„Kleine Geschichte Bengalens oder Erinnerungen an eine Kindheit zwischen Tradition und Moderne“
Mit dem aufsehenerregenden Roman „Erschlagt die Armen“ wurde Shumona Sinha bekannt. Darin erzählte sie, wie es Asylsuchenden in den Behörden und Ämtern ergeht, allerdings aus der Sicht einer als Dolmetscherin angestellten Frau, die selbst vor einiger Zeit emigrierte und die um die Zerrissenheit zwischen Heimat und Neuland weiß. Vieles in dieser Geschichte ist autobiografisch, Sinha wusste, wovon sie erzählte: Die aus Indien stammende, 1973 geborene Schriftstellerin emigrierte selbst nach Frankreich und arbeitete in Paris in der Einwanderungsbehörde als Dolmetscherin, wurde allerdings nach der Veröffentlichung ihres Romans dort nicht mehr beschäftigt.
In ihrem nun vorliegenden Roman „Kalkutta“ geht Sinha wieder einen Schritt zurück: Sie schickt ihre Heldin Trisha in ihr Heimatland, zurück nach Kalkutta, wohin sie aufgrund des Todes ihres Vaters reist, um an den Trauerfeierlichkeiten teilzunehmen. Vor sehr langer Zeit hatte sie das Land verlassen, um in Paris zu leben.
„Aber zunächst umkreise ich seinen Leichnam im Rhythmus der Mantras, umkreise die Geschichte eines Lebens, das meines Vaters. Dann wird eine Fackel angezündet. Das Feuer muss an seinen Mund geführt werden, zum Ursprung der Dinge und der Worte, bevor der Körper ganz in die Brennkammer geschoben und der eiserne Vorhang hinuntergelassen wird.“
Es wird eine Erinnerungsreise, alles, was sie im Elternhaus sieht, jedes Ding, erinnert sie an ihre Kindheit und an die Eltern, die so verschieden waren. Eine Schlüsselszene wählt Sinha: Der Vater versteckt eine Pistole, die kleine Tochter beobachtet das heimlich und teilt fortan mit dem Vater ein Geheimnis.
Während Sinha anfangs vor allem Trishas aktuelle Gefühle im einstigen Elternhaus spiegelt, legt sie im Verlauf den Fokus vorrangig auf die Geschichte der Eltern seit ihrer ersten Begegnung und immer weiter zurück bis tief in die Familiengeschichte hinein und damit auch in die Kolonialgeschichte des Landes.
Sie beginnt im Jahr 1972, als ihre Eltern heiraten. Die Mutter Urmila, eine gebildete junge Frau aus gutem Hause leidet unter einer tiefen Melancholie, die immer wiederkehrt. Trishas Vater, Shankhya, verzaubert von Urmilas Schönheit, nimmt sie trotz seiner Angst vor ihrer Depression zur Frau. Er, der selbst vom Land aus einer einfachen Familie kommt, hegt größere Ambitionen und kämpft mit seinen kommunistischen Genossen für die Freiheit des Landes. Er arbeitet an der Universität als Physikprofessor und ist überzeugt von kommunistischen Idealen und einer kritischen Geisteshaltung. Das Haus ist oft gefüllt, mit Freunden oder auch mit Arbeitern aus einer niedrigeren Klasse, die Shankhya einfach einlädt in seine Diskussionsrunden oder zu einem Glas Tee.
Trishas Kindheit ist geprägt vom Warten auf den Vater und der Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte, denn die kommunistische Partei findet mehr und mehr Feinde. Mitstreiter verschwinden oder werden getötet.
„Der Tag erreichte den Höhepunkt, alle Rätsel lösten sich, wenn ihr Vater nach Hause kam, wenn er vor der Veranda auftauchte, endlich ergab alles einen Sinn, nichts war schmerzlicher, unerklärlicher als seine Abwesenheit.“
Urmila, die als Literaturdozentin arbeitet, scheint lange nicht glücklich in dieser Ehe, hätte sie doch einen ganz anderen Mann gewählt, wenn der sie nicht verlassen hätte. In der Mutter findet Trisha nicht immer einen Halt, doch gibt es noch die Großmutter, die märchengleiche Geschichten zu erzählen weiß.
Sinha wechselt im Laufe ihrer Geschichte mehrmals die Erzählperspektive: Einmal wählt sie die „Ich-Form“, ein anderes Mal erzählt sie uns von Trisha. Einige Male springt sie, um Situationen zu verdeutlichen, innerhalb einer Szene vom Präteritum ins Präsens.
Was als Familiengeschichte beginnt, führt den Leser schnell auch in die politische Geschichte Indiens, beziehungsweise Bengalens ein. Dabei spannt sie den Bogen von 1975 bis heute. Sie schildert die Kämpfe zwischen rechts und links und die Auseinandersetzungen aufgrund verschiedener religiöser Sichtweisen zwischen Hindus und Moslems, aber auch die Zwiespältigkeit zwischen Religion und Politik überhaupt und nicht zuletzt die Auswirkungen der Kolonialherren, der Engländer. Besonders deutlich zeigt sich das auch in Trishas Familie: während der Vater als Unterstützer kommunistischer Ideen atheistisch ist, ist die Großmutter religiös und schaut sich im Fernsehen als Soap inszenierte Serien aus dem indischen Volksepos Mahabharata an.
In den Kritiken ihres letzten Romans oft umstritten, erweist sich Sinhas bildhafte, blumige, manchmal naiv wirkende Sprache hier als passend zur Thematik ihrer Geschichte und auch stimmig im Sinne der Erzählperspektiven, wie etwa des Kindes Trisha oder der Großmutter. Dass Sinha auch Lyrik schreibt merkt man ihren Romanen an. Ein poetischer Ton herrscht vor. Selten jedoch findet man Metaphern, die, wie hier, ins Kitschige driften:
„Die grünen Fensterläden in den weiß gekalkten Mauern bissen die Zähne zusammen.“
Für die treffliche Übersetzung aus dem Französischen gilt auch Lena Müller ein Lob, die auch den Vorgängerroman ins Deutsche übertrug und dafür zusammen mit der Autorin den Internationalen Literaturpreis 2016 erhielt.
Zum Ende hin scheint der Autorin allerdings die Geschichte ein wenig zu entgleiten. Was sie über Trishas Urgroßmutter schreibt, die offenbar Kurtisane in einem Fürstenhaus war, klingt manchmal ein wenig nach Bollywood, zumindest aber wie Szenen aus einem indischen Heldenepos. Jedenfalls bleibt für den Leser/die Leserin manches undurchsichtig und verschwommen. Aber vielleicht sind es wirklich nur „Märchen“, die die Großmutter für ihre Enkelin erfindet?
Glücklicherweise schafft es Sinha, am Schluss wieder zu ihrer sprachmächtigen eigenen Art zurückzufinden, die sonst das ganze Buch durchdringt, indem sie wieder in die Gegenwart springt, nämlich in die Gegenwart der Trauer um den verstorbenen Vater.
„Gegen unseren Willen warten wir auf Vater. Es ist, als wäre er auf einer Geschäftsreise und müsste jeden Augenblick nach Hause kommen. Es ist, als würde es langsam spät, als wäre Vater ungewöhnlich spät dran.“
Es mag daran liegen, dass Selbsterlebtes – man kann davon ausgehen, dass auch dieses Buch autobiografische Ursprünge hat – leichter zu greifen ist, als von anderen Überliefertes. So gelingt es der Autorin durchaus und fast durchweg hervorragend, aus Biografischem Literatur zu machen, fabelhafte Stimmungsbilder der Stadt Kalkutta zu erzeugen und dem Leser gleichzeitig eine kleine Geschichte Bengalens zu vermitteln.
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