An den Widersprüchen entwickelt
Im Frühjahr 2015 erschien das elfte Tocotronic-Studioalbum. Rot war es, denn schließlich erschien es am ersten Mai, dem Tag der Arbeit, dem Tag der Arbeiter_innenbewegung, deren Farbe traditionell Rot ist. Rot war es, denn schließlich ist es ein Album über die Liebe geworden und Rot schwingt nicht umsonst bereits im Wort Erotik mit. Die Band hat es nicht benannt, was nach Musikindustrielogik bedeutet, dass das Album als ein selbstbetiteltes geführt wird und also eigentlich wie die Band heißt: Tocotronic. Daran wird sich jedoch niemand halten und das Album schlicht das rote Album nennen, wie auch ihr ebenfalls nicht- beziehungsweise selbstbetiteltes Album aus dem Jahr 2002 das weiße Album genannt wird.
»Sie hat die Selbstwidersprüche unserer Existenz in die erregendsten lyrischen Formen gegossen«, heißt es im Vorwort zu den gemeinsam von Martin Hossbach mit ihr – der Band, die allein aus Männern besteht – herausgegebenen Tocotronic Chroniken, die der ewig süffisante und meistens sehr begeisterte Jens Balzer niedergeschrieben hat. Hossbach und Balzer sind als (ehemalige) Autoren der Zeitschrift spex fast naturgemäß mit der Band eng verbandelt. Denn aller kritischen Reflexivität zum Trotz: Wenn Tocotronic ein neues Album herausbringen, liefern sie es nicht nur persönlich in der spex-Redaktion ab, sondern können sich auch sicher sein, auf dem Titel zu landen.
Das taten sie dann auch zur Veröffentlichung von Tocotronic, pardon: dem roten Album und posierten mit unnachahmlich-nachahmender Dandy-Verve vor rotem Hintergrund, sodass der Kontrast zwischen Ansicht und Absicht beißend ins Auge sprang. Ein erregender (weil rot wie die Liebe) Selbstwiderspruch der Bandexistenz (weil rot wie der Sozialismus und trotzdem dandy), der größere und allgemeine Widersprüche spiegelte.
Natürlich sind die Tocotronic Chroniken ebenfalls rot geworden. Sie versammeln neben Balzers sich an den elf Alben aus zwanzigjähriger Bandgeschichte orientierenden Essays zusätzliche exklusive Interviews und viele, viele Fotos und Paraphernalien einer Band, der latente Selbstinszenierung eigentlich ebenso gegen den Strich gehen sollte wie die neoliberalen Mechanismen, für welche sie ein Ausdruck ist. Sei’s drum, Widersprüche offenzulegen ist in der Kunst vielleicht noch mehr wert als sie anzuprangern. »Innerlich zerrissen – das soll es sein! «, fasst Balzer sogleich die Stoßrichtung von Digital ist besser zusammen, dem ersten und oft zitierten Album der Band, das mittlerweile auch ganz analog auf Vinyl erhältlich ist.
Laut Balzer ist es genau dieses Album, mit welchem Tocotronic »das Selbstbild der jungen Helden, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort befinden« schafften. Die falsche Zeit, das ist das große Loch nach der Grunge-Welle, die der bitteren Erkenntnis weichen musste, dass noch jede Jugendbewegung vom Mainstream verschluckt wird. »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein« lautet auch einer der Titel von Digital ist besser. Er spricht Balzer zufolge eine nicht synthetisierbare Dialektik zwischen Verlangen und Erfüllung aus: Tocotronic betreten nach dem Ende der Jugendbewegungen die Bühnen des falschen Ortes, der da Hamburg lautet und historisch vorbelastet ist. Zur Hamburger Schule wollen und sollen Tocotronic eben auch nicht gezählt werden. Allein schon, weil diese Bewegung sich das Wort »Jugend« nur schwerlich als Präfix vorstellen könnte. Da war sie also, die Band zum alten Adorno-Gassenhauer von wegen es gebe kein richtiges Leben im falschen.
Balzer entwickelt seine mal philosophisch überfrachteten, mal vor Blumigkeit überquellenden Analysen an genau solchen Widersprüchen entlang, wie sie Tocotronic mit ihrem Debüt konstruierten und heute noch repräsentieren. Da ist der ständige Konflikt mit den Männlichkeitskonstrukten der Rock-Musik, die Tocotronic zwar ablehnen, denen sie aber lediglich mit einer plüschigeren Variante davon begegnen können. Da ist die ständig neu formulierte Kapitalismuskritik, die auf Alben skandiert wird, welche zum Teil über Major-Labels veröffentlicht werden. Da ist die Verweigerungshaltung, die Ausdruck eines großen Privilegs ist. Tocotronic sind wie ihre Slogans: Nicht auf Anhieb zu verstehen und doch wahnsinnig anziehend. »Und falls ihr es nicht wisst, Fragen sind dazu da, um sie zu beantworten«, heißt es in einem von Schüler_innen der Michael-Ende-Schule geschriebenen Brief an die Band, die einst »Michael Ende hat mein Leben zerstört« sangen. Die wissen das sicherlich, sind aber trotzdem die falschen Adressaten. Tocotronic werfen Fragen auf, deren Beantwortung bleibt anderen überlassen.
Balzer zum Beispiel, aber der zeigt sich zu befangen von seinem Gegenstand. Die zwischen vielen bunten Bildern – Fetischobjekte fürs Fantum müssen eben sein – eingelassenen Texte werden im Verlauf der Tocotronic Chroniken immer jubilatorischer, bis sie in einem impressionistischem Schlusswort münden, das alle Register des Promotextpathos‘ zieht. Um das unbetitelte, nein, selbstbetitelte, nein, rote Album geht es natürlich, das ungefähr synchron mit dem ebenfalls roten, großformatigen Coffee-Table-Buch erschien. Die Tocotronic Chroniken sind ebenso ein Merchobjekt, wie sie auf den vielen, vielen großen Seiten abgebildet werden: Ein kleiner narzisstischer Rundgang durch die kritische Diskursivität einer Band, die sich an inhärenten Widersprüchen entlang entwickelt hat und gleichzeitig die beste Werbung dafür. Das ist nur sinnig, zugleich aber ein bisschen wenig.
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