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Kritik

Zwei Richtungen

Hamburg

Mit Marzipan aus Marseille legt der Wiener Czernin Verlag einen recht umfangreichen Gedichtband des 1960 geborenen österreichischen Schriftstellers Christian Futscher vor. Knapp zweihundert Seiten Gedichttext, das ist schon erst einmal ein Klopper. Schön gestaltet mit einer bibliophilen Anmutung.

Man kann vielleicht sagen, dass sich grob zwei Richtungen in der Lyrik unterscheiden lassen, einerseits die artifizielle, die ihr Material gewissermaßen in einem künstlerischen Bergwerk abbaut, begutachtet und behaut, bis ein dem bildenden Dichter angemessen scheinendes skulpturales Kunstwerk entsteht, durchgebildet und nach allen Seiten geschlossen, und die andere, die ihr Material sozusagen aufsammelt und verklebt, auch mit Readymades arbeitet und Ränder zuweilen überstehen lässt.

Die ersteren sind Pounds und die zweiten Brautigans.

Ich möchte sie nicht gegeneinander ausspielen, denn mir liegen beide am Herzen und aus beiden ziehe ich Anregung und Freude.

Futscher jedenfalls gehört auf jeden Fall zur zweiten Gruppe. Und wie bei Brautigan finden sich auch bei Futscher immer wieder Haiku zwischen die Texte gestreut.

Einen Dichter aber gibt es, der zwischen beiden Richtungen  steht, unzuordenbar und solitär, von den Anhängern beider Richtungen gleichermaßen geschätzt, eine Art Gott der deutschsprachigen Dichtkunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Das ist Ernst Jandl, und Jandl hat seinen Auftritt auch in Futschers Gedicht:

Die Fußballer

 Sie spucken ständig aus
bekreuzigen sich …

Ich weiß nicht, ob Ernst Jandl
gern Fußball geschaut hat

Bestimmt können sich alle
an sein Gedicht erinnern
das ungefähr so geht

„vor einer kirche
bekreuzige ich mich
vor einem obstgarten
bezwetschkige ich mich“

Das ist nicht das ganze Gedicht
es ist auch falsch zitiert
jedenfalls denke ich Pfeife
oft an diese Zeilen
wenn ich Fußball schaue

An diesem Gedicht wird vielleicht etwas sichtbar, aus dem sich Futschers Lyrik speist: sie arbeitet mit Vorgefundenem, das kann Text, Gedanke, Sinneseindruck sein. Und das Vorgefundene verschränkt sich zuweilen mit Erinnerung und führt zuweilen zu einer Reflexion, manchmal aber verlässt sich der Text auch voll und ganz auf die Qualität des Entdeckten.

So zum Beispiel in einem Gedicht, das sich auf die Kombination eines Zitats aus Bruno Schulz' Zimtläden mit dessen Lebensdaten stützt. Ein Wirklichkeitsausschnitt, der eine enorme Wirkung entfaltet. Geschichte und Wissen um die Geschichte drängen hier auf engsten Raum zusammen, kristallisieren sich im Zitat.

In anderen Gedichten werden weniger dramatische Wirklichkeitsausschnitte gegen das Leben des lyrischen Ichs gelehnt, das sich in humorvoller Distanz damit gewissermaßen selbst dekonstruiert. Oder Alltagsmomente, die an sich im Grunde gar nichts Dramatisches haben, werden durch ihr Ausstellen dramatisiert. Das kann zuweilen dann schon einmal zu weit gehen und albern sein, wie bei einem Text, in dem Paris Hilton eine Rolle spielt, und der es aus irgend einem Grund auf das Cover des Buches geschafft hat. Als Deus ex machina taucht dann manchmal die Gattin des Dichtenden Gottes auf und droht mit Ohrfeigen. Die klassische Zeus/Hera Konstellation in einer österreichischen Gegenwart.

In den melancholischen Texten geht es um das eigene Altern. Zum Beispiel im Blick auf den heranwachsenden Sohn. Es mag sein, dass mir die eigene biographische Nähe Futschers Texte so eindringlich macht. Aber eindringlich sind sie nicht alle in gleichem Maß. Manche gehen mir doch zu schnell vorüber.

Aber immer wieder werde ich auch aufgefangen, und sei es von einem Wortspiel.

Christian Futscher
Marzipan aus Marseille
Czernin
192 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-7076-0445-0

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