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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Lichtreflexionen im Ungefähren

Hamburg

Dieser Gedichtband hat es mir nicht leicht gemacht. Martina Webers Häuser, komplett aus Licht ist verstrickt: voller Leitmotive, Anspielungen, Szenenwechsel und selbstreferenzieller Kommentare, die um ein faszinierendes Thema kreisen – den Prozess des Erinnerns. Trotz anregender Momente hinterlassen diese Gedichte durch ihre vage-verstrickte Konstruktion bei mir hauptsächlich eine „sanfte Verwirrung“ (10), wie es in einem der Texte heißt. Eine Verwirrung, die am Ende nur bedingt produktiv wirkt. Wie kommt es zu diesem Eindruck?

Schon in Webers Debütband, erinnerungen an einen rohstoff (2013), tauchte die Erinnerung als Thema prominent im Titel auf. In Häuser, komplett aus Licht, ihrem zweiten Band, erscheint sie nun als das zentrale Thema. Sowohl Titel als auch Thema haben mich zunächst an Nadja Küchenmeisters Debütband Alle Lichter (2010) erinnert. Auch im Verständnis von Lyrik als einer Kunst der vielen kleinen Anspielungen scheint es mir eine Parallele zwischen beiden Autorinnen zu geben, wobei Küchenmeister im leisen Evozieren zu den Gefühlen eines deutlich umrissenen, melancholischen lyrischen Ichs neigt, während Weber zu einem komplexen Mix aus Gefühlen, Bildern und (Meta-)Reflexionen tendiert, die sich keinem einzelnen, klar konturierten lyrischen Ich zuordnen lassen. In der Form hören die Parallelen dann endgültig auf, da Küchenmeister tradierte Strophenformen (oft Terzinen) mit vielen syntaktischen Wiederholungen und Reimen verwendet, also eine klassisch und klanglich anmutende Lyrik schreibt, während bei Weber Block- und variabel gestaltete Strophenformen von unterschiedlich langen, rhythmisch freien Versen überwiegen, deren Ton im Allgemeinen nüchterner und technischer ist.

In der großen Dichte an Motiven in Webers Band – darunter Hunde, Regen, Nebel, (deutsch-französische) Grenzen, rauschende Bäume und Meere sowie das selbstreferenzielle Element der (nicht zu entziffernden) Schrift – fallen insbesondere zwei Leitmotive auf. Wie schon in ihrem Debütband und wie der Titel bereits verrät, spielt das Leitmotiv Licht eine omnipräsente Rolle und wird in einem ganzen Katalog an Phänomenen durchgeführt: „Flimmern“, „Lagerfeuer“, „Taschenlampe“, „Spotlight“, „Abendlicht“, „Doppelbelichtung“, „ausgeschüttetes Licht“, „pulsierendes Licht“, „flüsterndes Licht“ . . . in jedem Gedicht mindestens eine Nennung, so scheint das Konzept gewesen zu sein. Dabei geht es der Autorin vor allem um die assoziative Verknüpfung von Lichtreflexionen mit Erinnerungsfragmenten, oder, noch abstrakter formuliert, um die Relationen von (beleuchtetem) Raum und Zeit im Gedächtnis: „Landschaft aus geknickten Bäumen im Schwarzlicht. […] übereinandergeschichtete Zeit“ (15); „Die Zeit als Fläche betrachten, als Silberbelag, eine Spur ohne Schrift“ (30). Das titelgebende Konstruktionsprinzip eines Gedichtbands „komplett aus Licht“ führt dabei einerseits zu einer sehr engen Verknüpfung aller Gedichte, andererseits bringt es spätestens nach der Hälfte der 80 Seiten eine gewisse Monotonie mit sich. Die Eintönigkeit der sprachlich vermittelten visuellen Dauerreizung geht meinem Eindruck nach einher mit einer Vernachlässigung anderer Reize im Prozess des Erinnerns: Manchmal verknüpft Weber Erinnerungen auch noch mit dem Gehör, doch der gesamte Bereich von Geruchs-, Geschmacks- und Tast-Triggern fürs Gedächtnis – allerspätestens seit Marcel Prousts berühmter Madeleine-Szene in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit literarisch erschlossen – taucht kaum auf. So führt das Leitmotiv Licht auf die Dauer zu einer reduzierten Sinnlichkeit, einer gewissen Sterilität vieler von Webers Erinnerungsbildern bzw. Gedichten.

Bei diesem Übergewicht auf dem erinnernden Auge spielt auch das zweite dominante Leitmotiv des Bandes eine entscheidende Rolle: der Blick der Kamera. Begriffe aus Film- und Fotokunst wie Zoom, Zeitlupe, Zeitraffer, Filter, Schwenk, Filmriss usw. sind stetige Begleiter beim Lesen des Bandes und machen deutlich, dass es sich hier um durch und durch gefilterte, (re-)konstruierte, bearbeitete Erinnerungsbilder handelt. Das Kamera-Leitmotiv lässt sich wiederum direkt mit einem Zitat aus dem Essayfilm Sans Soleil (1981) des französischen Künstlers Chris Marker verknüpfen, das Weber ihrem Hauptkapitel programmatisch voranstellt: We do not remember, we rewrite memory, much as history is rewritten. Wie das Zitat andeutet, geht es in Markers Film darum, dass alle menschliche Wahrnehmung, ob mit bloßem Auge oder mit der Kamera aufgenommen, mit der Zeit durch das individuelle oder zeithistorische Bewusstsein verändert, verwischt und korrumpiert wird. So kommentierte etwa die ZEIT nach Erscheinen von Sans Soleil:

Chris Marker interessiert sich kaum für das Große und Ganze, aber im vermeintlich Banalen entdeckt er das Sublime, das Verschleierte, manchmal auch das Erschreckende. […] "Sans Soleil" […] ist das intime Tagebuch eines Bildersammlers, eines Fetischisten, der von der "magischen Funktion des Auges" spricht. Marker ist den Bildern verfallen, aber er traut ihnen nicht. Sie bleiben flüchtig, unbestimmt, manchmal auch schroff abweisend. Marker liebt die "Impermanenz der Dinge". Er sagt: "Die Poesie entsteht aus der Unsicherheit".1

Alle hier aufgeführten Charakteristika von Markers Filmkunst in Sans Soleil lassen sich auf Webers Häuser, komplett aus Licht übertragen: auch Webers Erinnerungsbilder speisen sich zumeist aus dem Banalen, bleiben flüchtig, unbestimmt, unsicher und manchmal in ihrer kryptischen Kürze abweisend. Hat man Markers Film gesehen, so wirkt Webers Band wie der Versuch einer Aktualisierung der gleichen Thematik unter Verwendung ähnlicher stilistischer Mittel, jedoch im Medium der Lyrik. Dies lässt sich auch an der Vielzahl an metapoetischen Passagen des Bandes ablesen, die das Unbestimmte, die Impermanenz der Dinge zum Hauptinteresse erklären:

„Absencen sind das Gipsmodell meines Denkens“ (15).

„Das war unsere Kunst: Wir definierten einander nicht“ (64). 

„Wie in den Bildern von Seurat / lösen sich die Personen in ihrer Umgebung auf“ (35).

„Es gibt eine Grenze […]. Es gibt keine Grenze, vielleicht“ (43).

Während es in Rilkes Malte Laurids Brigge noch sehr pathetisch heißt „Er war ein Dichter und haßte das Ungefähre“, konzipiert Martina Weber also ganz bewusst eine Dichtung des vielleicht, eine Dichtung des irgendwie: „Erinnerst du dich? An Licht, / das immer irgendwie fällt“ (54). Auf diese Art schafft sie weniger sinnlich-atmosphärische, welthaltige Räume, als dass sie ihre Leser*innen in einen homogenen, neblig postmodernen Projektionsraum schickt, in dem etwas da ist . . . „oder woanders, egal“ (46). Loop um Loop, Gedicht um Gedicht wiederholen sich die Motive, wiederholt sich die Vokabel „verschwommen“ oder eines ihrer vielen Synonyme; dabei kreist der Band konstant um seine eigene, filmisch-malerisch inspirierte, Konstruktion: „wieder und wieder die gleiche / Landschaft entworfen“ (72). Als Beispiel für das Durchexerzieren des Verschwommenen greife ich eine Strophe aus dem ersten Gedicht des Hauptkapitels heraus (vergleichbare Passagen lassen sich aber auf sehr vielen Seiten finden):

„Verwischte Bilder, eine zerknitterte Fotografie. Die Stiefel in der Endlos-
schleife des Regens zwischen Fingern zerronnen. Ich sah nicht mal Kopien
der Sterne, aber das ganze Geröll in den Wolken, die Brandung

oder die Brechung des Lichts“ (15).

Die Aktualisierung und Übersetzung des filmischen Erbes von Sans Soleil ins Lyrische gelingt in meinen Augen nur unbefriedigend, da Weber in der Auflösung der Erinnerungsgehalte hin zum Verschwommenen noch viel weiter geht als Marker – bis an die Grenze, an der die Faszination von lose assoziierten und anspielungsreich verwischten Bildern umschlägt in Beliebigkeit: Eine unterschwellige Liebesgeschichte läuft in allen Kapiteln von Webers Band irgendwie mit, Urlaubs- und Kriegserinnerungen bzw. Fotografien oder Filmaufnahmen sind irgendwie eingestreut, irgendwie geht es um Grenzüberschreitungen (von Deutschland nach Frankreich? Vom Möglichen zum Wirklichen? Oder umgekehrt?), aber Szenen und Stoffe materialisieren sich kaum jenseits des Skizzenhaften, Impliziten, Substanzlosen.

Es gibt Gegenbeispiele zu dieser Grundtendenz: einerseits (humorvolle) Momente welthaltiger Konkretion, z.B. wenn die von einer französischen Bäckerin selbstgemachten, per Google ins Deutsche übersetzten Glückskekse erinnert werden: „Wenn sie bei nächste Mal einen auto besteigen, wird wunder“ (34); andererseits auch Metaphern, die sich nicht in der Formel ‚verschwommen (re-)konstruiert‘ erschöpfen:

„Erinnerung ist eine Treppe von Escher:
Nichts ist logisch, aber alles dreht sich in einem Kreis, der
kein Kreis ist“ (25).

Metaphern, die das Erinnern als gespenstische Spiralbewegung ins Innere (ein Bild, das wiederum bereits in Chris Markers Film vorgeprägt ist) anschaulich machen:

„Loopingbahnen der Flieger,
endoskopische Tunnel, Geisterbahnfahrt“ (28).

Auch gibt es Gedichte, die interessante Fragen aufwerfen: zum Beispiel, inwiefern viele unserer Erinnerungen heute prinzipiell auf Wahrnehmungen ‚aus zweiter Hand‘, d.h. auf Folien aus Medien wie Film, Fotografie, Malerei usw. beruhen (vgl. 27, 29), oder ein Gedicht, das sich konjunktivisch in das Gedächtnis eines (bloß imaginierten?) Kindes eindenkt, bis am Ende die erwachsenen Wunschprojektionen als eben solche überführt werden (vgl. 44).   

Ebenso finden sich vereinzelt Gedichte, die kurz einen kohärenteren, nicht sofort wieder sprachlich oder szenisch ‚geschnittenen‘ Erfahrungsraum aufmachen, sodass Atmosphäre und Einprägsamkeit aufkommen können, wie in diesem Text über ein von der Reise erschöpftes lyrisches Ich vor einer abendlichen Hotel-Szenerie:

„Die Boulangerie hat geschlossen. Spotlight
auf den Baguetteautomaten. Eine leuchtende Fläche,
während die Nacht in Zeitzonen zerfällt“ (39).  

Der starke letzte Vers zeigt, dass Weber immer wieder semantisch vielschichtige und poetisch frische Formulierungen findet. Im obigen Beispiel deutet sich gleichzeitig aber an, dass diese einprägsamen Verse und Metaphern und Momente welthaltiger Konkretion meist sofort wieder umfasst – und für mein Empfinden erstickt – werden vom irrlichternden, alles zu einem Einheitsraum verwischenden Leitmotivgeflecht.

In Markers Film, der oft kurze, scheinbar unverbundene Schnitte nebeneinander stellt, gibt es auch viele längere Filmsequenzen, die ein ethnographisches, postkoloniales Interesse an Japan und Afrika sowie an deren kulturellem Umgang mit Geschichte und Erinnerung bekunden. So bekommt man in Sans Soleil einen anschaulichen Eindruck beider Länder, kommentiert von einer immer wieder kohärenten und kohärent reflektierenden Erzählstimme aus dem Off. Bei Martina Weber hingegen fehlen mir diese einheitsstiftenden Momente jenseits bloßer Motivverflechtung: Ich drifte in einem stetigen, anspielungsreich schwebenden Lesefluss, in dem das Einzelgedicht und die interessante Einzelbeobachtung gedanklich unverbunden untergehen. Hier gibt es keine Stimme, die mir die poetischen Schnitte immer wieder zu einem narrativen Teilganzen zusammenfügen würde, hier gibt es keine anhaltenden, kohärenten Reflexionen (über Erinnerung, über länderspezifische Eigenheiten, über Geschichte usw.). Statt kohärenten Gedankengängen, die sich aus den Gedichten heraus entwickeln würden, sind zwischen die Schleifen aus Motiven und Anspielungen bei Weber isolierte Reflexionsschnipsel eingestreut, die – derart lose angehängt und nicht weiter verfolgt – auf mich wirken wie esoterischere Kalendersprüche: „Intelligenz ist Intuition“ (65), „alles ist Energieübertragung“ (68), „Es ist so leicht, ins Paradies zu gelangen“ (35), „Es gibt keine Fehler“ (63), „Weil Freundschaft ein Zustand ist, in uns selbst“ (71), „Jede Antwort ist immer schon da“ (58).

So verlieren sich die gelungenen Ansätze von Häuser, komplett aus Licht in der verstrickten Konstruktion, diffundieren im irgendwie und vielleicht und egal von Webers bewusst vager, an der Grenze des Sag- und Erinnerbaren verorteten Sprache, ohne dass sie mein Leseinteresse aufrecht erhalten können. Während anfänglich noch Faszination für das Unbestimmte besteht, wird im Verlauf zu deutlich: „Es gibt kein Geheimnis“ (47) – jedenfalls keines, das über die komplizierte Selbstbezüglichkeit des Bandes und die Darstellung des Erinnerungsprozesses als verschwommen in die Welt hinausreichen würde. Während zu Beginn Parallelen zu Nadja Küchenmeisters Lyrik genannt wurden, lässt sich an diesem Punkt noch ergänzen, dass Martina Webers Interesse für das aktiv (Re-)Konstruierende in Wahrnehmung und Gedächtnis auch an Marion Poschmanns Lyrik denken lässt. Insbesondere denke ich an Poschmanns Band Geistersehen (2010), in dem dieses Themenfeld bereits im Titel (un-)greifbar wird und der mich nach der Lektüre ähnlich kritisch gestimmt zurückgelassen hat.

Lege ich den Band Webers zur Seite und versuche seine Nachwirkung auf den Punkt zu bringen, so bleiben vor allem zwei paradoxe Gesamteindrücke:  a) einerseits der einer etwas sterilen Über-Konstruiertheit;
b) andererseits der des beliebigen Verschwimmens, des schnellen Vergessens.  Der konstante Selbstkommentar in Häuser, komplett aus Licht – wiederum eine Tendenz, die Chris Marker in Sans Soleil vorgeprägt hat, von Weber jedoch ins Extrem geführt wird – scheint diese beiden Eindrücke tatsächlich vorwegzunehmen:

 a) „zusammenkopierte, / gestapelte Häuser […] eine exakt berechnete Streuung / künstlichen Lichts“ (68);
b) „Bilder gehen durch mich hindurch und lösen sich auf“ (70).

Abgesehen von den vereinzelt einprägsamen und zum Weiterdenken inspirierenden Momenten, bleibt mir somit von Martina Webers Lyrik vor dem inneren Auge: ein stetiger Lesefluss irrlichternder special effects im Ungefähren. Oder, um mit Worten des Bandes selbst zu schließen, die wiederum wie eine selbsterfüllende Prophezeiung erscheinen: „Wir hatten nicht wirklich Kontakt. Worte zerflossen wie Regenwasser […]“ (72).

  • 1. Hans-Christoph Blumenberg: „Die Welt als Fundsache. Ein unmöglicher Film: Essay, Tagebuch, Expeditionsbericht.“ DIE ZEIT (1983).
Martina Weber
Häuser, komplett aus Licht
Poetenladen
2019 · 88 Seiten · 17,80 Euro
ISBN:
978-3-948305-00-0

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