Print_Print-Tips 1/2006

Von Moritaten und Doppelgängern

Facts sind fein, Fiction ist besser: Saramagos "Doppelgänger" stechen "die spektakulärsten Mordfälle" aus, und Murakamis Romanwelten schlagen Max Goldts Zaubereien.    31.05.2006

 

Reinhard Ebner

Andreas & Regina Zeppelzauer - Mord. Die spektakulärsten Mordfälle Österreichs

V. F. Sammler (Graz 2005)


Wenn zwei "News"-Journalisten die "spektakulärsten Mordfälle Österreichs" aufarbeiten, hat man schon vor der Lektüre so seine Erwartungen - die auch prompt erfüllt werden. Aber zumindest findet sich in vorliegendem Büchlein gelegentlich auch anderes als heiße Luft. So ist es nicht uninteressant, Moritaten-"Klassiker" vom Wiener Opernmord bis zu den Meuchlern aus der heimischen Filmemacher-Riege in der jüngeren Vergangenheit Revue passieren zu lassen. Die forcierte Oberflächlichkeit ärgert dann aber doch über die Maßen. Was ist von einem sogenannten "Interview" mit Elfriede Blauensteiner zu halten, in dem einer Massenmörderin besorgte Fragen gestellt werden wie "Geht es Ihnen gut hier im Spital?" und "Wovon träumen Sie noch?" Klar, daß das armselige, als "Schwarze Witwe" titulierte Persönchen das gebotene Podium dankbar für seine ekelhafte Selbstdarstellung nützt. Dazu paßt dann auch die da und dort im Buch aufblitzende Kritik am Rechtssystem, die von der Sorge bestimmt zu sein scheint, ein Bösewicht könnte zu früh wieder rauskommen (als Recherche-Quelle ist übrigens unter anderem "täglich alles" angegeben). Die Lektüre hinterläßt einen schalen Geschmack: Alle Gefühle sind geheuchelt, die Empathie bloß lüsternes Gehechel. Es gibt wesentlich Besseres im "True Crime"-Sektor.

 

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Michael Marrak - Morphogenesis

Lübbe (Bergisch Gladbach 2005)


Mit "Imagon" hat der deutsche Autor vor einigen Jahren einen geradezu erstaunlichen, durch und durch stimmigen Fantasy-Horror-Roman geliefert, der das Grauen mit wissenschaftlicher Genauigkeit schildert. Ein Lehrstück - schließlich gilt: Je abstruser das Geschehen, desto realistischer muß dessen Schilderung ausfallen, damit es beim Leser ankommt. Inzwischen ist der Mann offenbar noch ein ganzes Stück gescheiter geworden (zugegebenermaßen handelt es sich bei "Morphogenesis" um eine erweiterte Fassung eines noch vor "Imagon" publizierten Romans Marraks): Wer etwas mit Kapiteltiteln wie "Nekropalladium" oder "Lazarium" anfangen kann, möge sich melden.

Das Handlungsgerüst, das sich hinter diesen Latinismen verbirgt, vermischt eine - sagen wir einmal - Drogenphantasie mit mythischen und mythologischen Elementen: In der Libyschen Wüste wird eine sechsseitige Pyramide entdeckt, die das Tor zum ägyptischen Totenreich (und einigem mehr) öffnet. Angetrieben wird das Werkel zu allem Überfluß von einer geheimnisvollen, unterirdischen Maschine. Die Art und Weise, wie Marrak kenntnisreich (fiktive) vorägyptische Kultur und Mythologie aus dem Handgelenk schüttelt, zeigt einmal mehr: Dieser Autor hat eine Ahnung davon, was er tut. Ab und zu würde es vielleicht nicht schaden, auch an den armen, dummen Leser zu denken, anstatt klassisches Bildungsbürgertum in Szene zu setzen. Dennoch ist und bleibt Michael Marrak ein Lichtblick in einem Genre, in dem man vor Dreck und Schund oft die Hand nicht mehr vor Augen sieht.

 

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Max Goldt - Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens

Rowohlt (Reinbek 2006)


Ein neues Buch von Max Goldt ist besser als kein neues Buch von Max Goldt. Der ehemalige "Titanic"-Autor ist das Beste, das der aus der Art geschlagenen Gattung der sinnfreien Kolumne passieren konnte. Wer erfreute sich nicht an Titeln wie "Besser als Halme: Blutmagen grob", Erfindungen abwegiger Hobbys wie dem "Sammeln mehrfach überbelegter Mehrfachsteckdosen" und einem assoziativen Bewußtseinsstrom, dessen Bock- und Rösselsprüngen unmöglich zu folgen ist? Kein anderer Autor - vielleicht mit Ausnahme von Thomas Kapielski - verursacht solch nachhaltige Lachkrämpfe wie Goldt in "Ä" oder "Quitten für die Menschheit" (einige ältere Texte finden sich hier).

"Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens", das Prosa und Szenen der Jahre 2002 bis 2004 versammelt, beschert im Gegensatz zu mancher Vorgängerpublikation zwar keine konvulsivischen Zuckungen, zeigt aber dennoch den alten "Titanic"-Goldt mit seinem Sinn fürs Absurde. Und wo er´s nicht auf Anhieb findet, dort sorgt er selbst dafür, daß die Dinge angenehm aus dem Ruder laufen. Nichts zum seitlich dran Vorbeilesen; zum seitlich dran Vorbeigehen rät der Autor indes im Fall der jährlich wiederkehrenden Sperrholz-, Kitsch- und Punschorgien namens Weihnachtsmarkt - was "dank guter baupolizeilicher Bestimmungen" möglich sein sollte.

 

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José Saramago - Der Doppelgänger

Rowohlt (Reinbek 2006)


Der Portugiese José Saramago ist kein Mann fürs Plakative und Laute. Ein einziger, gleichmäßiger Erzählstrom - kaum unterbrochen von Absätzen oder echten Dialogen und sparsam in der Interpunktion - trägt den Leser durch die nahezu 400 Seiten des "Doppelgängers". Wer sich darauf einläßt, erfährt eine Geschichte, die dem seit der deutschen Romantik vermeintlich ausgelutschten Doppelgänger-Motiv völlig neue Facetten abgewinnt und ohne Penetranz eine Parabel über Identität und Individualität erzählt. Und jeglichem Romantizismus ist ohnehin Saramagos ironischer, ab- und ausschweifender sowie sich ständig selbst verbessernder Stil vor. Zur Handlung: Ein an Gefühlen und Erfahrungen armer Geschichtslehrer macht eine Entdeckung, die sein in geordneten Bahnen verlaufendes Leben aus dem Gleis wirft. In einer bedeutungslosen Nebenrolle eines noch bedeutungsloseren Films entdeckt er einen Schauspieler, der sein exaktes Ebenbild zu sein scheint. Er beginnt nachzuforschen, und je mehr er über seinen Doppelgänger erfährt, desto deutlicher stellt sich heraus, daß es sich um wesentlich mehr als eine bloß zufällige Übereinstimmung handelt. Wer ist hier nun das Orginal, wer die Kopie? Und was ist vorzuziehen: eine Existenz als Kopie eines Nebendarstellers oder als Original eines ambitions- und illusionslosen Geschichtslehrers? Die Geschichten der beiden verbinden sich, die Erzählung gewinnt an Drive, und am Ende ist der Mann weder das eine noch das andere. "Der Doppelgänger" bietet einen packenden Plot mit Elementen einer Ermittlungsgeschichte und defekten Figuren, die ans absurde Theater erinnern. Durch die Tatsache, daß Saramago 1998 einen Nobelpreis eingesackt hat (der in jüngster Vergangenheit ja oftmals für gediegene Langeweile bürgte), sollte man sich keinesfalls von der Lektüre abhalten lassen.

 

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Haruki Murakami - Kafka am Strand

Btb (München 2006)


So unterschiedlich Haruki Murakamis Romane im einzelnen sein mögen (obwohl, bei näherer Betrachtung sind sie dies wohl gar nicht), eines haben sie stets gemeinsam: Ein sich über Hunderte Seiten erstreckender Handlungsstrang - und manchmal sind es auch mehrere - folgt keiner erkennbaren Logik. Spuren werden gelegt und wieder verlegt, Figuren werden entworfen und anschließend verworfen. Das ist offenbar weniger beabsichtigt als eine Folge der Arbeitsmethode. Wie Murakami einmal bekannte, gibt es keinen Bauplan für seine Roman-Ungetüme, stattdessen läßt er sich von Einfällen und Launen treiben. Was bei jedem anderen Autor in die Hose gehen würde, sorgt bei diesem für stimmige Textgewebe traumartiger Qualität und mit hohem Suchtpotential.

Im Fall von "Kafka am Strand" finden die beiden zu Beginn ausgelegten Handlungsstränge gegen Ende immerhin zusammen - zumindest ein Zugeständnis an traditionelle Romankonstruktionen. Der eine Strang widmet sich einem 15jährigen Jungen, der sich Kafka (tschechisch für "Krähe") nennt und von zu Hause ausgerissen ist. Auf den Fersen ist ihm ein Fluch, der nicht zufällig an jenen des Ödipus erinnert. Er findet Zuflucht in einer Bibliothek, an einem Ort also, an dem sich Vergangenheit und Zukunft, Phantasiewelt und Realität kreuzen. Die zweite Story folgt dem geistesschwachen "Katzenflüsterer" Nakata, der bei Gelegenheit schon mal Blutegel vom Himmel regnen läßt, auf einer Art Roadmovie. Wie die beiden Ebenen zusammenhängen? Ja, das ist wiederum - wie so vieles bei Murakami - nicht so einfach zu erklären ...

 

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Arno Grünberg - Der Vogel ist krank

Diogenes (Zürich 2006)


Andere haben Katzen, Kinder und einen Garten, der 35jährige Arnon Grünberg spart sich solch zeitraubende Beschäftigungen und schreibt lieber ein, zwei Bücher im Jahr. Und vermutlich auch, weil Verlage solche Produktivität aus vermarktungstechnischen Gründen nicht allzu gern sehen, hat er sich das Pseudonym Marek van der Jagt zugelegt. Der Stil ist ähnlich, wobei van der Jagt ("Amour fou") der leichteren Muse zuzurechnen ist.

Grünbergs "Der Vogel ist krank" wäre somit ein Werk der schweren Muse - und von Schwermut, die sich als Phlegma tarnt, wird Christian Beck, einst Schriftsteller auf dem besten Wege zur Oberliga und nun Übersetzer von Gebrauchsanweisungen, tatsächlich geplagt. Aus der Lethargie scheint ihn zunächst nicht einmal die tödliche Erkrankung der Lebensgefährtin, die er liebevoll "Vogel" nennt, zu reißen. Erst als diese heiraten will, und zwar nicht ihn, sondern eine Zufallsbekanntschaft, geht ihm auf, daß in seinem Leben einiges schiefgelaufen ist. Seine von Zynismus und Exzessen geprägte Vergangenheit holt ihn ein und den wehleidigen und selbstbezogenen Mann aus seiner Erstarrung. Das klingt tragisch, ist aber tatsächlich auch komisch. Die Komik liegt bei Grünberg in den Figuren, die ihr abgedrehtes Verhalten für das Normalste der Welt halten – spießbürgerliche Exzentriker, die am Abgrund stehen.

 

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