Ein Traumseliger mit verankerten Füßen
Man staunt nicht schlecht, wenn man aus dem Nachwort erfährt, daß Johannes Kühn, Jahrgang 1934, jeden Tag, außer sonntags, drei Gedichte auf seiner alten Olympia-Schreibmaschine ins Reine tippt. Ob sich bei dieser schier unerschöpflichen und offenbar auch unermüdlichen Produktivität gewisse Redundanzen oder schwächere Texte einstellen, bleibt der Spekulation überlassen, denn die beiden Herausgeber Irmgard und Benno Rech, die sich seit Jahren seines Werks annehmen, haben aus der überwältigenden Fülle eine durchaus überzeugende Auswahl mit Gedichten überwiegend aus den Jahren seit 2010 zusammengestellt.
Johannes Kühn ist in den letzten Jahrzehnten beileibe nicht der einzige gewesen, der mit ähnlicher Haltung schreibt, aber im Gegensatz zu den Vergessenen und Unbeachteten ist ihm — und mit ihm dem Leser — das Glück der Aufmerksamkeit zuteil geworden. Doch auch wenn Johannes Kühn nicht als singuläre Gestalt in der Lyriklandschaft steht, ist seine Art zu schreiben höchst ungewöhnlich, denn sie stellt sich in konsequenter Verweigerung quer zu den Anforderungen des Medienbetriebs. Aus einer solchen Außenseiterposition heraus ist schon immer nicht die schlechteste Lyrik entstanden; dennoch verwundert es, daß bereits damals, vor seinem zehnjährigen Schweigen, das in den siebziger Jahren begann, der Literaturbetrieb nicht in der Lage war, ein verläßliches Sensorium und Instrumentarium für Qualität zu entwickeln. Was die Mode nicht götzendienerisch anschreit, muß deswegen nicht gleich ausgemustert werden. Eigensinn zeitigt oft sehr schöne Blüten.
Ein erhabener, überhöhender Duktus, der niemals in Pathos umschlägt, weil er sich mit einer gewissen anrührenden Naivität — mit einer unverzagten, behutsam eingesetzten Altmodischkeit verbindet, einer Unverstelltheit, die ihre ländliche Herkunft nicht verleugnet — charakterisiert Johannes Kühns Gedichte. Darin zeigt sich eine affirmative Haltung den Dingen und den Menschen gegenüber, die noch dann sympathisch bleibt, wenn die Gedichte selbst hier und dort formal einmal nicht ganz vollkommen sind. Der Autor schimmert mitsamt seinen Schwächen durch — die ihm selbst bewußt sind und mit denen er humorvoll kokettiert —, und darin besteht vielleicht eine gewisse Größe, denn Werk und Leben ergänzen sich so, ganz unertüftelt, zu einer überzeugenden Einheit. Aus diesem Grund spürt man als Leser die Dringlichkeit in den tageweisen Mitschriften, die aus Gelegenheiten ein dichterisches Konzentrat filtern, eine Quintessenz des Erlebten, Gesehenen und Gefühlten.
„Morsch ist der Tag in den Gelenken und klappert, / ich auch hinke / und möchte mich halten / am Mondhorn, / das östlich aufragt.“ Die Gebrechen des Alters reduzieren nicht die Freude am Wahrnehmen, am wandernden Durchdringen der Landschaft. Mit ihr und mit der Natur steht der Dichter gleichsam in einem Liebesverhältnis. „Wie viele Lippenstifte hat die Morgenröte wohl verwendet“, fragt Kühn, und dieser „Kuß ins Land“ ist eine erotisch aufgeladene Schönheit, die dazu einlädt, sie mit allen Sinnen zu erkunden und sich an ihr zu erfreuen. Bei aller Geneigtheit für die Menschen spürt er jedoch immer wieder, daß er, als Dichter, oder man sollte sagen: als dichterisch Empfindender, eine Außenseiterstellung einnimmt, selbst dann, wenn er still im Landgasthaus beobachtet. Es geht in den Gedichten darum oft die Rede von der Einsamkeit, vom Alleinsein, das als beglückender Zustand angenommen wird, abgeschieden von der Geschäftigkeit der Welt, ihr abhanden gekommen, aber auf verträumte Weise, dicht an den verschwiegenen Plätzen. „Diese grüne Senke, / mein Versteck, / darin still mit meinem Buch zu liegen / unterm Wolkenzug“, ist ein höchstes Ziel, „ich lieg wie der Taugenichts / im duftenden Gras“, hingegeben an die Gegenwart, nicht mehr der modernen Nützlichkeit entsprechend.
Kühn schämt sich seines Glaubens ebenso wenig wie seiner Naturverbundenheit, die ihm Lebensentwurf ist. „Und hab am Gras mein Leben gemessen“, heißt es einmal, die Kürze des Lebens akzeptierend, aber genau darin auch ein demütiges Vertrauen bekundend: „niederes Gras möcht ich sein / im Vertraun / an helfende Himmel, / das nie erlischt“. Die Grashalme stehen abseits, am Wegesrand, immer aufrecht, bis zuletzt, und in einer großartigen Metapher ist der Abschied zusammengefaßt: „Spät frißt ein Pferd das Gras im Tal, / ich meine, / es weidet alles Licht mit ab, / so daß es dämmert.“
Johannes Kühns Gedichte sind schlicht, doch kunstvoll, sie fangen Stimmungen der Natur ein, feiern die sinnliche Wahrnehmung, haben Verständnis für die verschiedenen Berufe, für die Kinder, die Alten; sie atmen in ihren unterschiedlich langen, neugierige Unruhe und „Schrittlust“ verströmenden Zeilen ein Ja zu den Dingen, ein Einverständnis, eine Friedfertigkeit („Zu keinem Ellenbogenstoße gegen Feinde war ich fähig“), eine hymnische Allschau, in der selbst altgediente Traktoren und der nicht mehr allzu ferne Tod einen angemessenen Platz zugewiesen bekommen: „Stiche spür ich am Herzen. / Das sind Trompetenstöße des Todes / [...] / der in dich fährt, / ungemein frech. / Drück ihn an die Wand, / wenn du kannst!“ Hellwach bleibt Kühn jedoch trotzdem, oder vielleicht gerade wegen der Fragilität des Lebendigen, gegenüber der eigenen Zeit und ihren verschiedenen Bedrohungen, wie das verblüffend prophetische Gedicht „Hochhaus“ beweist, das den Herausgebern zufolge anderthalb Jahre vor dem Anschlag auf das World Trade Center geschrieben wurde. Man sieht in dem kleinen saarländischen Ort Hasborn eben ungemein viel und weit.
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Kommentare
Johannes Kühn
Jürgen Brocan hat eine gründliche, eine verstehende, eine originäre Rezension geschrieben, in der sich der Autor und die Herausgeber verstanden sehen. Sie zeigt, dass er sich eingehend mit dem Dichter befasst hat.
Irmgard und Benno Rech
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