01.07.2012 · Reifungsprozesse lassen sich nicht auf dem Reißbrett beschleunigen. Deshalb gibt es längst eine Gegenbewegung zur Beschleunigungsrhetorik des Turbo-Abiturs. Politiker wären gut beraten, dem Trend zu folgen und sich die Schulen in Ruhe entwickeln zu lassen.
Von Heike SchmollNichts hat die Gemüter der Gymnasialeltern in den letzten Jahren so erhitzt wie das Turbo-Abitur oder G8: Überbordende Stundenpläne, zu lange Schultage, die selbstverständliche Erwartung der Lehrer auf elterliche Unterstützung bei Übung und Wiederholung, die in der Schule zu kurz kommen, zu wenig Zeit für Orchester, Sport, privaten Musikunterricht und Freundschaften. Die G8-Befürworter indessen verweisen auf andere europäische Länder und den Osten der Republik, wo das Abitur nach zwölf Jahren selbstverständlich ist.
In der Tat fällt es den neuen Ländern leichter, das G8 in Anknüpfung an die curriculare Tradition der DDR und die Erweiterte Oberschule fortzuführen. Umgekehrt gibt es im Westen eine gewachsene Lern- und Lehrgewohnheit mit einer inneren Logik dreier jeweils dreijähriger Entwicklungsschritte. Drei Jahre sollten die Schüler in die weiterführende Schule hineinfinden, drei Jahre die Pubertät durchleben und drei Jahre wissenschaftspropädeutisch arbeiten. Vor allem die Einübung in die Wissenschaft scheint im achtjährigen Gymnasium häufig zu kurz zu kommen. Denn Reifungsprozesse lassen sich nicht auf dem Reißbrett beschleunigen. 16 Jahre alte Jugendliche verfügen nicht über das Abstraktionsvermögen wie ein Jahr ältere. Das bestätigen auch Lehrer, obwohl sie die Schulzeitverkürzung weniger als Verschärfung wahrgenommen haben.
Die OECD-Propaganda, immer jüngere Abiturienten in die Ausbildung zu schicken und damit volkswirtschaftliche Gewinne einzufordern, hat die Bevölkerung mit späteren Einschulungen und dem Wunsch nach neunjähriger Gymnasialzeit beantwortet. Die Universitäten bekamen zunehmend 17 Jahre alte Abiturienten, die keine Unterschrift leisten konnten und studierberechtigt, aber deshalb noch lange nicht studierbefähigt waren. Allerdings war dafür nicht allein die Verkürzung der Schulzeit verantwortlich, sondern die ermäßigten Anforderungen in den neuen gymnasialen Prüfungsformaten. Mit einer Rückkehr zur neunjährigen Schulzeit werden solche Defizite nicht einfach ausgeglichen.
Zweifelsohne richtet sich die gesamte elterliche Unzufriedenheit mit Schulreformen, möglicherweise auch gymnasialen Ansprüchen an nicht immer gymnasialgeeignete Kinder, auf das achtjährige Gymnasium. Das G8 ist so sehr zu einer Glaubensfrage geworden, dass der hessische Ministerpräsident Bouffier die Debatte mit einer wahlkampftaktischen Bemerkung bei einem Landesparteitag neu zu entfachen vermochte.
Nirgendwo ist das G8 so parteipolitisch vereinnahmt wie in Hessen. Zwar wird es immer der jeweils regierenden oder unmittelbar zuvor regierenden Partei angelastet. Aber in Hessen klebt das G8 an den Sohlen der CDU wie ein lästiger Kaugummi, und SPD und Grüne schlagen daraus ihr Kapital. Dabei geht das G8 auf einen Beschluss der Kultusminister zurück, in dem 265 Stunden festgelegt und 12 Jahre empfohlen wurden. Die Politik hat den Schulen Zeit gestohlen und die Schulen mussten sehen, was sie daraus machten. Manche haben es geschafft, das G8 so klug zu organisieren, dass die Schüler nur einen Nachmittag in der Schule verbrachten, bezahlten dafür aber mit einer ganz reduzierten Leistungskursauswahl. Andere wollten das alte G9 in acht Jahren unterbringen und sind damit gescheitert, weil sich der Stoff vor allem in der Mittelstufe ballte.
Inzwischen ist das eherne Gesetz, in acht Jahren zum Abitur zu gelangen, in den meisten Ländern aufgeweicht worden. Schleswig-Holstein hat das acht- und neunstufige Gymnasium im Schulgesetz verankert, Baden-Württemberg genehmigt wieder Gymnasialzüge mit neun Jahren, Nordrhein-Westfalen macht ähnliche Angebote, Rheinland-Pfalz hat das neunjährige Gymnasium nie abgeschafft und erlaubt das achtjährige Gymnasium nur als Ganztagsschule und Hessen will den Gymnasien nun auch die Wahl zwischen acht und neun Jahren lassen.
Warum eigentlich nicht? Wenn Eltern, Lehrer und Schulleitung geschlossen dahinter stehen, spricht nichts dagegen, mit einem durchdachten Konzept und wenig Nachmittagsunterricht zum neunjährigen Gymnasium zurückzukehren. Die Schulen frei entscheiden zu lassen, hat einen schönen Nebeneffekt für die G8-Gymnasien, die dabei bleiben wollen. Stärker als bisher stünden sie unter Druck, das achtjährige Gymnasium so zu organisieren, dass ihnen die Schulklientel nicht abhanden kommt. Denn der Trend geht zum G9.
Der Einwand, dass es damit wieder zwei Güteklassen von Gymnasien gäbe, kann getrost vernachlässigt werden. Schon jetzt sind die Unterschiede zwischen den Gymnasien einer einzigen Stadt und noch mehr zwischen den Parallelklassen einer einzigen Schule so groß, dass es auf zweierlei Geschwindigkeiten nicht ankommt. Es wird ohnehin weiterhin achtjährige Gymnasien geben, die sehr gute Ergebnisse erreichen und auch neunjährige, die schlecht abschneiden. Studierfähigkeit ist weder im einen noch im anderen Fall garantiert. Jedenfalls wären Politiker gut beraten, sich die Schulen in Ruhe entwickeln zu lassen, anstatt Bildungsgänge weiter zu beschleunigen und Universitäten zu zwingen, Schulstoff nachzuholen. Zeit lässt sich damit sicher nicht gewinnen und Reife erst recht nicht.
Auch ohne G8
Klaus-Georg Günther (klagege)
- 01.07.2012, 20:54 Uhr
Heike Schmoll Jahrgang 1962, politische Korrespondentin in Berlin, zuständig für die „Bildungswelten“.
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