Bewusste Irreführung

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Bewusste Irreführung

Von Roland Jeanneret, 16.08.2016

Die sogenannte „Selbstbestimmungs-Initiative“ der SVP stellt das Recht auf den Kopf und ignoriert frühere Volksentscheide.

Ende letzter Woche hat die SVP ihre „Selbstbestimmungs-Initiative“ mit 115 000 Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht. Rechtsunsicherheit und Schwächung des Bundesgerichts wie des Europäischen Gerichtshofs sind unter anderem offensichtlich bewusst anvisierte Ziele. Ausgerechnet die „Volkspartei“ versucht einmal mehr, frühere Volksentscheide auszuhebeln.

Augenwischerei

„Die Bundesverfassung steht über dem Völkerrecht und geht ihm vor“, verlangt der neuste Vorstoss der SVP gleich im ersten Paragraphen. Würde „Schweizer Recht statt fremde Richter“, wie sich die Initiative populistisch nennt, angenommen, müsste sich künftig ausländisches Recht nicht nur schweizerischem Recht anpassen, sondern bereits bestehende Abkommen müssten allenfalls gekündigt oder neu verhandelt werden.

Mit der Initiative reagiere die Partei unmissverständlich auf die „inakzeptable Einmischung des Parlaments, der Regierung, der Verwaltung, der Justiz und der Rechtslehre in die verfassungsmässige Rechtssetzung“, begründet SVP-Präsident Albert Rösti die Initiative.Die Rechtssetzung sei „alleine Sache des Volkes und der Stände“.

Dies ist Augenwischerei. Unser Land, immerhin Depositärstaat der Genfer Konvention, würde damit – einmal mehr – bei der Völkergemeinschaft in eine unglaubwürdige Situation manövriert. Bereits jetzt stehen wir vor der Tatsache, dass sich die Masseneinwanderungs-initiative nicht im Wortlaut umsetzen lässt und die – vom Souverän ganz klar abgelehnte – Durchsetzungsinitiative unserem Land international beträchtlichen Imageschaden zugefügt hat.

„…zwingende Bestimmungen des Völkerrechts“

Nach allgemeiner Rechtsauffassung ist unsere schweizerische Gesetzeshierarchie nicht bestritten: Ratifiziertes internationales Recht geht vor Bundesrecht, dieses vor Kantonsrecht und dieses wiederum vor Gemeinderecht. Dies will die SVP-Initiative nun ändern: Schweizerisches Bundesrecht soll vor internationales Recht gestellt werden. Es wird zwar eine Ausnahme vorgesehen, wenn es sich um „zwingende Bestimmungen des Völkerrechts“ handelt. Doch was heisst das im konkreten Fall?

Zwingendes Völkerrecht (lus cogens) bezeichnet fundamentale Regeln des Völkerrechts, ist sozusagen der „harte Kern“ im Völkerrecht. Diese Regeln dürfen nie gebrochen werden und können ihrer zentralen Bedeutung wegen nur durch neues, zwingendes Völkerrecht aufgehoben oder geändert werden. Verträge, die dem zwingenden Völkerrecht zuwider laufen, sind nichtig. Es ist also eine Selbstverständlichkeit, dass die eingereichte Initiative nicht dagegen verstossen kann.

Der Haken ist allerdings, dass „zwingendes Völkerrecht“ nicht in einer abschliessenden Aufzählung erfasst wird, sondern sich eher aus allgemein anerkannten Gewohnheitsrechten ableitet. Darunter fallen Gewaltverbot, Folter, Verbrechen gegen die die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Genozid, Apartheid, Sklaverei und Piraterie.

Europäische Menschenrechtskonvention EMRK

Der Europarat beschloss am 10. Dezember 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als verbindlichen völkerrechtlichen Vertrag und richtete 1959 zur Kontrolle der Einhaltung den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg ein. Die Schweiz ist seit 1963 Mitglied des Europarates und trat 1974 der Europäischen Menschenrechtskonvention bei, die minimale Standards verankert. Immer wieder wird dieses europäische Gericht als „fremde Richter“ bezeichnet. Die Schweiz hat aber in Strassburg permanent zwei Sitze und ist dort integriert. Entgegen eines allgemein vorherrschenden Eindrucks sind jedoch die allermeisten Klagen gegenüber der Schweiz abgewiesen worden. Die ausgesprochenen negativen Urteile gegen unser Land machen bloss 1,6 Prozent der Klagen aus! Soviel zu den „fremden Richtern“.

foraus-Kritik: „Irrungen und Wirrungen“

Bis die „Selbstbestimmungsinitiative“ zur Abstimmung kommt, wird es noch geraume Zeit dauern. Der Text hat allerdings schon jetzt mehrere Parteien und Verbände mit kritischen und warnenden Kommentaren auf den Plan gerufen. So hat der aussenpolitische Think Tank „foraus“ bereits vor Einreichen des populistischen Vorstosses in einer eben publizierten Studie seine Vorbehalte formuliert. Dabei gehe es um eine rein juristische und keineswegs politische Betrachtungsweise, betont das Forum.

„Die Initiative versucht ein Produkt zu verkaufen, das es nicht gibt“, lautet die generelle Kritik der foraus-Juristen. Weder sei es möglich, verbindliche völkerrechtliche Verträge durch nationales Verfassungsrecht abzuschwächen, noch sei es opportun, von Bundesrat und Parlament genehmigte Staatsverträge zu kündigen. Zudem sieht die von der Schweiz ebenfalls unterzeichnete Wiener Vertragsrechtskonvention vor, dass Verträge einzuhalten sind („pacta sunt servanda“) und sich ein Staat bei der Umsetzung von Völkerrecht nicht auf sein innerstaatliches Recht berufen kann (Art. 27).

Einheit der Materie verletzt

Der Vorstoss beinhalte aber weitere Widersprüche, logische Fehler und berge Gefahren. Die Initiative „schwächt den Schutz der Grund- und Menschenrechte und durch ihre Widersprüche und die Unklarheiten bringt sie mehr Rechtsunsicherheit, als dass sie Klarheit schafft“, schreibt der Autor der Studie, Guillaume Lammers. Lammers ist Doktor der Rechtswissenschaften und spezialisiert auf Fragen zum Verhältnis direkte Demokratie und internationale Abkommen. Seine Ausführungen wurden von vier weiteren Rechtsexpertinnen und -experten begleitet.

Wie schon bei der Masseneinwanderungsinitiative und erst recht bei der abgelehnten Durchsetzungsinitiative werde auch bei der „Selbstbestimmungsinitiative“ die Einheit der Materie verletzt: Wer die Hauptforderung unterstützt, stimme nicht automatisch den (verschleierten) Konsequenzen zu. Hätte die Schweiz – wie andere Länder – ein Verfassungsgericht, würde die neuste SVP-Initiative von diesem höchstwahrscheinlich gar nicht zur Abstimmung zugelassen.

Naivität oder Hinterhältigkeit?

Eine Initiative, die Unsicherheit bringt, im Widerspruch zum Völkerrecht steht, kaum umsetzbar ist, das Image der Schweiz beschädigt und zudem einen irreführenden Titel trägt: Sind ihre Schöpfer juristisch derart unfähig oder in ihrer Absicht derart hinterhältig? Letzteres muss angenommen werden. Die Juristen um ihren polit-juristischen Mentor SVP-Nationalrat und Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt können unmöglich ein solches Machwerk unbeabsichtigt derart fehlerhaft kreiert haben. Offensichtliche Rechtsunsicherheit, politischer Druck auf Bundesrat, Lausanner und Strassburger Richter und Abbau von Völker- und Menschenrechten kann nur absichtlich und gewollt sein.

Offenbar sind bei der SVP noch immer Altideologen beflügelt vom Erfolg der damals (zwar nur knapp angenommenen) Masseneinwanderungsinitiative und haben noch immer nicht verstanden, dass das „dumbe Volk“ sehr wohl merkt, wann der Bogen überspannt wird. Aus der massiven Abfuhr bei der Durchsetzungsinitiative scheinen sie noch nicht genug gelernt zu haben.

Zum besseren Verständnis der Zusammenhänge zwischen nationalem und internationalem Recht sei auf folgende neuste Publikation hingewiesen:

Daniel Högger, Cristina Verones (Hrsg.), Völkerrecht kompakt. Eine komplexe und für die Schweiz bedeutsame Materie kurz und verständlich erklärt, 176 Seiten, NZZ libro 2016

 

Wie kann man ernsthaft eine solch katastrophale Initiative unterstützen. Ohne diesen EMGR hätten wir überhaupt keine letzte Chance mehr. Ich erinnere an die Korrektur der Fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, die Verjährung bei den Asbestopfern oder die Einführung des Haftrichters. Das sind alles Anliegen, welche doch im Prinzip längstens innerhalb der Schweiz hätten umgesetzt werden müssen.
Oder wenn ich an den - im Gegensatz zur EU - rudimentären Konsumentenschutz denke. Es ist typisch für uns, die Anliegen der Armen, Schwachen oder Konsumenten interessieren niemand. Weder die Bürgerlichen noch die Linken engagieren sich für den Bürger. Aber mit hehren Begriffen um sich werfen, da sind sie gross.
Diese Initiative ist für uns Bürger tödlich!

Die SVP zeigt sich in dieser Initiative weitsichtiger als einem lieb ist. Ob sie das bewusst oder unbewusst tut, kann ich nicht beurteilen.

Von bewusster Irreführung zu reden dient der Sache jedenfalls wenig, denn wer von der EU Global Strategie (EUGS) und dem Steinmeier-Ayrault Papier weiss, sieht dass bereits heute offen über einen Niedergang der EU gesprochen wird. Dabei handelt es sich nicht etwa um ein Wunschdenken Papier rechter Parteien, sondern das des offiziellen sozial- und christ-demokratischen Deutschland und Frankreich!

Dieses „Wie Weiter Positionspapier“ tauchte just nach Brexit auf und wurde somit schon lange vorher vorbereitet. Wer den EU Re-Set Knopf ernst nimmt, kann davon ausgehen dass wir in naher Zukunft so oder so neue Verträge aushandeln werden müssen.

Wenn F + D eine EU 2 planen, in deutschen Zeitungen schon heute über den Ausnahmezustand geschrieben und auf Notstandsgesetze hingewiesen wird, Griechenland offen eine südeuropäische Allianz gegen das Spardiktat aus DE fordert, die osteuropäischen Staaten sich als Gruppe zusammentun und auch Europas Rechte sich formieren, dann ist das kein Zeichen von Harmonie sondern grosser Disharmonie. Es weist darauf hin dass sich in Europa was grobes zusammenbraut. Das kann man ignorieren und bagatellisieren oder sehr ernst nehmen. Naiv scheint mir daher auch zu glauben ein EMRK und EuGH würde in einem solchen Fall noch (objektive) Urteile fällen können. Sollte es in Europa knallen so wird, wie so üblich, am Ende der Sieger den neuen Tarif durchgeben.

Ja es kann zu Rechtsunsicherheit und Unsicherheit kommen. Wer alles auf den Kopf stellt sind aber weniger jene, die hier gegen Strom schwimmen, sondern u.a. Geostrategen dessen Namen wir nicht kennen.

Viele Leute vergessen: Wenn es hart auf hart kommt im Leben, dann geht jeder Mensch in die Selbstbestimmung und schaut ab da nur für sich (siehe Flüchtlinge). Ein Kollektiv verhält sich genau gleich.

Die SVP täte gut daran sein Anliegen besser zu kommunizieren. Ein komplexes Thema wird immer von beiden Seiten vereinfacht kommuniziert und die Gegner glänzen in dieser Sache nicht weniger mit populistischer und herabsetzender Rhetorik. Dem Zusammenhalt dienen sie damit auch nicht. Von wegen „Entscheidungshilfe" ...ja auch sie machen den Wähler Angst. Sie tun das, weil sie selbst Angst haben!

Herr Blocher erkennt die Gefahr, dass über die unbesehene Uebernahme von EU Recht die Schweiz ein bedeutendes Stück Weg in die EU zurücklegt, und das scheint mir auch bedenklich. Darum macht Selbstbestimmungsinitiative Sinn.

Herr Häberli an Ihrer Stelle würde ich mir das nochmals gut überlegen. Die EMRK existiert seit 1950. Zu dieser Zeit gab es weit und breit noch keine EU. Ihre Befürchtungen sind somit unbegründet.

Lieber Roland, Du schreibst, die Schweiz habe am Europ. Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg zwei Sitze inne und sei dort entsprechend gut integriert. Wenn etwas - um Deinen Titel als Massstab zu nehmen - "bewusste Irreführung" ist, dann ist es diese Aussage. Jedes Mitgliedsland des Europarates verfügt im EGMR über einen Sitz. So auch Russland, die Türkei, die Ukraine oder Mazedonien. Einen Sitz im EGMR zu haben, sagt aber noch rein gar nichts aus über die Respektierung der Menschenrechtskonvention (EMRK) durch den entsprechenden Entsendestaat. Oder sollte man, um Deiner Logik zu folgen, den Russen, Türken, Ungarn usw. gleich zwei Sitze im EGMR geben, um sie besser im Menschenrechtsambiente zu integrieren?

@M. Reimann im EGMR ist die Schweiz als Mitgliedstaat des Europarates, wie R. Jeanneret richtig sagt, wohl integriert. Ob das jetzt mit einem oder 2 Richter der Fall ist, ist nun wirklich nebensächlich. Entscheidend ist, dass alle Mitgliedstaaten in gleichem Umfang vertreten sind. Und da der vom Fürstentum Liechtenstein gestellte Richter einen Schweizer Pass hat, sitzen z.Z. im EGMR effektiv 2 Schweizer. Eine solche Lapalie, die nun einmal in der Eile unterlaufen kann, veranlasst Sie gleich zum verbalen Zweihänder zu greifen. Damit machen Sie sich bestenfalls zum „tragischen Helden“ eines Comics und bestätigen der ganzen Leserschaft, dass Sie R. Jeanneret wirklich nichts Substanzielles seiner fundierten und berechtigten Kritik entgegenzuhalten vermögen.
Ganz offensichtlich kennen Sie, gemäss Ihrer Argumentation, den Unterschied zwischen einem Gericht und einem politischen Gremium nicht. Zum Glück gibt es für die Bürger, der von Ihnen aufgezählten Staaten den EGMR in Strassburg, der unabhängig von den jeweiligen Regimes seine Entscheide nach europäisch anerkannten Rechtsgrundsätzen fällt. Was wäre die Alternative? Sie zeigen damit ja selber auf, wie wichtig der EGMR für uns alle ist. Auf eine solche Errungenschaft verzichtet man ohne Not nur im Zustande geistiger Umnachtung per Stimmzettel.

Hervorragende Analyse, präzise Schlussfolgerung.

Vielen Dank für diesen fundierten und klärenden Beitrag. Entlarvter Populismus ist die beste Entscheidungshilfe. Meine Entscheidung steht. Ich bin zwingend gegen solche Zwängeliinitiativen!

Wenn diese Initiative angenommen würde und dadurch die EMRK in der Schweiz keine Geltung mehr hätte, dann könnte auch kein Schweizer mehr gegen Entscheide des Bundesgerichts klagen.
Jetzt soll mir aber bitte mal jemand erklären, wie irgendjemand ernsthaft glauben kann, dass wenn er auf seine Rechte und erweiterten Klagemöglichkeiten verzichtet, mehr Selbstbestimmung haben wird?
Darum ist diese Initiative sicher nichts, was die Schweizer und Schweizerinnen in ihren persönlichen Rechte stärkt! Diese unnötige Initiative dient einzig und alleine dazu, die Institutionen zu schwächen und internationale Verträge durch die Hintertür abzuschaffen, und darum ist sie selbst bei sehr oberflächlicher Betrachtung in Bausch und Bogen abzulehnen!

Genau so ist es mit dieser Initiative. Wer sie bejaht, stimmt selbst einer Schmälerung seiner eigenen Rechte zu – ein Eigentor par excellence. Natürlich hätte man in diesem Fall nur noch „eigene Richter“, doch Hand aufs Herz, wer von uns kennt nur schon die Namen der amtierenden Bundesrichter.
Ebenso fatal, bei einer Annahme dieser Initiative, wäre die damit verbundene Angleichung all der internationalen Verträge an diese neue Situation, die über Jahre die Bundesverwaltung und die eidg. Räte lahmlegen würde. Die verfahrene Situation die wir uns mit der MEI eingehandelt haben ist da nur ein Vorgeschmack. Wir haben weiss Gott wesentlich wichtigere und dringendere Probleme anzugehen, als uns jahrelang mit Scheinproblemen herumzuschlagen, die eine Politsekte gezielt nur als Marketinginstrument in eigener Sache einsetzt.

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