Lesart
Wilhelm Müller* 1794† 1827

Rast

Nun merk ich erst, wie müd ich bin,
Da ich zur Ruh mich lege;
Das Wandern hielt mich munter hin
Auf unwirtbarem Wege.

Die Füße frugen nicht nach Rast,
Es war zu kalt zum Stehen,
Der Rücken fühlte keine Last,
Der Sturm half fort mich wehen.

In eines Köhlers engem Haus
Hab Obdach ich gefunden;
Doch meine Glieder ruhn nicht aus:
So brennen ihre Wunden.

Auch du, mein Herz, im Kampf und Sturm
So wild und so verwegen,
Fühlst in der Still erst deinen Wurm
Mit heißem Stich sich regen!

(1824)

Es gibt keine Rast mehr

Und wieder einmal war es Wilhelm Müller, der ewig Unterschätzte, der eine genuin moderne Problematik auf den Punkt gebracht und deutlich gemacht hat: noch zu Lebzeiten Goethes: der stach im Divan, mit füchsisch ziselierten Gedichten wie Phänomen, durch schiere Spracharbeit schon Quellen an, die in das einflossen, was wir Moderne nennen. Müller machte geradeaus inhaltlich und motivisch dem Vorgängigen den Garaus. Ob wir es einmal noch erkennen? Müllers Dichtung wurde kein Schicksal für uns, da sie sich in das Lied zurückgezogen hatte und mit den Zyklen Schuberts den schönsten Kokon erhielt, um ungestört und unerkannt zu überwintern. Müllers fintenreiche politische Dichtung, seine unvertonten Lieder schlummern gänzlich ungelesen; seit 1994 schlummern sie zumindest in einer verlässlichen und vollständigen Ausgabe. Wie genau und präzise er den Bildvorrat der ausgehenden Romantik ein Stückchen drehte, um eine ganz andere Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, ist jedes Mal wieder die Entpuppung eines großartigen, aber düsteren Falters, wenn man sich etwas Zeit nimmt, um zuzusehen.

Ein Lied aus dem zweiten Teil der Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten, dem berühmt-berüchtigten Zyklus Winterreise, in endgültiger Fassung herausgekommen 1824: Rast. Man könnte meinen, auf dieses Titelwort richte sich die Hoffnung. Aber wie beim Titelwort Lindenbaum wird der vermeintliche Sehnsuchtsort durch die Metamorphosen der unscheinbaren Verse zu einem Schreckensort, an dem das Ich nurmehr zernichtet ankommt.
 

Nun merk’ ich erst, wie müd’ ich bin,
Da ich zur Ruh mich lege:
Das Wandern hielt mich munter hin
Auf unwirtbarem Wege.

Müller geht von einer alltäglichen Erfahrung aus, die er um einen alltäglichen Topos erweitert. Dazu braucht man nichts sagen, das ist so sicher, knapp und wohl balanciert in jenen Scheibenspiegel getroffen, den man das bedeutende Allgemeine durchaus nennen kann (Kornél Esti und Arno Schmidt haben hierzu hübsche Kommentare abgegeben), wie sonst etwas. Mit der zweiten Strophe aber werden diese Koordinaten von innerem Gefühl und äußerer Welt deutlicher auf den Zusammenhang eingestellt, der schon vorauszitterte:

Die Füße frugen nicht nach Rast,
Es war zu kalt zum Stehen;
Der Rücken fühlte keine Last,
Der Sturm half fort mich wehen.

Das innere Erleben, bis hinunter zur schieren vitalen Regung der verbleibenden Lebenskraft, ist völlig determiniert von den Bedingungen der äußeren Welt – und nichts vermittelt dazwischen. So sehr, dass man selbst von einer Reaktion nicht mehr sprechen kann. Der Mensch wird zum fortgewehten Laub und erkennt sich erst als solches, wenn in der monochrom weißen Wüste der Winterreise, in diesem Ganzfeld, das nicht wie das Dunkel tausend Ungeheuer zeugt, sondern nur ein einziges, kein Laub mehr übrig ist. Dass der Mensch ein Gras, ein Laub, etc. sei, ist traditioneller Bestandteil der Vanitasrhetorik, vom haarsträubenden Buche Kohelet an, aber hier bildet sich eine ganz andere Stoßrichtung heraus. Das Bild zeigt bereits an, dass in dieser auswegslosen Kopplung von Innen und Außen nichts mehr übrig ist von der Souveränität eines Ich, das eine autonome Emotion hat oder gar der Natur die Gesetze gibt, den Blütenstaub seiner Gedanken und Fragmente über den Kosmos streut. Weit genug? Im Innern herrscht völlige Leere, und es ist das Ingenium Müllers, diesen Sachverhalt in einer Lyrik auszuformulieren, die in der völligen Leere der Schneewüste stattfindet. Wir erinnern uns an all die schrägen Korrespondenzbilder mit der Natur, die so unheimlich eisig, erstarr und leer ist in der Winterreise. Wir erinnern uns an die ersten Verse „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“ Nichts geschieht. Das Ich aber ist dennoch wach und kann sich mit der Abhängigkeit von den äußeren Einflüssen nicht auf einen Nenner bringen, das heißt: es ist gespalten, indem es noch singt. Es versteht die eigenen Tränen nicht mehr, weil sie so lau sind. Die Gefühle, die vor dem leeren Schirm der Monochromie auftauchen, sind nicht die, die das lyrische Ich erwartet, vorausberechnet, gelernt hat. Diese Lektion wird Heinrich Heine (Heine, der Lieddichter, hängt sich ausdrücklich an die Lieddichter Goethe und Müller) gründlich lernen und so exzessiv aufschreiben und ausbreiten, dass nach ihm auch wirklich jeder versteht, die Alleinheit und Herrlichkeit der Romantik sei schlussendlich an ein Ende gekommen. Schön war die Zeit. Der Einfall kindisch, aber göttlich schön. Ewige Kette inn’rer Revolutionen. Ich wollt’ er schöß’ mich tot.

In eines Köhlers engem Haus
Hab’ Obdach ich gefunden;
Doch meine Glieder ruh’n nicht aus:
So brennen ihre Wunden.

Einkehr beim topischen Personal der Gesellschaftsflucht. Köhler sind traditionell nicht die gesprächigsten Gastgeber, sie komplettieren mit tiefer Schwärze drinnen die tiefere Weiße draußen. Es hilft nichts. Rast wird nicht von der körperlicher Erschöpfung gesucht, sondern Rast wird als Flucht vor dem gespaltenen Erlebnis der zweiten Strophe erhofft. Und der Schmerz? Er totalisiert sich: der Spalt im Inneren wächst sich aus zum Spalt im Äußeren und ein Spalt in der körperlichen Hülle des Menschen heißet also: Wunde.

Auch du, mein Herz, in Kampf und Sturm
So wild und so verwegen,
Fühlst in der Still’ erst deinen Wurm
Mit heißem Stich sich regen!

Strophen wie diese sind am besten dazu angetan, den modernen Hinterhalt der Lyrik Müllers zu übersehen. Aber darf man sich das erzählen lassen, was da gesagt wird? Wild und verwegen? Welcher Kampf, welcher Sturm? Es ist nicht mehr klar, ob hier vom Winterwetter oder vom nuklearen Winter der Seele die Rede ist, soviel aber ist deutlich: Kampf und Sturm haben kein Gegenüber mehr und diese Verwegenheit ist die Erschöpfung des Schattenboxers im Ganzfeld, wo kein Schatten ist. Dieses hier in der Selbstaussprache dargestellte Missverständnis, diese Fehleinschätzung des lyrischen Ich, tritt in den Schlussversen zu Tage. Stille, das ist noch mehr als Rast. Fast noch mehr als Schlaf. Und das ist zugleich der Auslöser des Schmerzes. Hier wird das eigentliche Dilemma benannt: die Rast war ein altes Heilmittel für einen alten Schmerz, nun ist sie der Auslöser für einen neuen Schmerz. Sie wirft das Ich noch stärker auf sich selbst zurück, das nicht von der körperlichen Strapaze, sondern von sich selbst ausruhen wollte. Statt Erholung aber findet es Zerfaserung. Die letzte Strophe benennt in nur vier Versen drei verschiedene Instanzen dieses gebeutelten Ich, das mit den gefühlsökonomischen Kulturtechniken nicht mehr seinem tatsächlichen Erleben Herr werden kann. Alles verdreht sich. Die Anstrengung macht munter, die Rast ist höllisch anstrengend, bis zur Katastrophe. Wir erinnern uns. Nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte. Müllers lyrisches Ich wird vom Wind getrieben, es hat nicht einmal mehr die Kraft, über den eigenen Fuß zu gebieten, weil es sich in der Zerfaserung und Zerspaltung selbst verloren hat und seinen Ort nicht mehr kennt: es ist nur noch ein diffuser Glutkern aus Schmerz, irgendwo. Nun ist es soweit, mit diesem infernalischen Zyklus von unscheinbaren Liedern: jetzt ist die „Mondnacht“ verflogen: jetzt beginnt das „Endspiel“. Es gibt keine Rast mehr. Du wirst nie wieder rasten.

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