„Dann frage ich halt die Eltern!“
Unerwartetes vernimmt, wer Kinderärzte (1) reden hört oder mit Schulpsychologinnen und Sozialpädagogen spricht: Sie behandeln in ihrer Praxis immer mehr Kinder mit psychosomatischen Problemen wie Bauchweh und chronischen Kopfschmerzen. Schülerinnen und Schüler leiden vermehrt unter Schulangst, manche zeigen ein auffälliges Verhalten. Die jungen Patienten leiden zunehmend an Beschwerden, für die es keine somatische Lesart gibt. (2)
Die Kinder werden zu Einzelkämpfern
Die Fachleute diagnostizieren drei Ursachenfelder: Neben dem gesellschaftlich-sozialen Druck sowie familiären Notsituationen sind es auch schulische Gründe. So berichtet eine Ärztin: „Ich habe miterlebt, wie sich Kinder in der dritten Klasse selbstständig den Rechenstoff erarbeiten sollten. Am Montag präsentierte die Lehrerin eine kurze Einführung ins neue Rechenthema; dann mussten die Kinder den Rest der Woche in den Rechenlektionen und bei den Hausaufgaben allein an ihrem Dossier arbeiten.“
Als Lerncoach verteilt die Lehrerin individuelle Lerninhalte. Und genau gleich sieht es in den Fächern Deutsch und Realien aus. Wochenpläne und Arbeitsblätter müssen es richten.
Für Fragen bis zu zwanzig Minuten anstehen
Selbständig soll alles erfolgen – und allein. Das Lernen mutiert vom gemeinschaftlichen Prozess zur Einzelaktivität. Eine Klassengemeinschaft entsteht kaum. Vor allem mittelstarke und leistungsschwächere Schüler sind damit überfordert. Sie geraten unter leistungsmässigen und psychischen Druck.
Dazu kommt etwas Weiteres: Tauchen bei der Planarbeit Probleme und Fragen auf, sind primär Klassenkameraden zu konsultieren, die „Experten“, wie sie heissen. Mit ihnen soll das betreffende Kind die Thematik diskutieren. Will es die Lehrerin um Rat bitten, muss es anstehen – falls das möglich ist. Bis es an die Reihe kommt, dauert es manchmal bis zu zwanzig Minuten, so die Ärztin. Da verwundert der Ausruf nicht: „Dann frage ich halt die Eltern zu Hause!“
Wirkmächtiges Bildungsnarrativ
Kinder müssen heute selbständig lernen; sie sind ihre eigenen Lernmanager. Selbstorientiertes, selbstorganisiertes Lernen SOL nennt sich die Reformdevise. Dahinter steht das Bildungsziel der Selbstregulation. Der Begriff hat eine hohe pädagogische Akzeptanz und ist momentan vielerorts die dominante Unterrichtsform. SOL wurde zu einer Art methodischer Erlösungsformel; entwickelt hat sich ein wahrer Heilsglaube an die Macht dieser Praktik. Ob man dereinst von einem pädagogischen Kunstfehler reden wird? Es wäre nicht das erste Mal, dass nachträglich in Verdacht gerät, was vorerst wie ein Zauberwort wirkte.
Denn bis heute gibt es keinerlei empirischen Belege, dass diese Methode zu einer besseren Unterrichtsqualität führen würde. Im Gegenteil. Ohne hohe Schüleraktivität mittels intensiver Lehrersteuerung, regelmässigen Lernkontrollen und entsprechendem Feedback ist keine hohe Lernwirksamkeit zu erzielen. Darin sind sich die renommierten Bildungsforscher einig.
Autonomie ist Ziel, nicht Voraussetzung
Lernen geht nur übers Selbst; es lernt nur, wer selber lernen will. Auch in diesem Prinzip stimmen die Wissenschaftler überein. Dieses Wollen steht aber nicht immer am Anfang. Autonomie ist nicht die Voraussetzung von Unterricht und Erziehung; Autonomie ist das Ziel. (3) Warum? Bei jungen Menschen sind die Emotionskontrolle und damit die Selbstdisziplin noch nicht fertig ausgebildet, wie der Zürcher Neuropsychologe Lutz Jäncke immer wieder betont.
„Der Frontalkortex befindet sich noch im Reifungsprozess“ (4) – und damit auch die Konzentrationsfähigkeit. Das hat Folgen. Kinder und Jugendliche lassen sich leicht ablenken. Darum, so Jäncke, sei die Selbstlerneuphorie problematisch.
Dem Ich ein vitales und humanes Vis-à-Vis sein
Lehren und Lernen ist ein intersubjektives Geschehen. Es ist ein Vorgang zwischen Menschen. Und was zwischen Menschen läuft, passiert nicht zuerst von Hirn zu Hirn, sondern von Auge zu Auge, von Ohr zu Ohr, von Sinn zu Sinn. Also körperlich und seelisch. Kinder und Jugendliche brauchen die Anregung; sie müssen emotional berührt sein. Dann springt der berühmte Energiefunken über; sie lassen sich vom Unterrichtsstoff entzünden.
Lehrerinnen und Lehrer müssen darum im persönlichen Kontakt führen. Wie eine Chorleiterin, wie ein Dirigent. „Pädagoge“ entspringt dem griechischen paid-agogein, „Kinder führen“. Führen, nicht nur betreuen und begleiten – und ihnen dabei Vorbild sein. Und dieses pädagogische Vorbild der Erwachsenen betont auch der Hochschullehrer Lutz Jäncke.
„Entgegenkommende Verhältnisse“ schaffen
Jäncke fügt bei: „Kinder müssen sich an die Lehrperson wenden können, wenn sie ein Problem haben.“ Genauso verlangt es eine Sequenz im Deutschlehrbuch aus der Reihe „Die Sprachstarken“: „Frage, bis du alles verstanden hast!“ Verstehen erfolgt im Dialog. Die Kinder zu Wissen, Können und Haltungen führen und sie zu Verstehenden machen – das ist das Ziel der Schule.
Bildung ist darum ein interaktives Geschehen – mit dem Ziel: Autonomie des Menschen, Mündigkeit des Einzelnen, Souveränität des Individuums. Diese Autonomie ist nicht von Anfang an gegeben; sie entwickelt sich nach und nach. Selbstständig werden ist ein anspruchsvoller Prozess. Autonomie bildet und bleibt das Ziel eines guten Unterrichts – in einer „Atmosphäre des Vertrauens und Zutrauens, der Geborgenheit, der Fürsorge und des Wohlwollens“, wie es John Hattie als grundlegend und (lern-)wirksam erachtet.
Darum müssen Lehrerinnen und Lehrer in ihrer Klasse für alle Kinder „entgegenkommende Verhältnisse“ schaffen, um den deutschen Soziologen Jürgen Habermas zu zitieren. Und dazu gehören auch Fragen an die Lehrerin. Sie entlasten und klären – und sind die Vorstube der Erkenntnis.
(1) Vgl. Vortragsreihe „Schule & Pädiatrie“ des Vereins Ostschweizer Kinderärzte www.kispisg.ch.
(2) Anja Burri, Kranke Kinderseelen. In: NZZaS, 29.10.2017, S. 20f.
(3) Roland Reichenbach: Philosophie der Bildung und Erziehung. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2007, S. 107.
(4) Lutz Jäncke: „Vom Hirn zum Lernen“. Vortrag an der Universität Zürich im Rahmen „50 Jahre Klett und Balmer Verlag“. 08.11.2017; vgl. Lutz Jäncke: Ist das Hirn vernünftig? Erkenntnisse eines Neuropsychologen. Verlag Hans Huber, Bern 2015, S. 239.
Eine Entgegnung auf die Kritik von Ida Bertschy an Carl Bossards pädagogischer Grundhaltung
Ich erachte es als befreiend, dass ein anerkannter Bildungsfachmann wie Carl Bossard sich nicht scheut, sich mit den täglichen Herausforderungen von uns Lehrerinnen und Lehrern auseinanderzusetzen. Die aktuelle Schulpolitik zeichnet sich ja nicht gerade dadurch aus, dass sie die heissen Eisen mutig anfasst. Probleme wie die hohe Quote an teilweisen Analphabeten am Ende der Schulzeit oder die aufreibende schulische Integration von stark Verhaltensauffälligen sind Dauerbrenner, die dringend gelöst werden müssten. Die Liste fragwürdiger didaktischer Experimente und unausgegorener Lehrmittel ist zu lang, um einfach zur Tagesordnung übergehen zu können. Wer sich in den Lehrerzimmern umhört, stellt fest, dass sich viele Lehrerinnen und Lehrer mehr Sorgfalt bei der Durchführung organisatorischer und didaktischer Neuerungen wünschen.
Carl Bossard stellt konsequent die Frage, unter welchen Bedingungen Pädagogik am besten gelingen kann. Wer seine kreative Art des Denkens kennt, wird nie den Schluss ziehen, dass er sich neuen Entwicklungen verschliesst. Ganz im Gegenteil! Er ist ein pionierhafter Lehrer, der zwischen Neuem und Bewährtem die richtige Balance sucht. Was ihn auszeichnet, ist seine Fähigkeit, Bildungsinhalte im lebendigen Dialog mit den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln.
Schule lebt von starken Lernbeziehungen. Wenn dies Carl Bossard immer wieder betont, so hat das nichts mit dem völlig deplatzierten Vorwurf der selektiven Wahrnehmung zu tun. Vielmehr geht es ihm darum, im oft allzu hektischen Bildungsbetrieb eine pädagogische Wahrheit wieder in Erinnerung zu rufen. Weniger grosse und oft kaum erfüllbare Versprechungen bei den Bildungszielen, dafür mehr Vertiefung und Kreativität bei den elementaren Lernprozessen ist für ihn ein Konzept der pädagogischen Redlichkeit. Wenn er sich kritisch zu einer prioritären Individualisierung äussert, dann hat das nur damit zu tun, dass dabei oft die Gemeinschaftsbildung vernachlässigt wird.
Ich bin Carl Bossard dankbar für seine klugen Analysen und seinen Mut, auch da für pädagogische Wahrheiten einzustehen, wo didaktische Trends in eine andere Richtung gehen. Es lohnt sich auf jeden Fall, sich mit seinen Ansichten auseinanderzusetzen.
Hanspeter Amstutz
Ehemaliger Zürcher Bildungsrat
Tisliacher 23
8320 Fehraltorf
Beiträge im Journal 21 verfolge ich gern. Denn nach allen Erfahrungen der Geschichte tun öffentliche Diskussionen über politische Themen gut, also auch über bildungspolitische. Und oft genug haben diejenigen Stimmen sich längerfristig als die tragfähigen erwiesen, die mit Überzeugung und darum mit Verve für eine Sache gekämpft haben. Churchill wäre ein solches Beispiel; hätte man seine in den Dreissigern vorgebrachten Argumente ernst genommen, hätte das britische Appeasement mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das Inselreich nicht in so weniger schlimme Zeiten schlittern lassen. Sogar gegen Hartnäckigkeit kann man doch kaum etwas haben, solange die hartnäckig vorgebrachten Argumente argumentativ hergleitet sind. Solange sie logisch sind, sind sie auch wahr. Was denn sonst!? Sie können freilich immer noch einseitig sein, weil nicht alle Prämissen berücksichtigt sind. Gegen diese Einseitigkeit kann man den Hartnäckigen auch argumentativ entgegenhalten; das tut allen gut. Heute ist es im Bildungsdiskurs nach meiner Wahrnehmung freilich so, dass das Neue oft hochgelobt wird, ohne es wirklich argumentativ, logisch-rational zu begründen. Da nehme ich vielleicht meinerseits selektiv wahr, zugegeben. Aber selektive Wahrnehmung ist ein verbreitetes Phänomen, gerade darum sind doch Diskussionen förderlich.
Ich vermag aber nicht zu sehen, wie eine Diskussion weiterbringt, wenn eine Diskussionspartnerin mit der subjektiven Empfindung einsetzt: „Ich erachte es als tragisch […].“ (Das Wort „tragisch“ bedeutet gemäss Duden „verhängnisvoll“!)Und dann begründet Frau Bertschy nicht rational, sondern eben nur mit der „selektiven Wahrnehmung“, der Carl Bossard erliege, als ob das nicht immer eine Frage des Gesichtspunkts sei. Sie sagt auch, Carl Bossard sei gegen Neuerungen. Ja sorry: Darf er das nicht sein, wenn er aus seiner Erfahrung und mit verantwortungsgeleitetem Gewissen um die Prekarität vieler Neuerungen weiss. Oder ist „weiss“ zu viel gesagt? Immerhin zitiert er empirische Studien, also logisch-rationale. Wenn einer halt wirklich die „aktuellen Tendenzen und Neuerungen in Schule und Unterricht“ nicht heilsam findet, so ist doch das sein Recht, dagegen die Stimme zu erheben, Das hoffe ich auch im Sinne der Meinungsfreiheit. Alle Argumente des Bertschy-Kommentars spielen auf den Mann; und wo die Sache relevant würde, wird nicht begründet, sondern offensichtlich präsupponiert; zum Beispiel dass die Neuerungen halt einfach gut sind, gilt als sichere Erkenntnis. Eine ausgemachte Sache ist es da auch, dass es Informationen „von gleicher Priorität“ gibt. Aber da in allen Wissenschaften Aussagen rational oder zumindest hermeneutisch stimmig belegt werden müssen, wäre ein gesunder Bildungsdiskurs doch, wo auch gesagt wir, warum welche Informationen gleiche Priorität haben. Damit plädiere ich nicht für das Alte. Aber man sollte nach meinen Beobachtungen das Neue dort pflegen, wo wirklich Missstände festgestellt werden. In diesen Bereichen fehlt vor lauter Innovation die Zeit. So weiss man zum Beispiel um die Schwierigkeit von Maturanden, die Kohärenz in einem Text durchzuhalten. Trotzdem bleibt Grammatikunterricht stark auf Satzgrammatik ausgerichtet. Man weiss auch, dass der Fremdsprachenunterricht kommunikativer sein sollte; und da hat in meinen Augen der Referenzrahmen oder haben die DELF-Prüfungen viele Fortschritte gebracht. Aber werden diese Fortschritte schon so zur Kenntnis genommen, wie sie es sollten? Oder fehlt einfach die Zeit, da zu erneuern, weil die Erneuerungsenergie von Oberflächlichem aufgefressen wird?
Daniel Annen, Schwyz
Ich erachte es als tragisch, dass Carl Bossard seit Jahren in seinen Beiträgen Schule und Unterricht aus einer selektiven Wahrnehmung heraus darstellt. Er wiederholt in jedem Beitrag direkt oder indirekt immer wieder das Gleiche: Die aktuellen Tendenzen und Neuerungen in Schule und Unterricht (Lernerautonomie, Lernen mit Wochenplan, computergesteuertes Lernen, Lerncoaching, Eigenverantwortung, Kooperation, usw.) gehen allesamt in die falsche Richtung. Man könnte sogar vermuten, dass es sich darin um eine fixe Idee handelt, von der sich der Autor nicht mehr lösen kann. Dazu ein Auszug aus Wikipedia: «Im Volksmund spricht man dann von «selektiver Wahrnehmung», wenn ein Mensch auf ein bestimmtes Thema fixiert ist, seine Prioritäten verschoben sind, er nur noch bestimmte Informationen ausfiltert und Aussagen zu diesem Thema – für ihn ein Reizthema – verstärkt wahrnimmt und andere Informationen mit gleicher Priorität überhaupt nicht mehr erkennt oder nur noch spärlich bemerkt, als hätte er eine Brille auf, die nur bestimmte Spektralfarben durchlässt, hier die Aspekte seines «Reizthemas». Er nimmt nur noch wahr, was er glaubt, darin zu erkennen, während alles andere ausgeblendet wird.» Immer wieder figuriert Roland Reichenbach in der Literaturliste. Wer Roland Reichenbach an der Uni erlebt hat weiss, dass eine so einseitige Darstellung von Schule und Unterricht nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden kann. Wenn man aber Reichenbach mit der oben beschriebenen selektiven Wahrnehmung liest, dann kann man natürlich auch zu den Schlüssen von Herrn Bossard kommen: Der Lehrer ist Persönlichkeit, Führer, Vorbild, Kapitän und der einzige Weg zu echter Unterrichtsqualität. Das «Neue am Pädagogenhimmel» ist laut Carl Bossard das Alte: ein guter Lehrer, eine gute Lehrerin. Was für ein Irrtum.
Herr Bosshard, Sie sind der letzte, wegen dem sich das Lesen dieses Blogs noch lohnt. Danke.
Ende der 80er-Jahre, als auch am gymnasium die klassen dauernd grösser wurden, kam ich einmal auf die idee, anfangs des schuljahres alle meine philosophietexte samt einführungen von Descartes bis Habermas auf einmal kopiert (hektographiert, damals noch) abgegeben, damit sich die schülerschaft den stoff eingenständig erarbeiten könne. Anfangs waren alle beeindruckt. Aber bald stellte sich heraus, dass zwar die 2-3 klassenbesten besser wurden, der rest aber dramatisch absumpfte und ich mich als coach zu tode langweilte. Nach 6 wochen habe ich die übung abgebrochen. Als dann vor 10 jahren die schuleitung auf staatliches geheiss hin anfing, mit grossem trara SOL zu propagieren, hab ich ein müdes haruspexlächeln aufgesetzt und stur frontal weitergemacht. Und mich gegen alle mahnungen gewehrt mit dem satz von A. Guggenbühl: "Der schüler lernt den lehrer, nicht den stoff."