Braucht es zehn Prozent mehr?

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Braucht es zehn Prozent mehr?

Von Christoph Zollinger, 10.09.2016

Wer würde sich nicht bedanken für dieses grosszügige Geschenk! Man schaut zwar einem geschenkten Gaul nicht ins Maul, doch manchmal muss man ein Geschenk ablehnen.

Am 25. September stimmen wir darüber ab, ob alle AHV-Renten ab 2018 nach dem Giesskannenprinzip um zehn Prozent erhöht werden sollen. Es braucht zehn Prozent mehr AHV, sagen die Gewerkschaften. Warum sagen dann Bundesrat, Nationalrat, Ständerat, SVP, FDP, CVP, GLP, BDP und EVP Nein zu diesem Ansinnen?

Argumente auf wackligen Beinen

Schon die Abstimmungsfrage ist tendenziös: „Wollen Sie die Volksinitiative ‚AHVplus: für eine starke AHV’ annehmen?“ Wer könnte denn etwas gegen eine starke AHV einwenden?

Die Initianten – Gewerkschaften, SP und Grüne – rufen uns auf, zu rechnen. Wer sich allerdings die Mühe macht, anstelle von Schlagworten Fakten zu beachten, also tatsächlich zu rechnen, kommt bald einmal zum Schluss, dass hier unredlich argumentiert wird.

Bei der Frage, ob es tatsächlich zehn Prozent mehr AHV brauche, lohnt es sich, tiefer nachzufragen. Die heutigen Renten zwischen 1’175 und 2’350 Franken monatlich genügten nicht, um den Existenzbedarf angemessen zu decken, rufen die Gewerkschaften. Verschwiegen wird bewusst, dass Bund und Kantone seit Jahren Ergänzungsleistungen ausrichten, wo die AHV nicht reicht. Genau und zielgerichtet an jene Personen, deren Existenzbedarf sonst nicht gesichert ist.

Wer noch tiefer gräbt, realisiert, dass die Forderung nach genereller Rentenerhöhung noch aus zwei weiteren Gründen am Ziel vorbeischiesst. Erstens würden sich die oben erwähnten Menschen, jene, die heute Ergänzungsleistungen beziehen, ins eigene Fleisch schneiden. Steigt nämlich die AHV-Rente, so fällt entsprechend der Anspruch auf solche Ergänzungsleistungen. Zweitens würden auch all jene, die es gar nicht nötig haben, mit staatlichen Zusatzmitteln beglückt. – Warum dann diese Initiative?

Projekt Altersvorsorge 2020

Um obige Frage zu beantworten, hilft es, wenn wir uns Rechenschaft darüber geben, dass unsere Politikerinnen und Politiker seit Jahren mit dem Reformprojekt „Altersvorsorge 2020“ beschäftigt sind. Ein Generationenprojekt, das richtigerweise mehr als nur AHV-Renten einschliesst. Basierend auf der demografischen Entwicklung in der Schweiz (immer mehr Pensionierte, immer weniger Arbeitende, immer längere Lebenserwartung) zeigen alle Modelle, dass die Finanzierung der Renten im bisherigen Rahmen nicht mehr möglich ist. Dazu kommen Einnahmeausfälle aller am Vorsorgesystem beteiligten Träger – neben der AHV (erste Säule) auch der zweiten (berufliche Vorsorge) und dritten Säule (steuerbegünstigtes Sparen) – aufgrund der weltweiten Negativzinssituation.

Unter diesen Aspekten – und erst noch während der laufenden parlamentarischen Verhandlungen zur Rentenreform 2020 – eine generelle AHV-Erhöhung von zehn Prozent zu fordern, ist unverantwortlich und unehrlich. Das Argument, die AHV würde dadurch gestärkt, ist Propaganda, die sich als politisches Spielchen entpuppt. AHV und Rentenreform 2020 sind zu wichtig, um damit zu spielen.

Der AHV-Fonds schmilzt

Das Defizit der AHV belief sich 2015 auf 558 Millionen Franken, jenes von 2014 auf 320 Millionen. Zur Erinnerung: Die AHV wird im Umlageverfahren finanziert. Die jährlichen Einnahmen sollten also die jährlichen Ausgaben decken. Verlässliche und nachvollziehbare Prognosen des Bundes rechnen mit einer jährlich grösser werdenden Finanzierungslücke.

Dieser misslichen Situation soll im Reformprojekt „Altersvorsorge 2020“ Rechnung getragen werden. Dort wird hart darum gerungen, welchen Sanierungsanteil höhere Prämien, höheres Pensionierungsalter, höhere Mehrwertsteuer oder tendenziell sinkende Renten haben sollen. Die ganze Übung soll dann für längere Zeit das Problem Altersvorsorge in ausgewogener Weise lösen. Da auch dort von linker Seite gleichzeitig Rentenerhöhungen gefordert werden – was quer in der Landschaft steht – ist jetzt auch zu durchschauen, warum mit der Initiative AHVplus vorzeitig Fakten geschaffen werden sollen. Weitgehend auf Kosten der Jungen.

Geld verteilen ist einfach

Geld zu verteilen ist einfacher, als sich darüber Gedanken zu machen, woher es kommen soll. Die entsprechende Rentenerhöhung hätte bis im Jahr 2030 ein Loch von 5,5 Milliarden Franken zur Folge. Längst ist aber bekannt, dass dannzumal auch ohne das von den Initianten geforderte Geschenk in der AHV sieben Milliarden fehlen werden, zusammen also satte 12,5 Milliarden Franken.

Realisiert man, dass heute vier, in zwanzig Jahren aber nur zwei Erwerbstätige einen Rentner finanzieren und diese Bezüger erst noch eine viel längere Lebenserwartung haben … genau, Sie haben Recht mit Ihrer Frage: Wer soll das bezahlen? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht einfach. Höhere Mehrwertsteuer – es träfe die ganze Bevölkerung. Höhere Lohnabzüge – zu finanzieren durch Berufstätige und Arbeitgeber.

Beides zusammen hiesse höhere Lohnnebenkosten und somit Verschlechterung der internationalen Konkurrenzfähigkeit, die heute schon durch den starken Franken unter Druck ist. Oder sind wir bereit, das Rentenalter von 65 auf 67 Jahre zu erhöhen, also zwei Jahre länger zu arbeiten bis zur Pensionierung?

Rentenalter 67?

Auch hier zuerst die Fakten. Bei Einführung der AHV im Jahr 1948 betrug die Lebenserwartung bei Geburt in der Schweiz 66 Jahre. Heute, 68 Jahre später, beträgt sie 82 Jahre – 16 Jahre längeres Leben und somit Bezugsdauer der AHV-Rente.

So erfreulich das ist, so nüchtern sind die Konsequenzen zu betrachten: Immer mehr Ältere beziehen immer länger eine immer höhere Rente (diese wurde zu wiederholten Malen der Kaufkraft angepasst), die letztlich durch immer weniger Arbeitende aufgebracht werden muss.

Einen ähnlichen Trend beobachten wir in vielen anderen westlichen Ländern. Deshalb haben bereits mehrere OECD-Länder eine vorläufige Erhöhung des Rentenalters um ein bis zwei Jahre beschlossen. Auch die Schweiz wird nicht darum herumkommen, selbst wenn die Gewerkschaften dies als absolutes No-Go abstempeln.

Eine solche fundamentale Änderung müsste natürlich mit entsprechenden gesetzlichen Vorschriften verbunden sein. Nicht in jedem Beruf wäre sie durchsetzbar. Und nicht wenige Firmen und Konzerne müssten ihre heute praktizierte egoistische Usanz der frühzeitigen Pensionierung aufgeben. Doch, wer weiss, vielleicht hilft bei diesem Paradigmenwechsel die demographische Entwicklung. Sie lässt bekanntlich einen grossen Mangel an Arbeitskräften erwarten.

Unsichere Renten?

Nach sieben Jahrzehnten AHV stehen unsicherere Zeiten an. Die höchst komfortable garantierte AHV-Rente ist eine grosse Errungenschaft. Viele Menschen im Land betrachten sie mittlerweile als eine Art Grundrecht, um in der dritten Lebensphase relativ komfortabel und sorgenlos leben zu können.

Einiges deutet darauf hin, dass diese stabile Grosswetterlage stürmischeren Zeiten Platz machen wird. Vergessen wird auch gern, dass in diesen siebzig Jahren die ausbezahlten Leistungen, aber auch die Ansprüche der Pensionierten stark gestiegen sind. Dass unser Land in Sachen Reformen des politischen Systems unverständlich zögerlich vorankommt, ja diese immer wieder verschleppt werden, passt leider haarscharf in diesen Rahmen.

Ob dies damit zusammenhängt, dass die verantwortlichen Damen und Herren schwierige, unpopuläre Themen angesichts des nächsten Wahltermins lieber in die Zukunft verschieben? Mit anderen Worten: sich zulasten der jüngeren Generation absetzen – diese soll es dann richten.

Solche National- und Ständeräte sind mindestens auf einem Auge blind. Sich der Realität zu verschliessen ist nie erfolgversprechend.

Kompromissbereitschaft statt politische Mätzchen

Die Zukunft der AHV ist viel zu wichtig, um sie politischen Hardlinern zu überlassen. Extremstandpunkte sind der Sache abträglich. Wenn SGB-Präsident Rudolf Rechsteiner die Vorschläge der Nationalratskommission zur Altersvorsorge vom August 2016 im „Tages-Anzeiger“ in gewohnt klassenkämpferischer Art als „Rentenmassaker, knallharten Sozialabbau, Verantwortungslosigkeit“ bezeichnet, entspricht das seiner Optik und Kampfstrategie. Extremforderungen von Arbeitgeberseite sind der Sache ebenfalls abträglich, wie etwa die Idee des automatischen Mechanismus zur Erhöhung des Rentenalters.

Im Hinblick auf das Generationenwerk „Rentenreform 2020“ ist es deshalb auch unklug, wenn die SVP/FDP-Mehrheit jetzt aus Übermut im Parlament dazu tendiert, das Fuder zu überladen. Besonnene Köpfe müssen an Kompromisslösungen arbeiten, um zu verhindern, dass die AHVplus-Initiative vom Volk angenommen wird und damit ein Konsens für die „Rentenreform 2020“ schon mal in weite Ferne rückt. Denn auch dannzumal wird wohl das Volk das letzte Wort haben.

Die AHV ist als ein Selbsthilfewerk der Beitrag leistenden Bevölkerung zu sehen und nicht als Geschenk an alle Welt. Die AHV Rente deckt bei Weitem nicht das ursprünglich Angestrebte. Nachdem die Schweizer Bevölkerung älter wird als früher und länger Rente beziehen, müssen die Beiträge erhöht werden. Der Rentner soll sich nicht zieren und JA stimmen, die ganzen Lebenskosten sind real auch bedeutend mehr gestiegen als der irreale offizielle Index.

Eidg. Volksinitiative „AHVplus“ JA: Über Bundesbeiträge finanzieren!

Die geplante Volksinitiative „AHVplus“ sieht eine um zehn Prozent höhere AHV-Rente vor. Sie kommt zum richtigen Zeitpunkt, müssen doch die Renten aus den Pensionskassen wegen der höheren Lebenserwartung und der geringeren Renditen gesenkt werden. In dieser Situation kann nur die im Umlageverfahren und durch Bundes- und Kantonsbeiträge finanzierte AHV die Ausfälle bei den Pensionskassen kompensieren. Die Finanzierung der zusätzlichen AHV-Leistungen soll ausschliesslich durch Bundesbeiträge finanziert werden. In Frage kommen neben der Mehrwertsteuer zum Beispiel eine Umlagerung des Bundesbudgets, die ganzen Tabaksteuern, eine Kapitalgewinnsteuer oder eine Transaktionssteuer. Auf höhere Arbeitgeber- und Arbeitnehmerabgaben ist zu verzichten.

Aufgrund der jährlichen Kosten im Asylwesen von ca. 1,8 Milliarden Franken (ohne Nebenkosten bei Justiz, Sozialhilfe etc.), sind Rentenerhöhungen daher finanziell schlicht nicht machbar.

Das ist eine schlichte Behauptung, die nicht stimmt und doch so unverfroren aus daher kommt.

"Unverantwortlich und unehrlich" seien die AHV-Initianten, wird hier behauptet. "Unredlich" zudem. Sie forderten mit ihrem Volksbegehren nämlich "Rentenerhöhungen", also "ein grosszügiges Geschenk" für die Pensionierten. Und dabei hätten sie Wichtiges "bewusst verschwiegen".
Diese ganze Argumentation ist selber unehrlich und verschweigt Wichtiges:
1. Von Rentenerhöhung kann bei der AHV-+ Initiative keine Rede sein: Die 10% zusätzlich dienen bloss als teilweiser Ausgleich für die laufend sinkenden Renten aus der 2. Säule. (reduzierter Umwandlungssatz)
2. Bei 110 bis maximal 235 Franken pro Monat ist der Vorwurf eines grosszügigen Geschenks unredlich.
3. Ja, "Geld verteilen ist einfach". Aber nicht an die AHV-Rentner. Sondern an die Privatversicherer, die sich in der laufend schlechteren 2. Säule teils selbst weiterhin grosszügige Geschenke machen: Schon nur die Verwaltungskosten, die sie den Betragszahlenden jedes Jahr abzwacken machen ein Mehrfaches der äusserst günstigen AHV-Verwaltungskosten aus. Wenn schon "Giesskanne", dann sprudelt sie hier – unkontrolliert und intransparent in die Taschen einiger Privater.
3. Hier wird verschleiert, dass es den Rechten (in den Räten) darum geht, die solidarische nonprofit AHV möglichst zu schwächen – um dann profitorientierten Privatversicherern möglichst mehr Geschäftsmöglichkeiten im Milliarden-"Markt" Altersvorsorge zuzuschanzen. Die (bezahlten) Vertreter dieser Versicherer hocken teils direkt in den Räten – und scheuen sich nicht, dort auch noch in den zuständigen Kommissionen ihr Unwesen zu treiben. Man nennt sie inzwischen im Bundeshaus "die Kässeler". Gegen diese Missstände können wir am 25. etwas tun: Mit einem JA zu AHV-Initiative. Niklaus Ramseyer, Bern

PS: Die AHV-Gegner sind oft die selben Kreise, die auch sonst alles verscherbeln wollen, was unser Land stark gemacht hat: Die Swisscom, die SRG, die Post, die SBB (aber dort dann nur die rentablen Liegenschaften!), die SUVA. Absurd wird dies, wenn sie dann auch noch in der SVP sitzen, die keck behauptet, sie verteidige dieses Land.

Als die Erbschaftsteuer im Juni 2015 abgelehnt wurde, welche 2/3 des Ertrages der AHV-zukommen lassen wollte, hätte man Ihren Artikel auch schreiben können. Sie haben es aber nicht getan – im Gegenteil, die ganze Wirtschaftslobby hatte das Problem der Finanzierung bagatellisiert. Heute haben sie wieder die Fahnen gewechselt und spielen das Problem der Finanzierung hoch. Diese Haltung, die dauernde Manipulation und Bevormundung des Stimmbürgers durch Wirtschaftskreise finde ich widerlich und ekelerregend.

Interessant ist, dass die derzeit laufende Unternehmenssteuerreform III und die Freihandelsabkommen weitaus weniger Journalisten picksen, als die AHV-plus.

Die Altersstatistik erhöht sich nicht unendlich, sie entwickelt sich als eine Spindel. Einen Generationenkonflikt heraufzubeschwören, ist nicht fair und im übrigen aus den bekannten Gründen unsolidarisch, insbesondere gegenüber den Frauen (Kinderaufzucht, Pflege, Hausarbeit etc., alles unbezahlte Arbeit für die Gesellschaft).
Eine Studie des Bundesamtes für Sozialversicherungen und des Eidg. Büros für Gleichstellung hat frappante Unterschiede bei den Altersrenten der Frauen und der Männer festgestellt. Im Schnitt sind die Altersrenten der Männer um 37% höher!

Was Sie auch verschweigen, ist, dass die Produktivität des Einzelnen heute sehr viel höher ist als dies bei der Gründung der AHV war. Und die meisten heutigen AHV-Beziehende haben ihre Rente zum grössten Teil selbst finanziert, im Unterschied zu damals bei der Gründung der AHV (siehe auch ausführliche Informationen in der AHV-Broschüre auf www.sgb.ch ).

Die wirtschaftliche Macht übernimmt weiter die politische Macht.
Der globalisierte Liberalismus steht für Sozialabbau, Lohndumping, Aushöhlung der Menschenrechte, Zerstörung jeder Form von Demokratie, von Solidarität, von sozialer Verantwortung, von Ethik, von Bildung und Kultur, Zerstörung der Umwelt.
Der durch die Steuergeschenke an die Wirtschaft und die Hochfinanz (Unternehmenssteuerreformen etc., Freihandelsabkommen) finanziell geschwächte Staat verliert zusehends die Kontrolle und kann das Wahrnehmungsmanko des "Marktes" nicht mehr steuern und regulieren. Regierungen haben kein Geld mehr für die Grundversorgung in der Bildung und im Gesundheitswesen.
Der Einfluss von transnationalen Konzernen in den Prozess der Gesetzgebung nimmt zu, ökologische und soziale Auflagen sollen abgeschwächt oder eliminiert werden (siehe TISA, TTIP, CETA etc.). Die wirtschaftliche Macht übernimmt weiter die politische Macht.

Eine Macht übrigens, die nur auf Kosten von Frauen (Care-Arbeit, Kindererziehung, Hausarbeit, Pflege von Angehörigen etc.) existieren kann. Dass diese unbestreitbar elementaren und prinzipiell gesellschaftserhaltenden Tätigkeiten gar nicht oder sehr schlecht bezahlt werden, ermöglicht erst das Wachstum der Märkte (siehe auch Mascha Madörin, Oekonomin).

Die AHVplus wird heute vor allem die Frauen vor Armut schützen und später im besonderen die heutigen Jungen beiderlei Geschlechts.

Gemäss einer Studie aus dem Jahr 2014 liegt die Schweiz mit einer «Brutto-Ersatzquote» (das Verhältnis zwischen Lohn und Rente) von 58 Prozent im Mittelfeld der OECD-Länder.

Vielleicht lieben Sie, lieber Herr Zollinger, ihre Frau, ihre Mutter, ihre Tochter, ihre Tante, ihre Nichte, ihre Enkelin nicht so sehr wie ihren Sohn, ihren Vater, ihren Onkel etc.

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