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16. Februar 2021

Badile, der schönste Granit aller Gebirge

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Badile, der schönste Granit aller Gebirge

Von Helmut Scheben, 04.09.2012

Am Ende des Bondascatales im Bergell steht ein Felsturm, der aussieht wie eine gewaltige Schaufel aus Granit, daher sein italienischer Name: Badile.

Um 4.30 Uhr Aufbruch von der Sass Fora Hütte. Die Stirnlampen helfen, in der Dunkelheit die blau-weissen Markierungen zu finden. Irgendwann gibt es keinen Weg mehr; mühsames Klettern über grosse Felsbrocken. Das Gleichgewicht zu halten ist schwer, wenn man die Umgebung nicht sieht, sondern nur Lichtflecke auf Steinen. Stimmen aus dem Dunkel, eine italienische Seilschaft überholt uns keuchend, alle wollen die ersten am Einstieg sein, um eine freie Kletter-Route vor sich zu haben. Weit oben über uns Lichter von einer anderen Seilschaft, die noch früher aufgebrochen ist.

Leichte Beklemmung und tiefes Durchatmen

Im Osten wird es hell, als wir die glatten Granitplatten erreichen, von denen im Kletter-Führer die Rede ist. Wir sind auf dem richtigen Weg. Vorsichtiger Anstieg auf Reibung. Als wir an den Grat kommen, ist schon eine andere Gruppe beim Anseilen. Jetzt ist es hell genug, um die Stirnlampen auszuschalten.

Der Blick nach oben ist spektakulär: über 1‘200 Meter zieht sich die gewaltige Kante hinauf, durchsetzt von einzelnen Spitzen, die auf den durchschnittlich begabten Kletterer geradezu überhängend wirken. Da müssen wir wohl hinauf, schmunzelt Bergführer Dietmar Walser. Leichte Beklemmung und tiefes Durchatmen meinerseits. Es sind rund 25 Seil-Längen, fünf bis sieben Stunden, so war im Kletterführer zu lesen.

Foto: Marco Volken
Foto: Marco Volken

Der Badile. Dem breiten Publikum ist er glücklicherweise nicht so bekannt wie das Matterhorn, das zu einer Art alpinistischem Supermarkt verkommen ist. Der Badile ist noch nicht so überlaufen, aber gleichwohl eine Legende. Kaum ein Gipfel zwischen den Dolomiten und dem Mont Blanc ist in der Kletterszene so bekannt wie diese gewaltige Granitschaufel. Die Nordostwand ist berühmt wie nur eine Handvoll Nordwände in den Alpen. Wer Badile sagt, denkt an Riccardo Cassin. Die Route, die er 1937 als erster durch die Wand legte, heisst einfach „Cassin“. 50 Jahre später kletterte er die Route noch einmal, da war er 78 Jahre alt. Und Walter Bonatti, ein anderer unter den grossen italienischen Kletterern, sagte einmal, der Badile sei „der schönste Granit der Welt“.

Die Nordkante, die wir jetzt angehen, wurde am 4. August 1923 erstmals durchstiegen. Die Erstbegeher, der Bergführer Walter Risch und sein Gast Alfred Zürcher, brauchten 17 Stunden und 45 Minuten für die Überschreitung auf die italienische Seite, davon 12 Stunden schwerste Kletterarbeit bis zum Gipfel. Unter den technischen Bedingungen der damaligen Zeit ist das eine unvorstellbare Leistung. Alfred Zürcher beschreibt, wie sie an schwierigen glatten Platten mit einem Eisbeil Stahlstifte in den Fels schlagen, um den Fuss darauf zu stellen. Einmal queren sie in die Nordostwand hinaus, um eine abweisende Gratstelle zu umgehen.

Keine Pläsir-Kletterroute

„Ein Erosionsband führte direkt in den grausigen Nordostabsturz hinaus. Manchmal ist es halbmeterbreit, manchmal nur wenige Zentimeter, dann zieht es sich als kleiner Riss in dieser Wand fort. Eine beidseitige Sicherung war vollständig ausgeschlossen. Im Spreizschritt tasteten die Fuss-Spitzen nach kleinen Halten in winzigen Rissen… Stiess ich den Oberkörper nur wenige Zoll von der Wand weg, so sah ich 800 Meter unter mir den leuchtenden zerrissenen Cengalogletscher. Es war furchtbar.“

Das ist nachzulesen im Fotoband „ Badile – Kathedrale aus Granit“ (Zürich 2006), in dem der Autor und Fotograf Marco Volken einzigartige Zeugnisse und Autorenstimmen zur Geschichte des Badile zusammengetragen hat.

Heute hat die Nordkante ihren Schrecken verloren. Sie zieht in jedem Sommer Alpinisten aus aller Welt an. So auch vergangene Woche. Japaner, Rumänen, Briten, Italiener und Schweizer sind am Grat, alle wollen die sagenhafte Nordkante bewältigen, alle haben im Führer gelesen, es sei technisch einfache Kletterei im vierten bis fünften Grad. Jeder denkt, mit ein wenig Kondition und Willenskraft sei die Sache zu machen. Was viele nicht wissen: Dies ist keine Pläsir-Kletterroute, wo alle zwei Meter ein Bohrhaken wartet. Die Absicherung zwischen den Standplätzen mit Schlingen, Klemmkeilen und Friends ist an vielen Passagen jedem selbst überlassen. Es ist eine sehr lange alpine Tour, kein Klettergarten-Gelände.

Ein Teufelskreis

Der Tag ist wolkenlos, fast windstill, dennoch ist die Luft eisig, sobald man am Grat auf die Schattenseite gerät. An den sonnigen Stellen hingegen klettert man wie blind, denn man muss bei der Suche nach dem nächsten Griff fast gerade hinauf in die Sonne schauen, die genau über dem Nordgrat blendet. Nach fünfzehn Seillängen merkt man die Anstrengung. Nach zwanzig Seillängen kommt zur Ermüdung das Gefühl der Irrealität: Man klettert wie in Trance, der Gipfel scheint nicht näher zu kommen, wird zur Fata Morgana.

Die Angst spielt immer eine Rolle. Angst kostet Kraft. Wer an den ausgesetzten Passagen Angst bekommt, verkrampft den Körper, wird steif wie ein Brett, spannt alle Muskeln an, hält sich viel zu lange an einem Griff, verbraucht dadurch viel mehr Muskelkraft als nötig. Die Kraftverschwendung bewirkt eine Erschöpfung, und mit der Erschöpfung wächst die Angst. Ein böser Kreislauf.

Krämpfe in Händen und Waden

Anders die extrem trainierten Kletterer. Sie gehen von unten bis oben mühelos, wie jene jungen Italiener, die an den Standplätzen überhaupt nicht anhalten zum Sichern, sondern einfach durchlaufen. Der erste legt Express-Schlingen und hängt das Seil ein, der Nachfolgende nimmt die Schlingen mit. So klettern sie die Route non stop, als wärs ein Spaziergang. Anders die weniger Geübten. Sie bekommen nach zwei Dritteln der Route bereits Krämpfe in Händen und Waden, haben das Gefühl, sie werden niemals da oben ankommen.

Am frühen Nachmittag sind wir auf dem Gipfel. Was wir noch nicht wissen: Der Abstieg auf die italienische Seite wird nochmal mehr als drei Stunden in Anspruch nehmen. Es geht sechshundert Meter ziemlich steil ins Loch hinab. Wir versteigen uns an einer Stelle, haben dann einige Mühe bei der Suche nach den richtigen Abseilstellen. Ein paar Mal finden wir nur wettergebleichte Reepschnüre, die wir Zentimeter für Zentimeter prüfen, bevor wir das Seil und das Leben daran aufhängen.

Abends um sechs das letzte Abseilen. Wir sind unten, wir haben es geschafft. Hinhocken auf die Steine, die Kletterfinken von den schmerzenden Füssen ziehen, die geschwollenen Finger können kaum noch greifen. Ein Stück Käse und ein Stück Brot, die Wasserflasche ist schon lange leer. Doch weiter unten wartet in der milden Abendsonne die Capanna Gianetti auf uns mit gut italienischem Hüttenessen und einem Glas Veltliner.

Zerlumpt, aber freudestrahlend

Am nächsten Morgen der Abstieg ins Veltlin: Den machen wir mit ähnlichem Hochgefühl wie die beiden Erstbegeher vor fast einem Jahrhundert.

Alfred Zürcher schrieb damals im SAC-Heft: „Dann flickten wir unsere durchgelaufenen Kletterschuhe und eilten im Sturmschritt dem Val Masino zu, mieteten dort einen Wagen und fuhren in brennender italienischer Sonne durch ein wahres Paradies der Bahnstation Arbenno Masino zu. Der elektrische Zug trug uns durch ein Zauberland Collico entgegen. Hier rasteten wir unter schattenden Kastanienbäumen und fuhren hernach Chiavenna zu. Dort mieteten wir einen Zweispänner und gelangten verwildert, zerrissen, zerlumpt, aber freudestrahlend um die fünfte Nachmittagsstunde vor das Hotel Bregaglia in Promontogno.“

Sie werden als Helden empfangen, und als sie am Abend nach Tisch vor den Gasthof treten, blicken sie nach Süden: „Aus dunklen, düsteren Tannengipfeln ragt ein mondbeschienener silbergrauer Grat in die sternbesäte Unendlichkeit hinein. Es ist die Nordkante des Piz Badile.“

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