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Es gilt noch immer, einen klugen und sprachgewandten Schriftsteller wie Dimitré Dinev zu entdecken. Mit seinem Buch „Barmherzigkeit“ bietet sich hierzu erneut Gelegenheit. Wer sie auslässt, wird sich vorwerfen müssen, eine wichtige Stimme der deutschsprachigen Literatur und Essayistik überhört zu haben. Der schmale Band, den der aus Plowdiw stammende Dinev im österreichischen Residenz Verlag vorgelegt hat, eröffnet eine neue Reihe, die unter dem viel sagenden Titel „Unruhe bewahren“ durch engagierte Zeitgenossenschaft und Leidenschaft für das Unzeitgemäße eine Antwort auf drängende Probleme gegenwärtiger Gesellschaften geben möchte. Mit dem Profil, das der Verlag der Reihe gibt, ließen sich leicht zahlreiche moderne Klassiker wie Pessoa und Nietzsche um Beistand anrufen. Dinev kommt ganz ohne sie aus und verzichtet auch auf einen Disput mit der katholischen Kirche, die über die Bergpredigt bis hin zu der 1995 gegebenen Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Einiges zum Thema beizusteuern hätte. Doch nur so gelingt ihm eine sehr persönliche Annäherung, ein souverän geschriebenen Text über Barmherzigkeit. Seine vier lebensnahen Essays fassen sie als Privileg des Individuums und als Gerechtigkeit einforderndes Korrektiv. Ohne die Notwendigkeit barmherzigen Handelns lebten wir in der perfekten Gesellschaft. Doch weil das Paradies auf Erden unmöglich ist, brauchen wir barmherzige Menschen. Es gibt jedoch, so Dinev, keine anonyme Barmherzigkeit, da der Barmherzige stets identifizierbar ist. Sein Handeln ist gegenwärtig, konkretisierbar, mitunter verschwenderisch, doch stets folgt es dem Ruf individueller Verantwortung. Dinev schildert in erster Linie Beispiele seiner eigenen Biografie, darunter Episoden aus der Zeit, die er als Flüchtling im Lager Traiskirchen zubrachte. Eindrucksvoll ist vor allem der erste Essay, die Geschichte über eine junge Flüchtlingsfamilie, die dem einstigen Bettler Dinev Speis und Trank bereithält und ihn mit dem wohl wertvollsten Geschenk des Menschen beglückt – einem aufrichtigen Gespräch, das sich bis tief in die Nacht hineinzieht. Er schreibt: „Als der Tag kam, an dem wir das Lager verlassen mussten, gingen wir uns verabschieden. Sie wünschten uns viel Glück. Wir sahen sie nie wieder, und unsere Zungen klebten damals so fest an den Gaumen, dass wir es nicht schafften, wir ewig dem Glück Nachjagenden, ihnen zu sagen, dass sie uns etwas wünschten, das sie uns bereits gegeben hatten.“ In dieser bewegenden Geschichte zeigt sich das wahre Gesicht der Barmherzigkeit meines Erachtens am eindrucksvollsten: Barmherzigkeit ist eine Gabe, ein Geschenk, das keine Erwiderung erwartet, das nicht zurückbezahlt werden will. Leser, die die theoretische Auseinandersetzung nicht scheuen, dürfen Dinevs Essay deswegen gerne als Gegenentwurf zu Marcel Mauss´ Essay über die Gabe sehen. Allen Anderen sei das Buch schon wegen dieser einen Geschichte ans Herz gelegt, diesen wenigen Seiten, die mich selbst nicht nur durch ihre sprachliche Eleganz, sondern auch durch ihren melancholischen Duktus tief bewegt haben. Ähnlich beeindruckt war ich vom letzten Essay, der allerdings bereits bekannten Burgtheaterrede aus dem Jahre 2008 mit dem Titel „Wie sicher ist der Frieden in Europa?“ Es stimmt nachdenklich, wenn Dinev feststellt, dass er dem Wort Frieden in Europa am häufigsten auf Friedhöfen begegnet und dazu schreibt, es sei „das Wort danach, das Wort nach dem Unglück, nach der Katastrophe, die Passivität schlechthin.“ Dahingegen begegne er dem Wort Sicherheit inzwischen täglich, nicht zuletzt, weil sich mit der Frage nach Sicherheit besser Politik machen lasse als mit der Frage nach dem Frieden. Doch sei das Wort Sicherheit kein Frieden stiftendes Wort: „Es ist ein Wort, das trennt.“ Anders der Friede, der die Menschen wieder vereine. Frieden und Barmherzigkeit gehören für ihn untrennbar zusammen. Und nur wenn sie von uns wieder zum Leben erweckt werden, haben wir Europäer auch eine gemeinsame Zukunft. Eingerahmt von diesen beiden Zugriffen auf das Thema Barmherzigkeit finden sich auf den 75 Seiten zwei weitere Annäherungen an das Thema. In einer berichtet Dinev über seinen Großvater und dessen verstoßenen Sohn, seinen Onkel. Der Alte gibt dem Jungen nach 30 Jahren als Geste der Versöhnung ein Rasiermesser in die Hand und fordert ihn auf, ihm, dem fast 90-Jährigen, den Bart zu stutzen. Die Möglichkeit, dem zum Feind gewordenen Vater nun endlich die Kehle durchschneiden zu dürfen schwingt in dieser Geste mit. Aber eben auch die einmalige Gelegenheit zu vergeben und sich dadurch als der Barmherzigkeit würdig zu erweisen. Die daran anschließende Geschichte schildert das Schicksal der osteuropäischen Straßenkinder – vergessene, verratene, verstoßene, verfolgte und vergewaltigte Kinder: „Man begegnet ihnen in allen Städten Europas. Ihretwegen werden Gesetze erlassen und die U-Bahn-Ansagen geändert. Die Staatsgewalt fordert uns auf, ihnen kein Geld zu geben. Es hat etwas Tröstliches zu sehen, dass manche sich entscheiden, ihnen trotzdem etwas zukommen zu lassen. Manchmal gibt man aus reinem Kalkül, manchmal aber aus dem Impuls einer Kraft, die von Muttermilch zu Muttermilch weitergesaugt wird, die jedem Einzelnen zur Verfügung steht und die es nicht zulässt, dass uns staatliche Gewalten und ökonomische Zwänge in Vogelscheuchen verwandeln, die nur durch den Klang ihrer Vorurteile ein Lebenszeichen von sich geben. Wo auch immer ihr Ursprung sein mag, diese Kraft nenne ich heilig.“
Dimitré
Dinev legt mit diesem liebevoll gestalteten Buch ein Dokument von unschätzbarem
Wert vor. Es ist der gelungene Versuch, sich einem Begriff zu nähern, der nur
auf den ersten Blick anachronistisch scheint. Denn in einer hochkomplexen Welt
mit all ihren Abgründen und Ungerechtigkeiten, einer Zeit, in der fast niemand
mehr für seine Sätze bürgt, scheint nichts wichtiger zu sein als ein
barmherziger Mensch, der uns ein kleines Stück Gerechtigkeit zurückgibt ohne für
diese Gabe eine Gegenleistung zu erwarten. Wir müssen Dinevs Buch als eine
solche Gabe lesen. |
Dimitré Dinev |
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