, die das zeichnerische Werk des Günter Grass präsentierte, und angesichts all der akademisch abgezeichneten Meerestiere und Gegenstände dankte ich dem Himmel erst für die Kürze des Niederschlages und bat ihn anschließend darum, Sorge zu tragen, daß sich meine Wohnung niemals, weder selbstständig noch fremdverschuldet, in einen Showroom für Günter Grass’sche Graphiken verwandeln möge, was eine Bitte ist, der bislang entsprochen wurde, wofür ich wiederum dankbar bin.”
Aus: Max Goldt “Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens”

Ein Alterswerk voller zumeist ziemlich mittelmäßiger Gedichte, natürlich inklusive berühmter Israelschmähung, gespickt mit immer neuen Variantionen über die Eintagsfliege als Illustration. Über Tote nur Gutes, aber lieber Blechtrommel lesen, als 28€ für dieses handwerklich hervorragende Buch des Steidl Verlages ausgeben. Daher nutze ich auch diesen für Günter Grass reservierten Spot, um Max Goldt zu huldigen.

5Prozesse – Uwe Nettelbeck
Die Berichterstattung aus deutschen Gerichten ist nicht unbedingt die beste. Von obenherab muss es dem Laien erscheinen was BGH, BVerfG und EuGH in ihrem antiquierten Juristendeutsch ex cathedra richten, niemand nimmt den berühmten kleinen Mann bei der Hand. Auch der von mir sehr geschätzt Thomas Fischer bleibt in seiner Kolumne bei ZEIT Online zu weit vom gemeinen Volk entfernt, obwohl er verständlicher spricht als fast alle anderen ranghohen Juristen, merkt man seiner Haltung häufig doch zu sehr den Bundesrichter an (trotzdem unbedingt lesen! sehr kluger Mann). Wie anders war da doch ein Uwe Nettelbeck, der, wenn er einen seiner nun bei Suhrkamp erschienen Gerichtsbericht von 1967-1969 beendet mit dem, “Daß es auf die Tat des Mannes, der ihr die Tochter nahm, nur dieses Urteil geben konnte – diese Einsicht kann niemand von ihr verlangen. Von ihr nicht. Von uns aber, auch von den Bayreuthern, muß man sie verlangen.”, weiß, dass der aufmerksame Leser eben diese Einsicht aufbringen wird, denn er hat ihn hierhin geführt. So genau wie ein guter Jurist, obwohl er keiner war, und so verständlich wie ein guter Journalist, obwohl die ZEIT ihn entließ, weil zu unbequem, schildert Nettelbeck nicht nur, sondern erklärt. Die das Land erschütternden Mordfälle, die “geistesgestörten Triebtäter” und die ersten RAF-Taten – der Autor analysiert Täter, Opfer, Zeugen, Polizei und Gericht, und damit nicht zuletzt auch die Gesellschaft, ganz sicher waren auch seine Einsichten, die er auch dem Leser vermitteln wollte, einer der Gründe für seinen Rausschmuss bei der ZEIT.

Und wenn man von einem Prozess aus dem Jahr 1967 liest, dass das Hamburger Schwurgerichts Eckart Mellentin zu zweimal lebenslangem Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit verurteilt, liest man auch über die deutsche Geschichte der Strafjustiz der jungen BRD, denn weder das Zuchthaus, noch die doppelte lebenslange Stafe oder die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte gibt es noch. Den Einsichten aber, die Nettelbeck vermittelt, kann eine Kenntnis dieser Geschichte und den Geschichten dahinter nur förderlich sein. Jedem, auch dem Juristen.

24171.books.origjpgEvery Day is for the Thief – Teju Cole
Good news first: your school english is good enough to read this book. It only takes 20 pages and you’re back in the language business.

Bad news: this book is not worth the bad paper which it is printed on. I cannot see why this young man is celebrated as the new hero of literature. This novel is just a story of his journey to Nigera. Corruption, meeting his familiy, seeing old friends – no esprit or special way of storytelling, just the damn story of a journey.

Mai 2015/1

Wenn ich Dir, liebem Leser, die Monatsübersicht mit einem Dutzend Bücher für den Mai hinklatsche, liest die keiner bis zum Ende, auch Du nicht. Daher werden die vergangenen dreizig Tage in zwei Happen aufgeteilt. Wohl bekommts!

daz4edDer Griesgram – André Gide
Solche Veröffentlichungen sind nur toten Autoren erlaubt, nur Klassiker dürfen Heftchen dieses Umfangs post mortem auftauchen lassen. Dieses Recht stehe ich auch André Gide zu. Matthes & Seitz hat diese Kürzestgeschichte, die erst 1993 entdeckt wurde, nicht nur in einer besonders schönen Ausgabe herausgebracht, sondern es sich, statt dem Füllen und Aufblähen durch plumpe Zweisprachigkeit der Ausgabe, den Luxus gegönnt Nanne Meyer die Geschichte illustrieren zu lassen.

In einem wütenden Monolog schimpft le Grincheux über die Welt, seine Freunde und Familie. Völlig ratlos scheint man am Ende vor den Scherben der Existenz dieses armen Mannes zu stehen. Oder gibt es gar keine Scherben, keine Existenz? Das kluge Nachwort des Übersetzers Tim Trzaskalik hilft beim Verstehen, doch auf diesen wenigen Seiten wird bereits klar warum Gide ein Großer war und ich den Segen für dieses Büchlein erteile.

2Wie ich Nonne wurde – César Aira
César Aira, 1949 in Argentinien geboren, hat bereits über 80 Bücher veröffentlicht. Spötter mögen zu bedenken geben, dass dies bei einer Länge jeweils um die hundert Seiten keine Ehrfurcht hervorzurufen vermag. Doch stecken bereits auf jeder Seite Airas Wie ich Nonne wurde mehr Geschichten als in der heute üblichen Nabelschauprosa auf vierhundert. Der Erzähler Aira versteigt sich in immer gewagter-abstruse Konstruktionen seiner kleinen Novelle, ausgehend allein von einem Erdbeereis, das der Protagonistin nicht schmeckte. Doch der impulsive Vater bringt den Eismann daraufhin um und muss ins Gefängnis und dann und dann und dann..

Diese Groteske spielt sich auf immer weiter verschränkenden Ebenen ab, bei denen man den Überblick aber nicht den Spaß verlieren kann.

25652544z Das Salzburg des Stefan Zweig – Oliver Matuschek
Oliver Matuschek hat sich bereits einen Namen als Biograph-Zweigs und Herausgeber der Briefe Zweigs an seine zweite Frau Lottes gemacht. Ein akribischer Fachmann, der für andere Enthusiasten einen kleinen Reiseführer durch die Wahlheimat des großen Österreichs geschrieben hat. Mit historischen Bildern und solchen des heutigen Salzburg wird der Weg durch die Stadt nachgezeichnet, Blicke in das prächtige Anwesen auf dem Kapuzinerberg gewährt und Zweig an alter Wirkungsstätte gezeigt. Ein Muss für Zweig Fans und den Salzburgbesuch.

urlSchreiben heißt, sein Herz waschen – Fritz J. Raddatz
Mein monthly Raddatz war diesmal eine Sammlung von Essays, die anlässlich seines 75. Geburtstages bei zuKlampen erschien. Eine gelunge Auswahl: Diese elf Essays sind ein hervorragender Spiegel Lebens und Werks und eben, hier kaum zu trennen, der deutschen Literatur nach ’45.

Immer wieder liest man vom Pendler zwischen zwei Deutschlanden und seinen Systemen auf den Punkt gebracht über den Aberwitz der Teilung und die Rolle der Schriftsteller in Ost und West. Seine Berichte sind immer aus erster Hand, denn er kannte fast alle Erwähnten persönlich, war mit ihnen befreundet, Verleger, Entdecker, Förderer oder doch eben spinnefeind.

Begeistert schreibt Raddatz über das Echolot Projekt seines Freundes Walter Kempowski, kratzt am Denkmal seines Helden Thomas Mann, stets spürt man die Begeisterung des Autors für Lektüre und seine Freude am andere begeistern. Besonders hervorzuheben sind die Texte über den Hall der Alten, in dem der inzwischen ebenfalls alte Autor beklagt, dass zu wenige junge intellektuelle Stimmen wahrgenommen werden, obwohl diese zu hören seien, sowie Das denunzierte Wort darüber Wie Macht und Ideologie das Schreiben vergiftet.

Neben einigen hervorragenden Betrachtungen findet aber jeder, der die Fehler finden möchte, auch alles was es an Raddatz zu kritisieren geben mag: eine starke Ich-Bezogenheit, eine Überfülle an Bildern und Parenthesen, mehrfach wiederholt er gar Vergleiche kurz hintereinander in einem Artikel (“der in KZs zu knochen-klappernden Lemuren Erniedrigten”) und doch strotzt gerade dieser Satz vor einer kaum beherrschbaren Kraft, gegen die Sprache Raddatz’ gibt es kein Ankommen. Er mag manchmal das Maß verloren haben, manch Essay dürfte fünf oder zehn Seiten kürzer sein und doch ist dieses Buch ein leuchtendes Beispiel für die Größe des Mannes, den ich so bewundere – trotz, mit, wegen aller vorhandenen Schwächen.

3Tod in Turin – Jan Brandt
“Alle deutschsprachigen Schriftsteller von Weltrang haben über ihre italienische Reise geschrieben”, lässt Brandt auf dem Rücken von Tod in Turin verlautbaren. Der Autor mit seinem zweiten Buch – der Bericht über die Lesereise mit dem ersten – will sich also in eine Reihe mit Heine, Mann, Goethe und Fontane stellen, arg vermessen will mir scheinen. Insgesamt machte der Herr schon vor dieser Äußerung den Eindruck ein arroganter Mensch zu sein und das wegen eines einzigen Romans! …

Doch schon bald nach Beginn der Lektüre schwant mir, dass was ich für Arroganz hielt wohl sein Humor ist, vielleicht hat Brandt nur ein Transportproblem und alle (oder nur ich?) verstehen ihn falsch.

Seine italienische Reise unternimmt er jedenfalls aus Anlass der Buchmesse in Turin, auf der er die Übersetzung von “Gegen die Welt” vorstellt. Die Fiat-Stadt macht in und zwischen den Zeilen einen sehr hässlichen Eindruck, aber Brandt ist ein launiger Erzähler und am besten bevor er nach Italien aufbricht. In wunderbarem Schnodderton berichtet er von den deutschen Stationen seiner Lesereise, schildert später bösartig-grandios das Wiedersehen mit einem alten Bekannten in London. Seine Zeit in Italien verkommt aber doch zu bald zu einem been there, done that und wen er all getroffen hat. Das gesamte Buch ist nicht uninteressant und viele Stellen gefallen mir sogar ausgesprochen gut, im Ergebnis bleibt Tod in Turin aber nur ein persönlich gefärbter Reisebericht.
4 Provokateure – Martin Walker
So und jetzt bitte sehr, möge man mir verraten warum ich auch den siebten Band dieser Reihe gelesen habe und den achten lesen werde! Irgendwas muss es ja haben. Ist es nur der Soap-Opera-Trick, möchte man immer nur wissen wie es mit den überzeichneten Figuren weitergeht? Normalerweise würde ich laut wehklagen und ein Schreibverbot für Martin Walker fordern, aber bitte Kerl schreib weiter (lass Dir vielleicht ein bisschen was bei Stil und Konstruktion helfen, nimm ein bisschen den Fuß vom Gemeinplätze-Gas und wiederhole Dich nicht ständig), ich bleib Dir treu – warum auch immer!

Zur ganzen Rezension.

Provokateure – Martin Walker

Bereits die dritte Rezension zu einem Bruno Krimi von Martin Walker, es wird die dritte, die nicht so richtig wohlwollend, aber auch nicht niederschmetternd für den in Washington und im Périgord lebenden Schotten wird.

Für die tl;dr-Fraktion, ich bleibe meinem Urteil der letzten beiden Besprechungen treu:

Walker ist kein großer Stilist und die Reminiszenzen an die vorherigen  Bücher und die Vorgeschichten der Personen sind, zum Teil etwas zu sehr mit dem Holzhammer eingefügt worden. Aber darum geht es bei einer solchen Lektüre auch nicht, sondern um leichte Unterhaltung im Sommer, die Lust auf den ersten/nächsten Urlaub im Perigord macht und einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt.

[“Wasser im Mund zusammenlaufen lassen” das habe ich geschrieben? Ich bin wohl in die Plattitüden-Schreibschule bei Martin Walker gegangen!]

Ingesamt will Walker zu viel und kann zu wenig. Es drängt sich leider das Gefühl auf, dass er mit Voranschreiten der Reihe schriftstellerisch und stilistisch eher abbaut, denn dazulernt. So war schon Femme Fatale arg konstruiert, Reiner Wein fehlt dazu noch die Spannung. Wenn man aber, so wie ich, mit niedrigen Erwartungen an die literarischen Qualitäten diese Bücher liest und nur auf leichte (diesmal fast seichte) Unterhaltung aus ist, wird man nicht enttäuscht.

978-3-257-06928-0Die Notizen, die ich mir während der Lektüre gemacht habe, enthalten wieder Hinweise auf alle Fehler, die Walker schon in den letzten Bänden gemacht hat. Bereits nach den ersten Seiten möchte man dem Autor zurufen sich nicht wieder zu viele zu heiße Themen auf einmal vorzunehmen: Islamismus, Dschihad und Anschläge in Europa – brandheiß! – zusammen einem Erzählstrang um die Judenverfolgung im zweiten Weltkrieg in Frankreich – in der Kombination kaum zu händeln – und dann auch noch sexuelle Belästigung von Professoren an Universitäten, das ist doch mindestens ein Sujet zu viel! Und natürlich kann der Autor diesen Themen nicht in Gänze gerecht werden, die Auflösung um den übergriffigen Dozenten wird im Schnelldurchlauf abgehandelt und ebenso selbstverständlich lösen sich alle Probleme der Personen, der Region, ja des ganzen Landes zum Ende hin in Luft auf. Es fehlt insgesamt einfach an Struktur.

Der Stil Walkers macht aus diesem Buch dazu ein ziemlich schlechtes: er reiht Gemeinplatz an Gemeinplatz, wiederholt unablässig vor zwei Seiten Gesagtes und die Geschichte der Vorgängerbände. Wer seine fünf Sinne beisammen hat und auf Seite 300 noch nicht begriffen hat, dass Bruno Soldat war, kann wahrscheinlich gar nicht lesen (ACHTUNG: Dieses Buch enthält keine Bilder [außer auf Vorder- und Rückseite]!) Dazu kommt eine gewisse Vorhersehbarkeit auch für den ungeübten Krimileser, die nicht nur die Story an sich betrifft, sondern auch Details; ein Kampfmesser wird erwähnt [ohoh, denkt sich der Dorfpolizist, der doch aber Soldat war (!), hoffentlich muss ich das nicht einsetzen, könnte er ja aber, weil er ja Soldat war (!!)] klar, dass das nochmal irgendwie verwendet wird [aber nicht im Nahkampf, was für Bruno, der Soldat im Bosnienkrieg war, aber kein Problem gewesen wäre].

Dabei sehe ich Walker förmlich vor mir: Der Mann liebt Frankreich und erarbeitet sich immer wieder historische Themen des Landes. So hatten wir natürlich schon den Algerienkrieg, Resistance, das Vichyregime (kam nicht auch der Krieg in Indochina irgendwie mal vor?) diese Themen kombiniert er mit Tagesaktuellem (Homoehe in Frankreich, die Gefahr von islamistischen Anschlägen) und pfeffert dazu noch weitere landestypische Dinge mit rein (Trüffel, Wein, Käse), die wahlweise in Gefahr sind oder zur Mordwaffe werden. Der Frankreichliebhaber, der Gourmet und Schwärmer wird es ihm verzeihen, der Liebhaber von guter Literatur nicht.

So und jetzt bitte sehr, möge man mir verraten warum ich auch den siebten Band dieser Reihe gelesen habe und den achten lesen werde! Irgendwas muss es ja haben. Ist es nur der Soap-Opera-Trick, möchte man immer nur wissen wie es mit den überzeichneten Figuren weitergeht? Normalerweise würde ich laut wehklagen und ein Schreibverbot für Martin Walker fordern, aber bitte Kerl schreib weiter (lass Dir vielleicht ein bisschen was bei Stil und Konstruktion helfen, nimm ein bisschen den Fuß vom Gemeinplätze-Gas und wiederhole Dich nicht ständig), ich bleib Dir treu – warum auch immer!

Wie soll man einem so schönen Buch böse sein?
Wie soll man einem so schönen Buch böse sein?

April 2015

Mein Zeitmanagement hat Unwucht bekommen: ich finde nicht die Zeit in Ruhe zu rezensieren, aber genug um derart viele Bücher zu lesen, dass ich mal den Stapel abarbeiten muss. Wie jeden Monat daher nun der Überblick:

493Plattform – Michel Houellebecq
– Muss man das Buch gelesen haben, um bei DuMont einen Klappentext schreiben zu dürfen? –

Lange vergriffen, endlich wieder da. Ein hervorragendes Buch, hervorragend aus dem Sumpf eines überschwemmten Marktes! Was aber genau möchte mir dieser Klappentext sagen:

Auf einer Reise nach Thailand verliebt sich der frustrierte Beamte und begeisterte Pornokonsument Michel in Valérie, die wie er an die segensreiche Wirkung des Sextourismus glaubt. Gemeinsam wollen sie einschlägige Clubreisen organisieren. Doch durch ein islamistisches Attentat wird der Traum vom Glück jäh zerschlagen…

Wer bitte, der nie etwas von Roman oder Autor gehört hat, soll ein solch beschriebenes Buch kaufen? Natürlich geht es bei Michel Houellebecq auch um Sex, wer aber dieses Thema derart in den Vordergrund stellt hat das Buch nicht gelesen oder nicht verstanden, hat Houellebecq nicht gelesen oder nicht verstanden. Es geht um Sexualität, um die Beziehung von Mann und Frau in der modernen Welt, um Einsamkeit und Ängste. Plattform ist ein tief berührendes und wahres Buch, ein Roman mit Sätzen wie “Man schafft sich Erinnerungen, um im Angesicht des Todes nicht ganz so allein zu sein.” Michel vögelt, fickt und bumst viel, aber er sieht im ganzen Buch (man berichtige mich, habe ich etwas übersehen) keinen einzigen Porno, komische Begeisterung ist das. Valérie arbeitet in der Reisebranche und übernimmt Michels Ideen zum Sextourismus, Michels Anteil kann aber nicht als “organisieren” beschrieben wird. Zuletzt der islamistische Anschlag, der wirklich zuletzt, nämlich ca. nach 5/6-teln des Buches geschieht, hätte ich von diesem Twist in einer Rezension berichtet, SPOILER hätte davor gestanden. Dieser Klappentext nimmt nur die Houellebecq-Schlagwörter und wirbelt sie durcheinander: Sex, Islam, Attentat.

Valérie: “Ich mag die Welt nicht, in der wir leben.” Dürfte O-Ton Houellebecq sein. Diese Welt ist nicht abstoßend, wegen eines schlechten Klappentextes, aber der versaut mir die Laune.

686Meine Freunde – Emmanuel Bove

Victor Baton hat am 1. Weltkrieg teilgenommen und ist Invalide, mit einer winzigen Rente fristet er ein trostloses Leben in Paris. Die einzelnen Kapitel sind Abhandlungen über die einzelnen Freunde des einsamen Junggesellen. Doch keiner dieser Freunde ist ein solcher. Victor biedert sich an, schleimt und schmeichelt, doch niemand, auch nicht der Leser, mag ihn sympathisch finden. Eine deprimierende Lektüre wäre da nicht der pointierte Stil Boves, der genau beobachtet und in kurzen Hauptsätzen (Herr Schirach so geht das, denn es sind nicht nur kurze Hauptsätze!) Inneres und Äußeres seines Widerlings schildert. Die Geschichte des nach oben Buckeln und nach unten Treten.

Die Szene als Victor herausfindet, dass die hübsche Freundin seines Bekannten einen Makel hat, so abstoßend wie erheiternd:

Sie stand auf und kam auf mich zu.

Da ergriff mich Freude, so ungeheuer, daß ich stumm bleib. Das Gefühl, als ob ein warmer Hauch mein Gesicht liebkoste, ließ mich erschauern. Obwohl ich doch kaum überschwenglich bin, schlug ich Billard auf die Schulter. Trotz meiner Fröhlichkeit fühlte ich mich lächerlich, als ich die Hand zurückzog. Ich hatte Lust zu lachen, zu tanzen, zu singen: Billards Geliebte hinkte.

So sind sie die Freunde.

558Letters of Note – Shaun Usher
Ein Prachtband und Fest für jeden kulturgeschichtlich interessierten Leser, ein großformatiger Band voller Korrespondenz: Schriftsteller, Politiker, Künstler und der kleine Mann; Weltbewegendes und erheiternde Kleinigkeiten, Zorn und Liebe, Schlagfertigkeit und beleidigte Leberwürste, Rezepte, die die Queen versendet und Abschiedsbriefe, Bewerbungsschreiben und Antworten auf Fanpost. Jeder Brief ist von seinem Übersetzer in einem kurzen Notat eingeleitet und erläutert, bei jedem, soweit möglich, das abgelichtete Original abgedruckt.

721Konzert ohne Dichter – Klaus Modick
So Halbfiktionales schreiben ja jetzt alle (siehe auch Kastelau, Oona & Salinger, Pazifik Exil). Nun nimmt sich Klaus Modick, der schon, ebenfalls halbfiktional, in Sunset Lion Feuchtwanger über den Tod Brechts sinnieren lässt, Rainer Maria Rilke vor, der in der Künstlerkolonie Worpswede zu Gast ist.

Aufhänger ist das Gemälde Das Konzert (Sommerabend) Heinrich Vogelers, auf dem ein Platz leer geblieben ist, der laut Modick von Rilke eingenommen werden sollte. Anhand der Entstehung des Gemäldes zeichnet Modick eine Geschichte Worpswedes und der ersten Generationen, der dort lebenden Künstler, immer wieder (heim)gesucht von einem arg unsympathischen, überspannten Rilke.

Modick nutzt für seinen Roman zum Teil leider von allem etwas zu viel: Allegorien und Bilder, Alliterationen und Adjektive, Substantivierungen und Schnörkel. Und doch handelt es sich um eine unterhaltsame und bildende Lektüre, das Ende überraschend gut gelungen. Oder wie Modick Lichtwark über Das Konzert sagen lässt: “Die Leinwände der meisten Maler sind zwar frei von Schwächen, sind aber keine Bilder. Vogelers Bilder haben Schwächen, sind aber jedenfalls Bilder.” Das sagt 54books auch über Das Konzert ohne Dichter.

497Fuckin Sushi – Marc Degens
Fuckin Sushi klingt ziemlich banal und ist doch nicht nur die Geschichte einer hochfliegend-tieffallenden Schülerband. Es ist die Geschichte des Erwachsenwerdens, ein Coming of age-Roman mit Musik.

Niels wohnt unglücklich in Bonn und mimt in der Schule den Außenseiter. Als er René kennenlernt und sie ihre gemeinsame Liebe zur Musik entdecken, gründen sie eine Band, in der sie sich komplett in ihrer Kreativität und ihrem Sound verlieren. Mit absurden Auftritten und nicht endend-wollenden Songs erspielen sie sich eine wachsende Fanschar und stolpern am Ende doch über die Differenzen von Pubertierenden.

Könnte alles trivial, vielleicht unterhaltsam, standard sein, aber Marc Degens zaubert herrlich verstörte Jugendliche in die Geschichte, die immer weitersuchen nach der perfekten Musik, der perfekten Freundin und den perfekten Freunden. Immer weiter machen worauf man Lust hat, am besten abrentnern sofort, das Erwachsensein direkt überspringen. Weil die Leidenschaft der Band so echt ist, das Entbrennen für eine Idee und ein Projekt aus jugendlichem Übermut jedem bekannt vorkommen dürfte und doch überall die Abgründe lauern, ist Fuckin Sushi nicht trivial oder banal, durchaus aber mit Untertönen unterhaltend.

“Nein”, schüttelte Kim den Kopf. “Irgendwann wird das albern und auch zu anstrengend. Ich wollte nie mit einem Haarteil auf der Bühne stehen.

Nie ist Fuckin Sushi albern oder anstregend! Ein tolles Buch über das Erwachsenwerden und gute Musik, Freundschaft und das Abrentnern.

940Aberland – Gertraud Klemm
Mehrfach habe ich die selten, aber wenn gut besprochene, Gertraud Klemm und ihr Aberland begonnen, mehrfach abgebrochen. Die Geschichte zweier Frauen zweier Generationen, Mutter und Tochter, Franziska und Elisabeth, begann mit einer Suada Franziskas in einem Satz über vier Seiten, ach hat sie es schwer mit dem Kind und ihre Promotion kriegt sie auch nicht fertig, weil ihr Mann so wenig hilft; der Lebensplan, die Wäsche, die Windeln, Abstillen, Altersabstand, zweites Kind, Kinderärzte, Schreibaby etc. pp. Nichts für mich denke ich kurz angebunden.

Doch ich lasse mich Wochen später erneut darauf ein, sehr zögerlich, und bin überwältigt. Ja, manche der geschilderten Szenen und Figuren sind fast zu abziehbildchenhaft die Klischees der gelangweilten, nicht verwirklichten westeuropäischen Frau, aber diese gibt es eben auch genau so. Die Sorgen um den Kindergeburtstag nehmen groteske Züge an, der längst verlorene Kampf um den Ehemann mit dessen jüngerern Geliebten und natürlich weiterhin der Wunsch der modernen Frau nach Erfüllung irgendwo zwischen Kind und Karriere, nicht aber gleichzeitig den Eindruck erwecken eine schlechte Mutter zu sein, dies sind wohl (ich mag das kaum abschließend zu beurteilen) die tatsächlichen Probleme zweier (oder mehr) Generationen Frauen heute.

Ein bisschen versteht sie das Publikum, das unterhalten werden will, diese jungen Künstler sind anstrengend, Literatur ist es, und die von Schriftstellerinnen noch mehr, immer diese Autorinnen mit ihren persönlichen Befindlichkeiten, kaum geben sie etwas von ihrem Privatleben preis, frisst ihnen das Publikum aus der Hand, Selbstmitleid auf Honorarbasis, ob sich das nicht rächt, ich hätte auch Autorin werden sollen, dann könnt ich meine pummelige, komplexbelandene Mutter unter Aspik auf einem Silbertablett servieren, denkt sie, meinen notorischepolygamen Vater häppchenweise als Beilage und meinen Bruder, den Steuerfachtrottel, als Nachtisch.

Aberland ist in diesem Zitat fast komplett enthalten: Klemm sollte sich trauen mehr Punkte zu setzen, aber sie beobachtet genau und beschreibt in einem zynischen Ton auf den Punkt. Im Verlauf der Lektüre lässt es einen Schaudern wie sie auf die Welt sieht, man verzweifelt wie ihre Protagonistinnen in deren Leben aufgerieben werden und doch immer weiterstrampeln. Die Autorin schreibt in einer ganz offenen Sprache über Sexualität, Sex und Erotik, kommt dabei aber ganz ohne das zuweil Plakativ-Aufdringliche eines Houellebecq aus, dessen Pessimismus sie dagegen übernimmt. Mir wird zum Weinen als mir vorgeführt wird, dass der Rest des Lebens eines Westeuropäers nur noch darin besteht zuzusehen wie man mit dem Alter verlischt, Persönliches und Erreichtes bedeutungslos wird, bis wir dement werden, nur noch da sitzen und uns einpinkeln.

Dieses Buch ist grandios, zwischen Plattformen und Sibylle Bergs Der Tag, als meine Frau einen Mann fand. Sollte ich eines der drei wiederlesen, so würde ich sofort zu Aberland greifen!

019Kommisar Lukács – Zeitschrift für Ideengeschichte (Hrsg.)
Fast nur der monthly Raddatz und doch eine doppelte Entdeckung. Georg Lukács war ein ungarischer Philosoph und Literaturkritiker. Ein könnte hier auch für der stehen, denn der Adorno des Ostens, wie Raddatz ihn in einem seiner letzten Interview nennt, gilt als wichtiger Erneuerer der marxistischen Theorien. Ursprünglich nur wegen des Interviews erworben, las ich mich fest. In diesem Magazin, das beim C.H.Beck Verlag betreut und gedruckt wird, stimmt vieles. Ausgewählte Fachleute, hier unter anderem nicht nur Zeitzeugen, sondern auch eine Schülerin Lukács’, schreiben auch für den Laien verständliche Artikel und Essays vierteljährlich zu einem Oberthema.

Sofort beginnt man querzulesen, notiert den viel gerühmten Essay Lukács’ über Balzac oder Thomas Mann, muss aber leider feststellen, dass fast alle seine Arbeiten heute nur noch schwer zu bekommen sind, beginnt darüber nachzudenken sich mal wieder mit neuerer Philosophie zu beschäftigen, der Geschichte Ungarns und so geht es in einem fort.

Zum Reinlesen mal auf der Seite der ZIG mal vorbeischauen, hier gibt es von älteren Ausgaben ausgewählte Artikel in Gänze kostenlos oder direkt beim Verlag das Abo bestellen.

008Kunst hassen – Nicole Zepter
Nicole Zepter, die designierte Chefredakteurin von Neon und Nido, hat ein Problem mit dem Kunstbetrieb.

Ausstellungen heute sind auf die Passivität des Besuchers angelegt. Sehen, staunen, nichts verstehen.

Mit dieser Ansicht steht sie, außerhalb des inner circle, sicher nicht alleine da. Einige Wenige bestimmen welche Künstler angesagt sind und hängen ihnen Etiketten um: bedeutenster, wichtigster, einflussreichster, meist kopierter XYZ seiner Generation. Der normale Besucher wird dagegen zum Laien degradiert und als dieser klein gehalten, weil man nicht offenbaren möchte, dass man etwas nicht versteht, nickt man wissend oder zuckt resigniert die Schultern.

Die Autorin seziert eine ganze Branche und zeigt deren Schwächen auf. Endlich kann jeder wissend nicken, der im letzten Quartal in einem Museum war. Dümmliche Texte, Superlative, unfreundliche Wärter, warum überhaupt Wärter, Kunstpädagogik von oben herab, Unwissen und aufgesetztes Insidertum. Flüssig liest man sich durch das amüsante Buch, doch fragt nach 2/3 wann denn nun die konstruktiven Vorschläge zum Bessermachen kommen.

Zepter schlägt vor die Wärter besser auszubilden, so dass diese den Gast zumindest ein bisschen an die Hand nehmen zu können, Anstöße zu einer anderen Form des Nachdenkens über Kunst zu geben. Hmm, das will doch moderne Museumspädagogik auch, nur dem Wachmann mal den Katalog zu lesen zu geben, wird da nicht reichen. Sie bemängelt auch die üblichen Abläufe – Pressetext, Eröffnung, Einführung, Katalog, Beschriftungen an den Werken auf bunten Wänden – doch übersieht sie hierbei auch, dass viele Besucher sich gar nicht mehr einlassen wollen, man lässt die Eindrücke auf sich einplätschern und kann hinterher behaupten im MoMA, in der Tate oder im Louvre gewesen zu sein. Nicht nur der Sender, auch der Empfänger muss umdenken.

Gegen Ende wird Kunst hassen, trotz des löblichen Ansatzes, ziemlich redundant im ewigen Vorwerfen, dass die Autorin ein Problem mit den oben zitierten Superlativen hat, ist dem Leser inzwischen bestens vertraut und wird doch noch einmal bekräftigt. Aber mit den Superlativen ist es wie mit Wiederholungen irgendwann nerven sie.

Am Ende, weil weder Zepter noch mir des Rätsels Lösung eingefahllen ist, bleibt es wohl auch in Zukunft häufig bei der Aussage, die ein Hamburger Kunsthallen-Besucher dort ins Gästebuch schrieb: “Für 9 Euro Eintrittsgeld kaufe ich mir lieber einen Besen.”

Astronauten von Sandra Gugic

Die bevorzugte Bewegung des Astronauten ist das Schweben. Diese Art der Fortbewegung ist lautlos und schwerelos und Traumfabrikmaterial. Aber vielleicht ist es auch ein wenig träge, ein wenig dröge, ein wenig vorhersehbar, immer dieses Geschwebe, ohne jemals fallen zu können. Die Astronauten von Sandra Gugic schweben nicht. Sie trudeln, sie stolpern, sie taumeln und straucheln. Und aus sechs von diesen haltlosen Existenzen im Universum hat Sandra Gugic ein sehr lesenswertes Buch gemacht.

646In einem stickigheißen Sommer in einer Stadt, die sich nach Wien anfühlt, treiben die Protagonisten episodenhaft umeinander und aneinander vorbei. Darko und sein wutgetränkter Kumpel Zeno umgarnen die unnahbare Mara, die unaufhörlich Origami-Füchse faltet und eine Affäre mit dem taxifahrenden Schriftsteller Alen beginnt, der wiederum Darkos Vater ist und der sich von seinem Polizistenfreund Niko entfremdet, der wiederum immer wieder auf den Kleinkriminellen Alex trifft und sich dem Junkie unerklärlich verbunden fühlt. Dieser lose, höchstens blassrote Handlungsfaden wird abwechselnd in sechs Stimmen erzählt, sodass am Ende nicht wirklich etwas zusammenpasst, sondern sechs Ichs ihre zersplitterte Sicht auf etwas schildern, das man am Ende vielleicht ein gestrandetes Mutterschiff nennen kann.

Sandra Gugic schreibt in einer Sprache, die traumwandlerisch sicher die richtigen Stimmungen trifft und dem Geschehen in der Stadt und in den Köpfen immer mit einer lakonischen Distanz begegnet, der ihre angeschlagenen Astronauten vor der Rührseligkeit bewahrt.

Minuten, Stunden später wird das Geknutsche und Gefummel vor dem Springbrunnen losgehen, auf dem Parkplatz und zwischen den Säulen. Von drinnen dringen Fetzen von Paartanz-Musik nach draußen, sittsamer Ausgleich zum allgemeinen Treiben bleibt dieVerwendung von Französisch und Englisch als Party- konversationssprachen, und immer neue Erinnerungsfotos vom Abheben und Abstürzen und den Aggregatzuständen da- zwischen, an die sich keiner erinnern wird. Dazwischen liegt die steinerne Grenze zwischen Casino und Park, der Gebäu- dekomplex des Theaters, das Zeno nur einmal von innen ge- sehen hat. Eine Aufführung derRäuber,in die uns eine Jugend- arbeiterin mitgenommen hatte, der alte Schinken aufgepimpt als Gangballade, mit Rap und Breakdance, und Zeno und ich, als alberner Gegensatz dazu, aufgebrezelt in Hemd und Krawatte im Parkett.

Man kann Sandra Gugics Debütroman vielleicht vorwerfen, dass sich die Stimmen ein wenig zu sehr gleichen, dass selbst der gekränkte Bürgerschreck Zeno noch besonnen erklärt, warum er mit dem Luftgewehr auf Passanten und Golfspieler ballert. Das Buch federt seine Schläge oft durch kunstvolle Wortpolster ab und wirkt deshalb eher wie von einer einzigen Stimme erzählt.

Trotzdem entfaltet Sandra Gugics Stil einen gewaltigen Sog, der 199 Seiten mit Lichtgeschwindigkeit im Kosmos verschwinden lässt. Astronauten reiht sich in eine ganze Serie von aktuellen Büchern ein, die sich nicht festnageln lassen, keine klare Position beziehen, sondern ihre Protagonisten fast vorsichtig und großzügig umkreisen. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass so viele Texte im zeitgenössischen Universum uns so meinungsstark mit Absolutheitsmegaphon anschreien möchten. Ein Roman ist ein langsames Medium. Lang geschrieben und langsam gelesen, packt er vieles ins Ungesagte. Der Rückzug ins Verkraftbare, viele kleine Geschichten, viele Möglichkeiten anstatt einer großen geschlossenen Erzählung sind eine zur Zeit auffällig häufig genutzte Strategie, der sich auch die Autorin dieser Zeilen außerordentlich verbunden fühlt. Vielleicht hat sie auch deshalb die trudelnden Astronauten so gern gelesen. Kein Autopilot, der irgendwo hinführen muss.

[Rezension von Saskia Trebing]

März 2015

Im März gab es nicht nur die Buchmesse in Leipzig, mit Bloggerpatenschaft, Lukrez und Klaus Binder, nicht nur Interviews und Gequengel über die Büchergilde, es wurde auch gelesen.

642Dr. Tod – Nicholas Kulish/Souad Mekhennet
Der Titel klingt etwas übertrieben, doch so wurde Aribert Heim, einer der letzten verfolgten NS-Kriegsverbrecher genannt. Im KZ Mauthausen hat dieser Arzt auf brutalste Art und Weise Menschen umgebracht und ist nach Ende des Krieges einfach verschwunden. Dies war nicht nur den Wirren im zerstörten Deutschland, sondern auch der Durchsetzung der neuinstallierten Verwaltung mit Altnazis und dem Schutz von Geheimdiensten geschuldet. “Wir sind hier der Ansicht, dass sein Wert als Informant unendlich viel größer ist als jeder denkbare Nutzen, den er im Gefängnis haben könnte”, ließ etwa der CIC (der ehemalige militärische Abwehrdienst der USA) über Klaus Barbie intern verlautbaren. Heim war zwar nicht so nützlich wie Barbie, aber auch (lange) kein so bedeutender Name, dass viel Aufhebens um sein Verschwinden gemacht wurde. Doch im Laufe der Jahre wurde durch Tod der Gesuchten und bereits abgeschlossene Strafverfahren der Kreis um Heim enger, doch gedeckt durch seine Familie und geschickte Taktik seines Anwalts hatte sich dieser inzwischen nach Ägypten abgesetzt, finanziert durch Grundbesitz in Deutschland, der ihn lange Zeit finanzierte. Heim wurde, anders als Barbie, nie geschnappt. Nie musste er sich daher vor einem Gericht für seine Taten verantworten und trotzdem kommen die Autoren fast zu einem versöhnlichen Resümee:

Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern ist nicht einfach etwas, das bald der Vergangenheit angehören wird. Sie schuf einen Präzedenzfall für die Ahndung von Völkermord überall auf der Welt.

So ist Dr. Tod zwar eine Geschichte des Versagens deutscher und internationaler Strafverfolgung, eine Ansammlung von Missgeschicken, Vertuschungen und Fehlurteilen, aber auch eine Mahnung und die  Entwicklungsgeschichte eines Rechtsstaats.

In diesem Zusammenhang sei auch an Furchtbare Juristen erinnert, das erfreulicherweise neu aufgelegt wurde.

607Ein Liebesabenteuer – Alexandre Dumas (d.Ä.)
Alexandre Dumas hat solche Großklassiker der Unterhaltung wie Die drei Musketiere oder Der Graf von Montechristo geschrieben. Neben diesen beiden Bestsellern stammen aber noch unzählige Theaterstücke, Novellen, historische Romane und Werke zur französischen Küche aus seiner Feder. Ein Liebesabenteuer, eine stark autobiographisch gefäbrte Geschichte, wurde letztes Jahr vom Manesse Verlag erstmals übersetzt. Eine junge Schauspielerin trifft den bereits gealterten Dumas und erbittet von ihm die Einführung in die wichtigen Künstlerkreise von Paris. Sie macht dem als Aufreißer berüchtigten Schriftsteller aber sofort klar, dass sie Mann und Kind in der Heimat hat. Dumas ist trotzdem betört und folgt Lilla auf ihrer Reise durch Europa.

Eine wunderbar leichte Geschichte voller Witz (köstlich allein wie Dumas sich über die Deutschen ereifert) und Romantik, Freundschaft und Liebe: Leichte Unterhaltung mit gehobenerem Niveau, zum in einem Zug Wegschmökern.

(Diesen Alexandre Dumas nicht mit seinem Sohn verwechseln. Der schrieb unter anderem Die Kameliendame.)

Über die Natur der Dinge – Lukrez/Klaus Binder
Eine der Entdeckungen des Monats und ein Segen der Bloggerpatenschaft, aus der sich ein sowohl interessanter als auch schmeichelhafter Briefwechsel mit Klaus Binder anschloss. Für Freude der Philosophie, für solche des schönen Buchs und die mit Ruhe und Ausdauer. Bitte Lukrez lesen und ruhig auch mal die Übersetzungen vergleichen. Zur ausführlichen Rezension aufs Zitat klicken.

Lasst euch auf Lukrez und Über die Natur der Dinge ein, Binder nimmt euch an die Hand: Ein Buch, das man nicht einfach liest, sondern durcharbeitet, ein Projekt, ein wunderschönes, immer wieder.

911Die Sprache der Vögel – Norbert Scheuer
Also wenn es zwei Dinge gibt, die ich nicht leiden kann sind es Vogelviecher und Krieg, aber dieses Buch… ich bin ein bisschen sprachlos (was natürlich nur ankündigt, dass nun ein Redeschwall folgt).

Paul Arimond ist vor seinem Leben in der Eifel in den Krieg nach Afghanistan geflohen. Der zurückhaltende junge Mann vertreibt sich den Tag mit Vogelbeobachtungen und dem Zeichnen. Zwischen dem unspektakulären, aber im Kriegszustand immer angespannten Alltag wird der Grund für seine Flucht in Rückblenden gezeigt. Die Schuld an einem Autounfall, bei dem sein bester Freund schwer verletzt wurde, lastet auf ihm und hat sein altes Leben mit einem Schlag zerstört.

Norbert Scheuer, einer der Nominierten des Leipziger Buchpreises für Belletristik, eilt in schnell, kurzen Sätzen durch die Geschichte, die sich am Ende wundersam in ein ausgewogenes Ganzes fügen. Die Lautstärke und Geschwindigkeit des Krieges prallen auf die Ruhe Pauls, die Sätze Scheuers wollen verweilen und werden durch die Story getrieben, das liebevolle Interesse Pauls für Vögel kontrastiert dessen Gleichgültigkeit für den Krieg, gar für Tote und Verletzte. Die menschlichen Verluste werden nur festgestellt, während der Sanitäter Paul Vögel bis ins Detail von Aussehen und Verhalten darstellt. Der Soldat sucht einen Ausweg aus dem Lager, aber nicht um zu desertieren, sondern nur um weiter ungestört beobachten zu können.

Ein so zauberhaftes Buch voller beeindrucktender Schönheit, trotz Krieg und Flattertier. Bitte unbedingt lesen!

10801970NUnerbittliche Freunde – Fritz J. Raddatz
Über den Tod des Helden immer noch nicht hinweg, lese ich momentan alles was mir in die Finger kommt, auch diesen schmalen Band, in dem Kritiken und Interviews Raddatz’ mit dem (Ex-)Freund Günter Grass zusammengestellt wurden. Wirklich nur für Fans des einen oder anderen. Literaturkritik ist größtenteils nicht derart zeitlos, dass sie auch nach Jahren noch einfach genossen werden könnte. Kein Wunder also, dass dieses Buch vergriffen ist und nicht neu aufgelegt wurde, Leserschaft, jenseits von Maniacs wie mir und vielleicht noch Biographen, dürfte hiermit schwer zu machen sein.

363Oona & Salinger – Frédéric Beigbeder
Ist diese Jahr irgendetwas mit Salinger, dass die Bücher über ihn derart aus dem Boden wachsen? 5 Jahre tot oder 96. Geburtstag? Nicht wirklich ein Grund zu feiern, aber die Fans danken es und nehmen alles was es über das Phantom J.D. Neues gibt, auch wenn es nicht seiner Feder entstammt. Frédéric Beigbeder, selbst bekennender Salinger-Fan, schreibt also eine halbfiktionale Geschichte über die Jugend des Idols; so halbfiktionale Bücher schreiben ja heute alle.

Unter Fans tritt man aber manchmal in Konkurrenz wer das Vorbild besser kennt. Fasst der Franzose also Der Fänger im Roggen zusammen als kurzen Roman, der die Geschichte eines Jungen erzählt, der aus seinem Internat geworfen wird, im Central Park herumstreift und sich fragt, wo die Enten hingehen, wenn der See im Winter zugefroren ist, möchte man ihm an Gurgel springen und schreien “Es geht doch nicht um die Enten!”.

Nicht gänzlich unvoreingenommen beginne ich also dieses Buch, das bereits mein viertes des Autors ist, und bin überrascht wie schnell er mich doch wieder gefesselt hat. Kein Konkurrenz mehr. Beigbeder beschreibt wie der junge Jerry die Tochter des amerikanischen Literaturnobelpreisträgers Eugene O’Neill, Oona kennen und lieben lernt. So wenig man über Salinger weißt, so ist doch bekannt, dass diese, seine erste, Liebe ihn für sein ganzes Leben prägte. Jerry und Oona, die mit ihren beiden Jetset-Freundinnen das New York vor dem zweiten Weltkrieg aufmischt, kreisen umeinander, lernen sich vorsichtig kennen und bald verbindet die 15-Jährige und den jungen Schriftsteller eine zaghafte Beziehung, die aber nur kurz halten wird. Jerry zieht in den zweiten Weltkrieg und Oona lernt den deutlich älteren Charlie Chaplin kennen, wird dessen vierte Frau und gebärt ihm acht (!) Kinder. J.D. kommt verändert aus dem Krieg wieder, schreibt einen Weltbestseller, trauert Oona nach und zieht sich wenig später für immer zurück.

Mir bleibt nichts übrig als den Hut zu ziehen. Beigbeder schafft es sogar Salingers Ton aufzugreifen ohne ihn zu imitieren. Er flicht fiktive Briefe und authentische Anekdoten ein, der Autor schaltet sich mit Kommentaren dem Erzählten zu und ja, am Ende glaubt man sogar, dass alles genau so gewesen ist. Denn, nach Beigbeder, trieb Hemingway Salinger in die Einsiedelei, Oona war der Grund, dass er immer jüngere Frauen hatte. Liest man ganz genau “hin”, ist dieses Buch nicht nur ein Buch über den literarischen Helden des Autors, sondern auch über die Abscheu des Krieges und dessen Folgen.

Oh ein herrliches Buch über echte Fakten und unechte Wahrheiten, die sich genau so zugetragen haben könnten. Beibeder lesen, dann Salinger lesen und dann einen Chaplin Film ansehen, dann wieder Salinger lesen. Allein die Szenen wie die beiden junge Oona und J.D. einander kennenlernen und sich schüchtern näherkommen, man möchte wieder 15 sein – oder lieber doch nicht?

Ein ganzes Leben – Robert Seethaler
Robert Seethaler wird von allen geliebt. Sein Trafikant in den Himmel gehoben. Nach dessen Lektüre hatte ich mit dem Mann bereits abgeschlossen, zu vorausschaubar und zu gefühlig, weil aber wenige Seiten und mein letzter Kauf bei der Büchergilde eine zweite Chance für Robert S. mit Ein ganzes Leben.

Die Geschichte des Andreas Egger, des verkrüppelten Ziehsohn eines bösen Bauern, der die eigenen Kinder diesem vorzieht, der zum starken Hilfsarbeiter heranwächst, seine Behinderung durch Kraft, Geschick und Schläue ausgleicht, stumpfsinnig liebt und Verluste erleidetet, erduldet, erduldet und erduldet, bleibt für mich auch nur die alte Mär vom ungeliebten Findelkind, die des dummen Glücklichen. Everybody knows, never go full retard.

Dann lest lieber nochmal Die Sprache der Vögel (s.o.).

391 Bonsai – Alejandro Zambra
Eine kleine andersartige Liebesgeschichte, nicht Seethaler, sondern so wie der es gerne könnte. Alejandro Zambra, ein junger Chilene, schreibt einen Kurzroman über die zwei Studenten verbindende Leidenschaft für Literatur und die schier unerschöpfliche Liebe eines jungen Mannes zu einer Frau über den Tod hinaus. Kein Kitsch, kein Schmalz, kein Wort zuviel, kein Seethaler. Leicht, sexy, wunderschön, traurig – gut!

Julios und Emilias Eigenheiten waren nicht nur sexueller Natur (obwohl auch dieser), nicht nur emotionaler (dies zur Genüge), sondern gewissenmaßen auch literarischer. In einer besonders glücklichen Nacht las Julio zum Spaß ein Gedicht von Rubén Darío vor, das Emilia vorspielte und banalisierte, bis ein buchstäblich sexuelles Gedicht daraus geworden war, ein explizit sexuelles Gedicht samt Schreien und Orgasmen. Von da an wurde eine Gewohnheit daraus, aus diesem lauten – leisen – Lesen jede Nacht vor dem Vögeln.

288Der gute Deutsche – Christian Bommarius
Dunkle deutsche Geschichte zu Beginn und Abschluss des Monats. In der Kolonialzeit haben sich die wenigsten westlichen Staaten mit Ruhm bekleckert. Über die Historie des deutschen Reichs aus diesem Kapitel, weiß man aus der Schule zumeist nur, dass wir zu spät kamen, Wilhelm II. im Wettlauf um wichtige Rohstoffe versagt hat und aus der Kompensation und den Verwicklungen der Erste Weltkrieg (mit-)entstand. Wie widerwärtig man sich aber vor 100 Jahren, vor nur vier Generationen, im Namen Deutschlands in Afrika ausgetobt hat, wird meist verschwiegen.

Grundlage der Bewirtschaftung Afrikas durch unsere Vorfahren waren Verhandlungen, die in etwa so zusammengefasst werden können: Euer Hwg. melde ich ganz gehorsamst, dass das Dorf Maomu abgebrannt ist. Die Einwohner waren vorher aufgefordert, mit mir zu verhandeln. Sie liefen jedoch fort und waren trotz Versprechungen und Drohungen nicht dazu zu bewegen zur Unterredung zu kommen. Da sie den Pflanzungsleiter Rehbein an seiner Plantagenarbeit hindern, keine Arbeiter stellen und sich auch sonst widersetzlich zeigen, brannte ich darauf hin das Dorf ab. Diese Vorgehensweisen sind heute nur noch von Hausverwaltungen in Hamburg und München oder bei Mobifunkanbietern üblich, stehen einer Nation, die auszog das glorreiche deutsche Rechtssystem als Segen in “unkultivierte” Länder zu bringen, aber sehr schlecht zu Gesicht.

Eine Geschichte über persönliche Bereicherung an Schwachen, Vertragsbrüche der verlogenen Rechtshüter und -bringer mit dem Tiefpunkt der Hinrichtung eines der Enkel des Königs, der sich mit den Deutschen eingelassen hatte. Zur Aufarbeitung leicht übersehener deutscher Geschichte unbedingt zu empfehlen.

Hier begegnet uns übrigens auch ein alter Bekannter: Józef Teodor Nalecz Konrad Korzeniowski, klar der schrieb besser als Bommarius, der war aber auch Joseph Conrad. Eine andere Art sich dieser Zeit zu nähern daher natürlich dessen Herz der Finsternis.

Über die Natur der Dinge

Mein Patenkind ist sehr alt, hat aber ein anmutiges Äußeres.

Die Leipziger Buchmesse hat dieses Jahr Blogger eingeladen die Verleihung des Preises ebendieser zu begleiten. Hierzu wurden per Aufruf Paten gesucht, die jeder eines der insgesamt 15 Nominierten (je 3x fünf Bücher aus den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzung) unter ihre Fittiche nehmen sollten. Die Wahl der Jury fiel auch auf mich und man band mir diesen 2000 Jahre alten Schinken ans Bein. Wehe dem, der sich Klassiker auf die Fahnen schreibt.

Weniger schrecken mich Umfang oder Sprache als die Schwierigkeit einem philosophischen Werk mit derartigem Ruf gerecht zu werden. Entgegen meines eigentlichen Vorhabens mich erst mit massig Sekundärliteratur auszurüsten und vorzuinformieren, nehme ich mir Über die Natur der Dinge in der Neuübersetzung von Klaus Binder erschienen bei Galiani Berlin ohne Einarbeitungsphase vor.

Doch man wird zum Glück nicht direkt in den Text gestoßen, sondern von Stephen Greenblatt kurz aber informativ in das Werk eingeführt, Klaus Binder erklärt vor dem Start noch warum Lukrez lesen und wie, dann kann es losgehen. Vorwort und Kommentare regen immer wieder, der Leser solle sich auf den Text einlassen. Also hinein.

In medias res

Lukrez schreibt an und für Gaius Memmius, den Spross einer alten römischen Aristokratenfamilie und legt ihm in sechs Büchern seine stark an Epikur angelehnte Philosophie dar. Er beginnt mit den Urelementen und erklärt den Aufbau der Welt: Atome und Leere, sonst nichts. Anhand von vier Lehrsätzen wird die Basis des Verständnisses des Buches und der gesamten Philosophie Lukrez‘ in nuce dargelegt.

  • Aus Nichts entsteht nichts.
  • Alle Materie besteht aus kleinen Partikeln.
  • Gibt es Körper, muss es auch Leere geben.
  • Eigenschaften und Ereignisse, beide sind von Körpern nicht zu lösen.

Dem Du des Lesers dröselt Lukrez geduldig die Lehre Epikurs auf und legt dar: Das Universum besteht aus Atomen und Leere – das war’s. Es gibt keine mysteriösen, religiösen Urkräfte, die geschaffen haben. Obwohl Lukrez wohl an die Existenz von Göttern geglaubt hat, sprach er ihnen sämtlichen Einfluss auf die Gestaltung der Welt ab. Gott ist zwar nicht tot, aber er kann nichts. Nach Beweis der Grundlagen seiner Philosophie zerlegt er noch schnell etwaige andere Ansichten von Heraklit und Genossen, Empedokles und Anaxagoras und schreitet in großen Schritten voran die Welt bis ins Kleinste zu entschlüsseln.

Bereits auf den ersten Seiten wird klar, dass vor zweitausend Jahren ein Mensch gelebt hat, der viele Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft vorausgeahnt hat, sogar die Grundzüge des Darwinismus hat Lukrez vorweggenommen, denn seiner Ansicht nach entstand der Mensch nur als Ergebnis des sich immer wieder paarenden Zufalls, der Verbindung der Urelemente. Erschreckend und erstaunlich in wie viel der Autor “einfach” richtig lag. Und doch ist Lukrez vielmehr Denker als Prophet. In den folgenden Büchern werden Seele und Sinne, Liebe und Tod, Natur- und Menschengeschichte, das Werden der Welt und ihre Vergänglichkeit erörtert.

Weil der Autor seinen Adressaten duzt, fühlt sich der Leser immer wieder direkt angesprochen und sich so in den Text einbezogen. Die reichen Kommentare Binders zu Wirkungsgeschichte, Übersetzung, Hintergrund, Geschichte und Rezeption vermitteln das Gefühl der Übersetzer würde in Dialog mit dem Leser treten, als würde man das Werk gemeinsam erschließen.

Gott ist zwar nicht tot, aber er kann nichts

Es gibt wenig was so früh der christlichen Schöpfungsgeschichte derart zuwider gelaufen ist und damit lässt sich auch der Hass Vieler über Jahrhunderte und -tausende erklären, den Lukrez auf sich zog. Ein Gott ohne Macht kann auch keine Angst erzeugen, das Geschäft der Kirche bis in die Neuzeit hinein beruht(e) aber auf dem Schüren von Ängsten – ohne Gott, Teufel und Fegefeuer auch schlechter Absatz von Ablass.

Die zwangsläufigen Gegner des Philosophen versuchten sein Werk zu vernichten und attestierten ihm eine Geisteskrankheit. Im Mittelalter war Lukrez‘ daher nahezu vergessen, bis Poggio Bracciolini 1417 in einem deutschen Kloster die letzte erhaltene Abschrift von De rerum natura entdeckte und die Leser und Bewunderer über Jahrhunderte Namen wie Montaigne, Marx und   Diderot trugen. Einstein schrieb für die Übersetzung Diehls das Vorwort, die Übersetzung durch von Knebel wurde von Goethe angeregt. Die Gründe für die Wiederentdeckung und hymnische Verehrung nennt Greenblatt im Vorwort: die leidenschaftliche Kraft des lukrezschen Denkens, die ungeheure Sprachgewalt seiner Dichtung, ihre wunderbaren Metaphern, ihre stilistische Raffinesse, machten es schier unmöglich, diesen Text einfach zu übergehen.

Ein Lehrgedicht in Prosa.

Eigentlich wollte ich mir den Spaß gönnen, mein seit zehn Jahren nicht, außer zum Hinweis auf meine mangelnden Mathekenntnisse (iudex non calculat), genutztes Latein zu prüfen. Aber bereits der Anfang der von mir erwählten Stelle lässt mich zurückschrecken:

Tum porro quoniam est extremum quodque cacumen
corporis illius, quod nostri cernere sensus
iam nequeunt, id ni mirum sine partibus extat
et minima constat natura nec fuit umquam

Statt mich im Internet bloßzustellen, lasse ich den Google Übersetzer ran, der zumindest die Vokabeln alle kennt:

Dann ist wieder, daß das Ende jedes Gipfels
dieses Körpers, zu sehen, welche der Sinn ist unser
, die sich nicht mehr, die nicht die überraschende Teil war ragt ohne
und er zu den kleinsten der Natur war zu keinem Zeitpunkt ist offensichtlich,

Bereits die Kommasetzung ist eigen, der Text natürlich, wenig überraschend, unverständlich. (Besondere Freude bereitet es übrigens, wenn man Google den Originaltext mit italienischem Akzent vortragen lässt!) Es wird besser liest man eine richtige Übersetzung*:

Da nun ferner ein äußerster Punkt in jeglichem Körper
Da ist, den mit dem Auge wir keinesweges erfassen,
Muss unteilbar er sein, das Kleineste seiner Natur nach.
Niemals hat er besonders für sich als Körper bestanden,
Kann auch nie so bestehn, er ist ja selber des andern
Erster und letzter Teil: es reihen dann ähnliche Teilchen
Eins an das andre sich an und füllen, zusammen in einen
Dichten Haufen gedrängt, des Körpers ganze Natur aus.

Immer noch ziemlich kryptisch was Karl Ludwig von Knebel übersetzte, was Hermann Diel wie folgt verarbeitete:

Weil nun ein äußerster Punkt bei jenem Urelemente
Ist, das unseren Sinnen schon nicht mehr zu schauen vergönnt ist,
So kann dieser natürlich nicht weitere Teilchen besitzen,
Sondern ist schlechthin das Kleinste, das nie für sich hat bestanden
Als selbständiger Teil und nie als solcher bestehn wird.
Denn es ist selbst nur des anderen Teil, und zwar nur das eine
Erste, wie andere dann und andere ähnliche Teilchen
Dicht aneinander sich reihen, um so das Atom zu gestalten.

Beides natürlich viel gefälliger als Google oder ich das könnten, aber immer noch beschwerlich. Nun aber aufgepasst. Klaus Binder hat die Ehre:

Für jedes Urelement gibt es stets einen äußersten Punkt, den unsere Sinne längst nicht mehr wahrnehmen können, und dieser kann nicht mehr teilbar sein: Er ist tatsächlich das Allerkleinste. Diese Minima allerdings haben niemals als Ding selbstständig für sich bestanden, werden dies auch niemals tun, denn sie sind ja selbst uranfängliches, zugleich einheitliches Teil von etwas anderem.

Binder selbst spricht von einer Übertragung nicht von einer Übersetzung. Dies ist allein schon daher notwendig, da er die Lyrik in Prosa auflöst und zu dieser Entscheidung kann man nur gratulieren. Den Sprachfluss des Lateinischen Originals wird man zweitausend Jahre später nicht ins Deutsche übertragen können und die Transposition in eine verständliche, aber angemessene Prosasprache tut Werk und Inhalt spürbar gut. Schlussendlich verliert die Sprache Lukrez‘ nichts, sondern scheint vielmehr durch die poetisch, bildhafte Sprache Binders zu gewinnen.

Sieh nur genau hin, wenn die Sonne in einen dunklen Raum zu dringen vermag und ihr Licht in einzelnen Strahlen durch diesen sendet: Viele winzige Stäubchen wirst du sehen, wie sie sich im leeren, vom Licht hellen Raum mischen auf vielerlei Weise: Als lägen sie in endlosem Streit, kämpften pausenlos miteinander in immer neuen Verbänden, angetrieben zu immer neuer Verknüpfung und wieder Trennung. Dies mag dir eine Vorstellung davon geben, wie es sich verhält mit den Urelementen, die im leeren Raum in unaufhörlicher Bewegung begriffen sind.

In der Übersetzung Diels dagegen erkennt man zwar die Schönheit der Sprache, die Aussagekraft des Bildes, aber sie bleibt meiner Meinung nach hinter der Übertragung Binders zurück, der es schafft die Lesbarkeit zu steigern und trotzdem Fluss und Sprache zu erhalten.

Folgendes Gleichnis und Abbild der eben erwähnten Erscheinung
Schwebt uns immer vor Augen und drängt sich täglich dem Blick auf.
Laß in ein dunkeles Zimmer einmal die Strahlen der Sonne
Fallen durch irgendein Loch und betrachte dann näher den Lichtstrahl:
Du wirst dann in dem Strahl unzählige, winzige Stäubchen
Wimmeln sehn, die im Leeren sich mannigfach kreuzend vermischen,
Die wie in ewigem Kriege sich Schlachten und Kämpfe zu liefern
Rottenweise bemühen und keinen Moment sich verschnaufen.
Immer erregt sie der Drang zur Trennung wie zur Verbindung.
Daraus kannst du erschließen, wie jene Erscheinung sich abspielt,
Wenn sich der Urstoff stets im unendlichen Leeren beweget,
Insofern auch das Kleine von größeren Dingen ein Abbild
Geben und führen uns kann zu den Spuren der wahren Erkenntnis.

Und Binder selbst erklärt den Zauber in den wunderbaren Worten Lukrez lesen heißt, (wieder) lernen, sich solchem Taumel und Tanz [der Sprache] zu überlassen. Gibt aber zugleich zu bedenken, dass es sich nicht um Lektüre für Minuten handelt, denn dazu ist uns dieser Text wirklich zu fern, manches wissen wir trotz unserer historisch kaschierten Sinnlichkeit tatsächlich besser, vieles ist nicht für unsere Zeit geschrieben. […] Es geht einzig und allein um den Bewegungs-, den Vorstellungsraum, der sich öffnet, wenn man sich mit Lukrez auf die Reise begibt. Es geht um die Bilder, die uns beim Lesen auftauchen; es geht um lebenspraktische Schlüsse, die wir ziehen, mal von Leselust und ästhetischem Vergnügen angestoßen, dann auch erschreckt; es geht zuletzt darum, dass wir unseren Sinnen, ihren Affekten und Defekten, nicht mehr in jedem Augenblick allein mit Misstrauen oder, von unseren Fetischen geblendet, mit blinder Hingabe begegnen. Besser und treffender ist es nicht auszudrücken, wie beeindruckend sich die Lektüre dieses Wunderwerks auf den Leser auswirkt.

Schmier mir Honig auf den Becher

Ein Lob zuletzt auch dem Galiani Verlag, nicht nur für den verlegerischen Mut und das Vertrauen in Klaus Binder dieses Buch zu wagen, sondern auch für die hervorragende Ausstattung. Nur fehlt ein zweites Lesebändchen, Faulheit im Blättern verleitet doch sonst allzu häufig den umfangreichen Kommentar gar nicht gebührend zu nutzen.

Lasst euch auf Lukrez und Über die Natur der Dinge ein, Binder nimmt euch an die Hand: Ein Buch, das man nicht einfach liest, sondern durcharbeitet, ein Projekt, ein wunderschönes, immer wieder.

Liegt Ärzten am Herzen, Kindern bitteren Wermut zu geben, streichen sie um den Rand des Bechers süßen, gelb fließenden Honig, und die Arglosen, dazu gebracht, den Becher mit ihren Lippen zu berühren, trinken den herben Wermutsaft – getäuscht werden sie, doch nicht betrogen, denn so, durch dieses Mittel, finden sie erneut zu Kraft und Gesundheit. Das habe auch ich im Sinn. Herb erscheint auch unsere Lehre allen, denen sie nicht im Ganzen entfaltet wurde, zurückschrecken lässt sie das Volk. Darum mein Wunsch, dir meine Gedanken in wohlklingendem Gesang nahezubringen, gleichsam versüßt mit dem Honig der Musen. Möge es mir durch meine Verse gelingen, dich, deinen wachen Geist zu fesseln, bis du die Natur der Dinge im Ganzen erfasst hast und du sie vor die siehst in Form und Gestalt.

*Achtung: Die gewählten Stellen stimmen nicht haargenau überein. Ich habe die Zitate so gewählt, dass sich innerhalb desselben ein Sinn ergibt, so dass man die Sprache des Übersetzers erkennt. Das Zitat sollte in sich schlüssig sein und nicht (nur) zum 1:1 Vergleich dienen.

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Februar 2015

722Lebensstufen – Julian Barnes
Michael Maar hat eine hohe Meinung von Julian Barnes und ich eine hohe Meinung von Michael Maar, daher habe ich nach Als sie mich noch nicht kannte (naja, ok) nun auch das neuste Werk Lebensstufen gelesen. Die hymnischen (F.v. Lovenberg in der FAZ) oder völlig aussagefreien Besprechung kann ich nicht nachvollziehen. Die vorgeschaltete Geschichte der Ballonfahrt und der Liebe zwischen Fred Burnaby und Sarah Bernhardt taugt nicht mal als schön erzählte Parabel (für was? die Liebe?) und das anschließende Klagelied Barnes’ auf seine verstorbene Frau verkommt zu einer wehleidigen Selbstbetrachtung. Mir soll keiner vorwerfen ich sei ein gefühlloser Trampel, aber die Litanei auf die Verstorbene erscheint mir zum Teil derart intim, dass ich sie nicht lesen möchte und dann wieder derart alltäglich, dass sie für mich keinen Mehrwert hat. Ich will den Schmerz des Einzelnen nicht klein reden, und speziell nicht den von Julian Barnes, aber die Trauer hätte er mit sich und den ihm Nahestehenden ausmachen sollen, Geld sollte man nicht dafür bezahlen.

351Die jungen Leute – J.D. Salinger
Was hat J.D. noch in seinem Nachlass versteckt? Bis dieser gelüftet wird, müssen sich die Bewunderer mit dem Wenigen bisher Veröffentlichten begnügen. Hierzu gehören auch diese drei frühen Geschichten. Bereits aus diesen des damals noch sehr jungen Mannes lässt sich der spätere Star erahnen: in den Dialogen liest man seine Lakonie, dazu seine kurzen, aber detaillierten Beobachtungen. Ob man von einem anderen Autor diese drei sehr kurzen Stories veröffentlichen würde, wage ich zu bezweifeln, dieses 80 Seiten Büchlein – in schönem roten Leinen – ist für die Fans des scheuen Titanen aber ein Muss, das Nachwort von Thomas Glavinic eine informative Beigabe. Zum Einstieg dann aber doch lieber und immerwieder Der Fänger im Roggen.

347Jahre mit Ledig – Fritz J. Raddatz
Der Mann hatte einen Plan. Einen Tag vor dem Erscheinen dieses kleinen Büchleins, seines 40., stirbt Effjott in der Schweiz. Bedenkt man Zeitpunkt und Sterbeort wird es sich wohl, wie immer angekündigt, um begleiteten Suizid handeln. Somit handelt es sich bereits, vom Erscheinungstermin her, um die erste pousthume Veröffentlichung des Verlegers, Autors, Journalisten, Essayisten, Krawallbruders, Dandys und Unruhestifters – zwei fertige Bücher liegen noch bei seinem Nachlassverwalter.
Raddatz würdigt in Jahre mit Ledig einen seiner großen Förderer Heinrich Maria Ledig-Rowohlt. Viele Anekdoten kennt der geneigte Tagebuch- und Autobiographieleser bereits, aber nicht minder unterhaltsam als in den Vorwerken werden sie hier in einem wunderschönen, grünen Leinenbuch präsentiert. Blumig rauschend, elegisch schildert Raddatz wie eh und je, lobt sich und andere und nimmt mit in eine ferne Zeit im Nachkriegsdeutschland als das Büchermachen noch ein Abenteuer und Verleger noch Halunken und Schlitzohre waren.
FJR wird mir fehlen!

416Madame Bovary – Gustave Flaubert
Endlich habe ich die Neuübersetzung von Elisabeth Edl gelesen, diese verdient noch eine ausführliche Besprechung.

“Wenn ich schon etwas Neues anfange, dann richtig. Flaubert ist sozusagen der Nachkomme Stendhals, aber der Apfel ist weit vom Stamm gefallen, sprachlich und stilistisch. Außerdem hat sich bei mir auch so eine Art kleiner Größenwahn ausgebildet: Jetzt machst du die größten Romane Frankreichs neu – nach den zwei Hauptwerken Stendhals die zwei Hauptwerke Flauberts, „Madame Bovary“ und die „Éducation sentimentale“. Danach sehen wir weiter, ich habe keine Angst, dass mir der Stoff ausgeht.” Elisabeth Edl 2012 in der FAZ.

372Vor den Vätern streben die Söhne – Thomas Brasch
Siebzig Jahre wäre Brasch im Februar geworden. Als Hommage an den fast vergessenen Autor beider Deutschlands habe ich mir daher diesen kleinen Roman vorgenommen, der nach seinem Erscheinen 1977 sofort zum Bestseller wurde. Brasch, der Filmemacher, Lyriker und – wie sein Freund und Grabredner Raddatz – Unruhestifter, schildert in kleinen teils verwobenen Miniaturen das Leben in der DDR. Eine völlig andere Sicht, gerade für mich als fast Nachwendekind. Brasch ist kraftvoll, zornig, zärtlich, anklagend und nachsichtig zugleich. Mit Sicherheit nichts für jeden, aber ein besonderes Zeitzeugnis eines Autors, der hoffentlich nicht vergessen wird.

646Astronauten – Sandra Gugic
Einen modernen unaufgesetzten Ton hat die Openmike-Preisträgerin Sandra Gugic. Wenige schaffen es jugendlich zu klingen ohne es mehr zu sein ohne sich anzubiedern. Eine ausführliche Rezension wird Saskia in der nächsten Zeit liefern: “Sechs sehr unterschiedliche Menschen erzählen im Debütroman von Sandra Gugic von sich selbst, und allmählich enthüllt sich, wie ihre Wege sich überschneiden, wie sie Vertrauen fassen, es enttäuschen und doch aneinander hängen – wie sie ihre Maßnahmen gegen die Kälte der Welt treffen.” Guter Erstling bei C.H.Beck (s.u.).

060Arbeit und Struktur – Wolfgang Herrndorf
Nicht gelesen, aber gehört und immer noch wunderschön und furchtbar traurig, kraftvoll, erschüttern, lebensbejahend und verzweifelt.

“Wie ehrlich und detailliert Herrndorf seine depressiven und wahnhaften Phasen beschreibt, als hätte ein anderer als er selbst diese erlebt, gnadenlose Analysen, die immer eindringlicher werden, wenn man die gespielte Distanz aufbricht indem man sich erneut vor Augen führt, das Herrndorf über sich schreibt. Der Schmerz, den er durch literarischen Abstand zu verbergen sucht und doch offen zugibt.”

549KL, Gespräch über die Unsterblichkeit – John von Düffel
Was soll ich denn hiermit anfangen? In fiktiven Interviews und Begegnungen trifft der namenlose Journalist und Philosoph, unter anderem und vor allem den Modeschöpfer KL, aber auch das moderierende Vollweib BS oder ein Heide Simonis Double. Was als schöne Idee, nämlich das gänzlich andere Interview und Porträt von Prominenten, die sonst nur die üblichen Fragen beantworten, beginnt, verläuft ohne jeglichen Unterhaltungswert im Nichts, auch lernen tue ich nichts. Das Stärkste an diesem Buch ist die Idee für das Cover, zu Ende gelesen habe ich es nur, weil es so wenige Seiten hatte und ich immer noch auf einen Knackpunkt gewartet habe, der aber am Ende leider ausblieb.

665Das Monster von Neuhausen – Ernst Augustin
Zusammen mit von Düffel und Julian Barnes streitet sich Ernst Augustin um den Titel Die größte Zeitverschwendung des Monats. Ein Patient unterzieht sich einer Operation, die missglückt. Der zur Rechenschaft gezogene Chirurg streitet alles ab und belastet seinerseits die Gegenseite, bloß zu simulieren. Im Buch selbst wird auf knapp 110 Seiten aus Sicht des Verteidigers der Prozess gegen den sich rächenden Patienten ausgebreitet. Doch was Ernst Augustin hier lamentiert ist bei keinem Gericht in Deutschland üblich, hat keinen Witz, keine Sprache, keine Story und nicht mal eine literarische Form. Warum C.H.Beck so etwas verlegt, wenn sie eine Gugic (s.o.) verlegen können, ist mir ein Rätsel. Die Höchststrafe dieses Buch zu lesen.

130Alles ist jetzt – Julia Wolf
Ich bin befangen, mach du, sagt mir Saskia, die sich gar nicht mehr einkriegt über das Romandebüt ihrer Freundin und unserer 54stories-Autorin Julia. Ganz sicher die Überraschung des Monats, ausführlichere Rezension folgt auch hier.

Pressestimme für die 2. Auflage

Es gab da diesen Kerl, der bei mir im Blog kommentierte, ausführlich und klug. Also statte ich ihm einen Gegenbesuch ab und lernte Konrad Geyer kennen. Konrad wohnt im Süden Marokkos in einem Wohnwagen. Ausgestattet mit einem kleinen Erbe will er dort schreiben bis dieses aufgebraucht ist. Sein letzter Versuch, nach mehreren gescheiterten, ein Schriftsteller zu werden. Sein Leben und Schaffen beschreibt er nebenher im Blog.

Konrad kritisiert Thor Kunkel und eine Dame mit dem falschgeschriebenen Namen einer Hamburger Literaturprofessorin streitet sich daher mit ihm, Burkhard Spinnen (bis letztes Jahr Vorsitzender der Jury beim Bachmannpreis) antwortet persönlich (?) auf von Konrad veröffentlichte Kritik, es geht heiß her hier, auch weil Konrad munter trollt. Ich kehre häufig wieder und lese gerne die bissigen Beiträge, ich mag Konrad, obwohl er ein schwieriger Typ zu sein scheint.

Konrad Geyer ist Wolf Schmid

Aber dieser Konrad existiert gar nicht, schreibt mir Wolf Schmid als ich Konrad bitte bei Wie liest Du teilzunehmen. KG ist das Heteronym von WS. Ob ich denn seinen, Wolfs, Debütroman bei Erscheinen rezensieren wolle, fragt er. Ich schlucke den Schreck über Konrads Tod und Wolfs Leben hinunter und sage zu. Denn es gibt keine moralischen Bedenken für mich Wolfs Roman zu besprechen, ich kenne den Mann ja nicht, bin in meinem Urteil also völlig unvoreingenommen. Die Tatsache, dass Pedalpilot Doppel-Zwo einen merkwürdigen (im Sinne von komischen, im Sinne von irgendwie doofen) Titel hat und als erstes Buch überhaupt im Liesmich Verlag (was ist denn das für ein merkwürdiger Name?!) erscheint, würde mich normalerweise abschrecken, aber das bin ich Konrad schuldig, denke ich.

PEDALPILOT-COVER-Finale1-425x595Doch Ende des letzten Jahres erreicht mich ein handwerklich schön gearbeitetes Buch in Klappenbroschur, innerhalb des Umschlags findet sich eine Karte der Hamburger Innenstadt, das Cover ist schlicht-elegant-hübsch. Ein positiver Ersteindruck, hatte ich doch irgendwas in gedruckter Selfpublisher-Richtung erwartet, nur das Lesen muss noch warten. Zugegeben habe ich etwas, nicht Angst, aber Skepsis, dem Buch gegenüber. Fiktive (?) Stimmen von Fahrradkurieren auf dem Rücken preisen die Lektüre zwar an, doch was gebe ich auf deren Meinung, vor allem, wenn einer davon direkt zugibt eigentlich keine Bücher zu lesen. “Ein skurriler Roman über Fahrradkuriere in Hamburg..” – auf was habe ich mich da nur eingelassen. Also schiebe ich und schiebe, Wolf fragt inzwischen nach, ob das Buch denn überhaupt angekommen ist: ist es, ist es, liegt aber bis jetzt nur drohend neben meinem Bett.

Was soll ich diesem Mann sagen, der inzwischen auch auf 54stories einen Text veröffentlicht hat, den ich gar nicht übel, sondern ziemlich gut finde: Moin Wolf, irgendwie mag ich Dein Buch nicht lesen, Fahrradkuriere interessieren mich nicht, weiß nicht ob ich das mögen kann und Dir dann sagen, dass ich es nicht mag.

Dann aber liege ich im Bett und bin nicht müde, habe das letzte Buch abgeschlossen und beschließe in Pedalpilot Doppel-Zwo reinzulesen, schaden kann und wird es nicht. Eher kann ich einen Abbruch als gar keinen Anfang rechtfertigen. (Was gräme ich mich eigentlich so, kann mir doch egal sein, wenn mir sympathische Leute schlechte Bücher schreiben?)

Lieber ein Abbruch als kein Anfang

Fahrradkuriere, Titel, unbekannter Autor, unbekannter Verlag – alles egal, 50 Seiten später bin ich noch nicht müde, es tritt ein was ich nicht für möglich hielt, ich lese dieses Buch und eine Last fällt von mir, denn es ist gut! In einem Rutsch, nur durchbrochen von Schlaf und Arbeit, lese ich Pedalpilot Doppel-Zwo.

Walter bat ihn zu warten, packte einen letzten Karton auf die Karre, schloss den linken Türflügel und fragte Thommy, ob er denn schon einmal in Hamburg gewesen war. “Selbstverständlich. Beim König der Löwen. Muss man gesehen haben”, sagte Thommy und verpasste dem Türflügel einen Stoß.

Walter ist Paketfahrer und nie aus dem kleinen Ort der Schwäbischen Alb herausgekommen, seine Frau ist auf der Suche nach Freiheit und Geld mit einem schmierigen Vertretertypen durchgebrannt und sein Sohn schlägt sich in Hamburg durch. Als er in Rente geht, will er diesen endlich mal in Hamburg besuchen. Doch Vater will eigentlich gar nicht in Rente, schon gar nicht verreisen, er ist scheu, etwas feige und eigenbrödlerisch und der Sohn Johannes will an sich keinen Besuch, will dem Vater und sich sein auf der Stelletreten nicht eingestehen. Statt Höhenflügen in der Großstadt hält er sich immer noch als Fahrradkurier über Wasser, träumt wie der Vater von der Liebe einer seiner Kundinnen.

Doch just in der Zeit in der Walter Johannes besucht, hat dieser einen Fahrradunfall und Vater muss einspringen, um dem Filius den Job und die Existenz zu erhalten. Die Voraussetzungen eines Rentners ohne Ortskenntnisse, ohne wirkliche Einarbeitungszeit sind denkbar schlecht doch Walter schlägt sich beachtlich und er verdient sich Stück für Stück den Respekt von Kollegen und Konkurrenz, während Vater und Sohn sich das erste Mal seit Jahren wieder annähern und beider Leben Struktur erhält. Und dann ist da noch Maga, die Schönheit vom Empfangstresen des chicen Büros in der Innenstadt, die sich noch ziert mit Johannes eine Beziehung einzugehen.

Parallelen

Ganz anders als vermutet, finde ich in Pedalpilot Doppel-Zwo sehr viele Stellen mit persönlichem Bezug. Während meines Zivildienstes habe ich viel Tommy Jaud und Oliver Uschmann gelesen, leichte Unterhaltung mit Humor und männlichen Hauptfiguren mit Lebens- und Frauenproblemen, einer meiner Kollege war ehemaliger Fahrradkurier. Zwar bin ich noch nicht in dem Alter, in dem ich mich unbedingt wieder jung fühlen will, aber diese kleine Zeitreise gefällt mir. Dazu kommt für den Neu-Hanseaten Walters Entdeckungstour durch die Stadt mit Punkten zum Abhaken: Johannes wohnt in den Grindelhochhäusern, dort habe ich mir eine Wohnung angesehen, am Neuen Wall werden Sendungen abgeliefert, ich arbeite um die Ecke, im Bunker war ich erst gestern. Der Hamburger erkennt seine Stadt, ohne dass dies regionalkrimiesk mit dem Holzhammer eingearbeitet worden wäre.

Wolf schreibt locker, unterhaltsam und doch nicht oberflächlich. Die beiden Protagonisten sind sympathisch und ihre Geschichte solide konstruiert. Vielleicht ist es etwas zu offensichtlich, dass Vater und Sohn eine Logistikerfamilie sind, vielleicht ist Pedalpilot in manchen Stellen etwas zu vorhersehbar, aber dann gibt es wieder  Bilder wie  den Pacman spielenden Kurier auf der Suche nach der besten Route. Die Sprache Schmids ist insgesamt fast etwas zu gut für einen “bloßen” Unterhaltungsroman, denn dieser Debütant kann schreiben. Wolf ist Tommy Jaud in gut!

Was kann ich ihm und seinem Buch außer diesem vorwerfen? Zu kleine Schrift im Blog und einen komischen Titel, aber Pedalpilot Doppel-Zwo hat mir richtig Spaß gemacht und ich würde mich freuen, wenn das Buch trotz Debüt-Autor und -Verlag mehr Leser findet.

Seien wir großzügig, denn die Sendung erreichte mich noch 2014, für mich sind Wolf und sein Pedalpilot die Überraschung des Jahres! Dies ist keine fiktive Pressestimme; schreibt doch einfach “Tommy Jaud in gut” auf die Rückseite der zweiten Auflage. Marokko oder nicht, echte Kommentare im Kommentarblog oder nicht, Wolf, Konrad, Ihr bist ein Schriftsteller, endlich!

[Den Titel gibt es leider nicht bei ocelot. Dieses Buch ist das einzige, das ihr bei amazon bestellen dürft oder direkt beim Verlag.]