Im verwilderten Garten der Erinnerung
Dieses Buch ist ein verwilderter Garten. Die Sprache wuchert auf wie Gras, wie schnell wachsende Schlingpflanzen, und die Blumen, die in diesem Garten blühen, haben die Farbe der Poesie. Aber sie duften dunkel und welken schnell, so schnell, dass ihre Schönheit einen Schauder hinterlässt.
Alles beginnt mit dem plötzlichen Tod von Trishas Vater. Ganz wie Shumona Sinha selbst, lebt die junge Bengalin seit eineinhalb Jahrzehnten in Paris, und nun kehrt sie überstürzt nach Hause zurück, nach Kalkutta. Stumpf vor Trauer wohnt sie der Einäscherung bei, die nach uralten hinduistischen Riten geschieht. Riten, die ihr Vater, ein überzeugter Kommunist, immer als rückständig verabscheut hat. Nachdem Shankhyas Körper zu Asche zerfallen ist und
„nur die Rippen ihre Form behalten haben, krumm wie ein Geisterschiff“,
betritt Trisha ihr leeres Elternhaus. Dort haben die Dinge und die Gerüche ihrer Kindheit überdauert und lassen die verstorbenen Angehörigen der jungen Frau wieder lebendig werden: Zuerst tritt die Mutter auf, deren krankhafte Schwermut,
„ihr Gesicht immer finsterer, fleckiger und klammer“
werden lässt. Sie ist der unberechenbare, dunkle Zwilling Shankyhas, der sich beruflich wie ideologisch ganz der Wissenschaft verschrieben hat. Vergeblich versucht er, dem Leiden seiner Frau mit viel Geduld und mit viel Vertrauen zur westlichen Medizin zu begegnen. Auch seine Mutter Annapurna macht ihm Kummer. In den 1980er Jahren entdeckt die alternde Frau ihre Liebe zur hinduistischen Tradition, allerdings nicht im Tempel, sondern im Fernsehen. Mit Spezialeffekten aufgepeppte Serien, die sich inhaltlich an den großen religiösen Epen Ramayana und Mahabaharata orientieren, versetzen halb Kalkutta in Entzücken. Nach und nach sickert das süße Gift des Hindu-Nationalismus nicht nur ins Privatleben, sondern auch in die Politik. 1992 schon gehen von Fernsehpredigern aufgeputschte bengalische Fanatiker mit Knüppeln und Macheten gegen die missliebigen Kommunisten vor; seit 2014 regiert die nationalistische indische Volkspartei BJP das ganze Land.
Wo sich das Politische und das Private, wo sich der Alltag und die Geschichte berühren, entsteht nicht selten große Literatur, die Zusammenhänge erfahrbar macht. Leider ist letzteres in „Kalkutta“ nur bedingt der Fall. Shumona Sinha begnügt sich mit 190 großzügig bedruckten Seiten, wo drei- oder vierhundert nötig gewesen wären. Sie handelt Geschehnisse, denen eigentlich mehrere Kapitel gehören müssten, auf wenigen Seiten ab, zum Beispiel die Geschichte einer idealistischen jungen Frau, die den zum Krüppel geschossenen Anführer einer maoistischen Splittergruppe ehelicht:
„Niemand konnte Vaishali davon abbringen, Asim Chatterjee zu heiraten. Sie wurden getraut, er im Rollstuhl, mit weißem Bart, nur darauf brennend, mit Ashok zu diskutieren, seinem Schwiegervater, der jünger war als er selbst, sie aufgeregt und stolz, dass sie eine politische Legende geheiratet und an der dunklen Seite der bengalischen Geschichte teilhatte (…)“
Diesen Asim Chatterjee gibt es tatsächlich. In den 1970er Jahren führte er eine naxalitische Guerilla, die noch heute im Nordosten des Landes aktiv ist. War am Anfang die systematische Benachteiligung der dort lebenden indischen Urbevölkerung Grund für den bewaffneten Kampf, so geht es den Aufständischen heute nicht selten um regionale Macht und wirtschaftliche Pfründe. Hat man diese Grundkonstellation im Internet recherchiert, bekommt man eine Vorstellung von der tiefen Verzweiflung, die Shankyha befallen haben muss, als er einmal mit seiner Familie in diese Gegend reist und die Unzufriedenheit und Armut der Landbevölkerung hautnah miterlebt. Der Text selbst vermag dies nicht zu leisten, und das, obwohl die politische Desillusionierung Shankyhas eines seiner Leitmotive ist. Lieber flüchtet sich Shinha in ein poetisches Bild:
„Seine Partei war gescheitert und Shankhya kam zu dem Schluss, dass die revolutionäre Ideologie nur ein fliegender Teppich gewesen war, der über dem indischen Subkontinent schwebte, während es den Millionen von Menschen völlig gleichgültig war, sie überlebten beschwerlich, schlugen Wurzeln und hatten Träume, die in die Glücksbringer um ihren Hals passten, bedeutungslos, lächerlich und vor allem ungefährlich.“
Sol das heißen, dass zumindest das ländliche Indien immer rückständig, arm und abergläubisch bleiben wird? Gegen Ende des Buches hat noch einmal Annapurna einen Auftritt, der zurückführt in die Dörfer, wo seit alters her die Fürsten und die Götter herrschen, dorthin, wo jedem Menschen durch das Kastensystem von Geburt an ein Platz und eine Bestimmung zugewiesen ist. Ins Mythen- und Märchenhafte hinabzusteigen gelingt der Autorin ganz ausgezeichnet; hier kann sie sich in ihren poetischen Dschungel zurückziehen und braucht sich nicht um den rational-narrativen Geist zu bemühen, nach dem Shankhyas Charakter verlangt. Trotzdem hätte sie gut daran getan, ihren poetischen Garten auch einmal auszulichten. Es gibt keine freien Flächen, auf denen die Leserin, der Leser sich ausruhen und über die Lektüre nachdenken könnte.
So bestätigt sich der Eindruck, den auch ihr viel diskutierter autobiographischer Zweitling „Erschlagt die Armen“ gemacht hat: Es handelt sich bei „Kalkutta“ nicht eigentlich um einen Roman, sondern um einzelne, nur rudimentär in eine schlüssige Handlung gesetzte Szenen. Waren in „Erschlagt die Armen“ die Wut und die Verzweiflung die Samenkörner für Sinhas Schreiben, so sind es in „Kalkutta“ die Erinnerungen an ein früheres Leben. Die Sprache, die aus diesen Samen wächst, ist gleichwohl von einer Vitalität, die in der europäischen Literatur sehr selten geworden ist.
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