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Im
Papierkorb des deutschen Militärattachés Maximillian von Schwartzkoppen fand die
für den französischen Geheimdienst arbeitende Putzfrau Madame Bastian ein
handschriftlich verfasstes Dokument, in dem ihm eine nicht genannte Person die
Übergabe einer Schießvorschrift der Feldartillerie und einige Aufzeichnungen
über ein neues von den Franzosen entwickeltes 120-Millimeter-Geschütz sowie
Informationen über französische Truppenpositionen und Veränderungen in den
Artillerieformationen, außerdem Pläne zur Invasion und Kolonisierung Madagaskars
bestätigte. Dieses Dokument war mehrfach zerrissen worden, ein Schriftstück
auf dünnem Papier ohne Datum und Unterschrift. Man nannte es später einfach
nur das
Bordereau.
Manipulationen und Lügen Trotzdem wurde Dreyfus am 22. Dezember 1894 von einem Militärgericht einstimmig schuldig gesprochen und zu militärischer Degradierung, Deportation und lebenslänglicher Haft an einem befestigten Ort verurteilt. Es wurde sogar eine eigene "Lex Dreyfus" geschaffen, die es ermöglichte, Dreyfus als Einzelhäftling auf einer Insel vor der Küste Französisch Guayanas, der Teufelsinsel, zu deportieren (normalerweise wurden Gefangene nach Neukaledonien befördert). Die Haftbedingungen waren entsetzlich. So durfte Dreyfus mit niemandem außer einem sporadisch vorbeikommenden Militärarzt und dem "Gefängnisdirektor" sprechen, war in einer dreieinhalb mal dreieinhalb Meter große[n] Steinzelle eingesperrt, die der brütenden Sonne ausgesetzt war, aber Dreyfus durfte sich nicht mit Wasser abkühlen. Schnell litt er an Tropenkrankheiten wie Malaria (dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen bis ans Ende des Lebens sollten die Folge sein). Die sanitären Verhältnisse waren eine Katastrophe; die Gängelungen zahlreich.
Virulenter Antisemitismus und das Versagen der Staatsgewalt Beispielsweise hätte man leicht ermitteln können, daß nicht Dreyfus der Verräter war, sondern ein gewisser Ferdinand Walsin-Esterházy, ein amoralischer Soziopath und unverbesserlicher Lügner und Intrigant, aber nicht ohne Witz und Verstand, der zudem noch chronisch verschuldet war. Als Dreyfus' Bruder Mathieu 1897 Esterházy als den tatsächlichen Verfasser des Bordereau angezeigt hatte, wurde dieser nach kurzem Prozess freigesprochen. Es durfte einfach nicht sein, daß Dreyfus nicht schuldig war. War es nun so, daß eine bestimmte Klientel an einer korrekten Aufklärung des Landesverrats nicht interessiert war, weil sie um ihr eigenes Wohl und Ansehen fürchtete? Begley zieht dies durchaus in Betracht und verwirft es nicht vollkommen, obwohl er den zentralen Grund für die Eskalation der Affäre im virulenten französischen Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts sieht, der weit über die traditionelle Judenfeindlichkeit der christlichen Kirchen hinausging (obschon es durchaus auch Antisemiten unter den Dreyfusards gab).
1791
wurden in Frankreich per Dekret die Bürgerrechte "für alle Menschen, die den
Bürgereid leisten und sich verpflichten, alle von der Verfassung auferlegten
Aufgaben zu erfüllen…" [eingeführt]. Französische Juden begrüßten die Neuerung
mit Jubel und strömten in Massen zu den Großveranstaltungen der Vereidigungen.
Frankreich war damit sehr fortschrittlich; die anderen europäischen Länder
folgten teilweise erst Jahrzehnte später mit ähnlichen Schritten. Die Menschen
der relativ kleinen Gemeinde französischer Juden (um 1900 schätzte man
86.000 Juden bei insgesamt 39 Millionen Einwohnern Frankreichs) reüssierten
schnell und brachten herausragende Persönlichkeiten, insbesondere im
Wirtschafts- und Finanzwesen, aber auch in Künstler- und Gelehrtenkreisen
hervor. In der jahrtausendealten jüdische Bildungstradition und der
rückhaltlosen und loyalen Assimilation sieht Begley die Gründe. Dreyfus'
Familiengeschichte wird exemplarisch für den steilen Aufstieg in nur zwei
Generationen ausgeführt. Und auch die Armee stand jetzt formal Juden offen –
nicht mehr die Herkunft, sondern die Leistung zählte. Im restaurativen Denken
des französischen Offizierskorps galt dies jedoch als unselige Anomalie.
Juden waren, so die weit verbreitete Meinung, keine echten Franzosen.
Die Teufelsinsel als Archetyp für Guantánamo Statt eine deeskalierende und beruhigende Rolle zu übernehmen, verfällt die politische Klasse schnell in einen alarmistischen Aktionismus, der mit allen Mitteln – auch denen der bewußten Lüge und Falschinformation – betrieben wird. Es entsteht eine gefährliche Mischung zwischen "Volkes Stimme", der zum Handeln gezwungenen Staatsmacht und Massenmedien, die sich plötzlich als Sprachrohr der Mehrheitsmeinung geriert. Es zeigt sich: Unterdrückung und Ungerechtigkeit suchen sich immer wieder die gleichen Opfer: Außenseiter und Minderheiten, die Abneigung und Misstrauen wecken. In ihrem Fall ist "die Schuld immer zweifellos". Das war der Grundsatz des Offiziers in Kafkas 'Strafkolonie', und die Bush-Regierung verfuhr mit den Gefangenen, die sie im Zuge des Kriegs gegen den Terror gemacht hatte, nach einem sehr ähnlichen Prinzip. Begley sieht durchaus Parallelen im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts und den USA im Jahr 2001 (und, fast "nebenbei", auch im Jahr 2003, als es um die Rechtfertigung zum Irakkrieg geht). Frankreich war durch die Niederlage im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 (es gibt einen ausführlichen Exkurs hierüber im Buch) gedemütigt worden, mußte hohe Reparationszahlungen leisten und zwei Provinzen an Deutschland abtreten (Dreyfus' Familie stammt aus Elsaß-Lothringen; die Kombination 'Elsässer und Jude' im Fall von Dreyfus erwähnt Begley nur am Rande). Auch die USA wurde durch den ersten Angriff auf amerikanischem Boden seit Pearl Harbor gedemütigt. In beiden Fällen handele es sich um ein einschneidendes nationales Trauma. Die Bush/Cheney-Administration nutzte die Terroranschläge als Legitimation dafür, in den USA alarmierende Risse in die Herrschaft des Gesetzes zu sprengen, während restaurativen Kräften im Frankreich des 19. Jahrhunderts die Dreyfus-Affäre als willkommene Gelegenheit diente, gesellschaftliche Veränderungen aufzuhalten.
Parallelen zum Antisemitismus des 19. Jahrhunderts Begley suggeriert, daß der von der Bush/Cheney-Administration inszenierte Anti-Terrorismus-Kampf Züge des französischen Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts trägt (am Ende zeigt Begley in einer bemerkenswerten kleinen Studie von Marcel Prousts "Recherche", wie der Antisemitismus in der "besseren Gesellschaft" Frankreichs eingezogen war und welche Blüten er trieb). Präzisiert man den Begriff des Antisemitismus als Judenfeindlichkeit, so könnte man in Anbetracht der Ereignisse nach dem 11. September von einer virulenten Muslimfeindlichkeit mindestens in den USA sprechen. Es wird skizziert, daß die Parallelen in der Entrechtung der Gefangenen in den USA (er beschränkt sich auf die USA und geht nicht auf andere Staaten ein) mit der Entrechtung eines Alfred Dreyfus vergleichbar sind. So wurde Dreyfus wie auch die Angeklagten von Guantánamo vor ein Gericht gestellt, das in der Hand seiner Ankläger war. Hier wie dort wurde auf der Grundlage von geheimem Beweismaterial verurteilt, das weder der bzw. die Angeklagten noch die Verteidiger kannten. Beide Vorgehensweisen sind eines Rechtsstaats unwürdig. Gleichzeitig stellt Begley aber auch klar: Verglichen mit den Verbrechen und Rechtsverletzungen der amerikanischen Kriegsführung wirken die Rechtsbrüche deren sich der französische Generalstab durch seine erbarmungslose Strafverfolgung von Dreyfus schuldig machte minimal. Zwar wurde Dreyfus auch in Isolationshaft gehalten und ihm essentielle Rechte verwehrt. Aber die Misshandlung in Guantanámo hat eine andere, schrecklichere Dimension. So werden sie beispielsweise durch wiederholte Traumata in den Zustand "erlernter Hilflosigkeit" versetzt, so daß ihre Willenskraft und das Zutrauen, Kontrolle über die eigene Welt zu haben verloren geht und sie nun vollständig abhängig von ihren Aufsehern wurden. Begley scheut hier einen drastischen Vergleich nicht: Mit dieser Pervertierung von Medizin und Psychologie zum Nutzen der Folter sind die Vereinigten Staaten in die Fußstapfen Nazideutschlands und Sowjetrußlands getreten.
Vom Heldentum, doch zu bleiben Obwohl sich alle Beweise als entweder gefälscht oder einfach nichtig herausstellten, wurde Dreyfus im Revisionsverfahren 1899 schuldig unter mildernden Umständen zu einer Haftstrafe von zehn Jahren verurteilt und kam erst nach einem komplizierten Prozedere durch die Begnadigung durch den Staatspräsidenten frei. Die formale Unschuld und vollständige Rehabilitation fand erst 1906 statt (er starb 1935). Dreyfus ging als Major zurück in die Armee. Begley treibt die Frage um, warum er trotz der Ereignisse, der Verachtung und Abneigung, die ihm über all die Jahre aus der Armee entgegengeschleudert wurde den Rest seines aktiven Lebens in der Gesellschaft von ihresgleichen zubringen wollte und zitiert als des Rätsels Lösung eine Bemerkung aus einem Kafka-Brief, als dieser einen randalierenden antijüdischen Mob 1920 in Prag beobachtet ein "Heldentum" ausmacht, welches darin besteht "doch zu bleiben". Dreyfus klammerte sich an den Platz, den er als seinen angesehen habe, so Begley; die gute Nachricht, das Versprechen war einfach zu verlockend. Louis Begley gelingt es, den Leser in den Sog dieser Geschehnisse zu ziehen und die Protagonisten, Schurken wie Lichtgestalten, lebendig werden zu lassen. Die Metamorphose des Nachrichtenbürochefs George Picquart etwa, der selber Opfer von Hasstiraden wird, die teilweise noch von denen gegen Dreyfus übertroffen werden. Und natürlich Zolas Eintreten für Dreyfus, gipfelnd in seinem offenen Brief an den französischen Ministerpräsidenten von 1898 ,"J'accuse", einem Meisterwerk politischer Literatur oder Jean Jaurès' Artikelserie, ebenfalls als offener Brief, gerichtet an den damaligen französischen Kriegsminister Cavaignac, in dem er Punkt für Punkt die Anklagepunkte gegen Dreyfus zerpflückte. Und aller Unkenrufe zum Trotz und aller Infiltration durch nationalistische, rassistisch und antisemitische Zeitungen und Publikationen: die (links-)liberale Presse hat wesentlich zur Aufklärung des Falls Dreyfus und zur Rehabilitation des Offiziers beigetragen. Diese Leute haben, so Begley emphatisch, die Ehre der Nation gerettet. Auch hier der Vergleich mit den Journalisten, Anwälten und Mitgliedern der Bundesgerichte, die sich gegen die Bush-Regierung stellten und sich für die Rechte beispielsweise der in Guantánamo Inhaftierten einsetzten.
Das
Vorwort Begleys zu diesem Buch trägt als Datum den 21. Januar 2009 – dem Tag der
Inauguration von Barack Obama und die Hoffnungen des Autors in diesen neuen
Präsidenten sind immens. Inzwischen scheint es, daß Begleys dunkle Prognose, daß
die Verbrechen der Bush-Regierung eines nicht allzu fernen Tages unter dem
Narbengewebe aus Schweigen und Gleichgültigkeit verschwinden könnten
ausgerechnet durch Barack Obama eingelöst zu werden. Die großen Dramen und
Romane über die Zeit der Bush-Regierung, die das Land vorübergehend einer
Art Gehirnwäsche unterzogen zu haben schien, müssen noch geschrieben werden;
vielleicht von einer anderen Generation, weil die Auswirkungen dieser Politik
immer noch in den Alltag hineinragen. Spätestens hier hören die Parallelen der
Dreyfus-Affäre und dem "Kampf gegen den Terror" auf: Es ist alles ein bisschen
globaler und ein bisschen ekliger geworden.
Die
kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch. |
Louis Begley
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