Das Kreuz mit heiligen Texten
Kürzlich warf die deutsche Islamwissenschafterin Katajun Armirpur einen Stein in den deutschsprachigen Islam-Debattierteich und schlug damit wieder einmal hohe Kommentarwellen. Sie plädierte in der NZZ (12.11.2014) für eine moderne, aufgeklärte Hermeneutik des Korans, welche zumal auch unmissverständlich aufzeigen sollte, dass der heilige Text keinen Terror à la IS zulasse.
Die Unterweisung der Islamgelehrten
Vordergründiger Anlass zu Frau Armirpurs Plädoyer für eine neue Auslegung des Korans war ein Brief von über hundert meist konservativen muslimische Gelehrten an den «Kalifen» des Islamischen Staates, in dem sie mit akribischem exegetischem Fleiss die Tautologie zu begründen suchen, dass Massaker Massaker sind. Sie sprechen insbesondere dem selbsternannten Nachfolger des Propheten Kompetenz und Autorität ab, rechtsverbindliche Aussagen und Entscheidungen zu treffen.
Was in diesem Setting – sagen wir vorsichtig: nach westlichem Rechtsempfinden – eher bizarr anmutet: Islamische Gelehrte bezichtigen den Chef einer Schlächterbande nicht des Mordes, sondern kanzeln ihn wie einen Seminaristen wegen Fehlinterpretation des Koran ab. Es würden ihm Gründe für sein Treiben fehlen.
Es ist indes fraglich, ob Herr Doktor Ibrahim Awwad al-Badri noch einmal reuig über die Suren geht und zum «wohlverstandenen» Islam zurückfindet. Dennoch findet Frau Armipur die unterweisende Demarche der Gelehrten hervorhebenswert, denn sie demonstriere, dass der Koran über ein genügend schlagkräftiges theologisches Arsenal gegen den Terror verfüge. Nur zu gern würde man dies begrüssen, doch trotzdem bleibt ein tiefes Unbehagen.
Der «richtig verstandene» Islam
Hinter dieser Unterweisung verbirgt sich natürlich der Streit um interpretative Autorität, hier zwischen den Hütern der Tradition und eines Renegaten. Der Streit wirft nun aber seinerseits ein bezeichnendes Licht auf den Islam zurück. Wieder einmal stellt sich, wenn Deuterinnen und Deuter heiliger Texte sich in die Wolle geraten, die Ur-Frage, wer denn eigentlich über die «richtige» Deutung verfüge.
Wie der Philosoph Odo Marquardt unmissverständlich festgehalten hat: «Die Rechthaberei des Wahrheitsanspruchs der eindeutigen Auslegung des absoluten Textes kann tödlich sein: das ist die Erfahrung der konfessionellen Bürgerkriege. Wenn – in bezug auf den heiligen Text – zwei Ausleger kontrovers behaupten: Ich habe recht; mein Textverständnis ist die Wahrheit, und zwar – heilsnotwendig – so und nicht anders: dann kann es Hauen und Stechen geben.»
Moderne hermeneutische Ansätze
Frau Armirpur macht zu Recht darauf aufmerksam, dass es moderne hermeneutische Ansätze gibt, die der traditionellen Korandeutung widersprechen, etwa im Sinne der Gleichberechtigung der Frau. Sie selbst trägt ja verdienstvollerweise dazu bei. Das Problem (der Hermeneutik im Allgemeinen) steckt nun aber gerade in der Idee der «richtigen» Interpretation.
In diesem Zusammenhang nimmt Frau Armirpur eine gängige interpretative Unsitte aufs Korn: das Herausklauben von Textstücken aus dem Gesamtzusammenhang. So werden gerne Suren in bestimmter Absicht isoliert zitiert, für oder gegen die Bekämpfung der Ungläubigen, für oder die Unterdrückung der Frau usw. Dagegen moniert Frau Armirpur, dass «alles, was zu einer bestimmten Fragestellung offenbart wurde, in seiner Gesamtheit betrachtet werden (muss). Der Fokus darf nicht auf einzelnen Fragmenten liegen. Hervor geht diese Methode aus der Schrift selbst, unter anderem aus dem Koranvers: ‚Glaubt ihr denn nur an einen Teil des Buches und leugnet den anderen?’ (Sure 2, 85).»
Wer darf mitreden?
Gegen eine solche fortschrittliche Interpretation, einen heiligen Text zu kontextualisieren, und ihn speziell auch aus seiner historischen Gewachsenheit zu verstehen, lässt sich nichts einwenden. Denn gerade so adaptiert man ihn auch an die Bedingungen einer modernen multikulturellen Gesellschaft, und entfernt man sich aus dem Dunstkreis salafistischer Frommbacken (salaf = das Altvordere). Aber Frau Armirpur verwahrt sich nicht nur gegen eine fundamentalistische Deutung, sondern auch gegen eine ausserislamische Kritik des Korans. Beide seien «aus islamisch-theologischer Sicht grotesk und ein Zeichen der Ignoranz».
Solche Abwehr kommt einem bekannt vor: Bevor du diese Kultur, diese Religion, diese Sekte kritisierst, musst du sie à fond kennen, am besten ein Mitglied sein. Das ist der Immunisierungszirkel des Eingeweihten: Nur wer glaubt, kann den Glauben verstehen und gegebenenfalls kritisieren. Alle anderen sind Ignoranten – Ungläubige.
Das Fatale an diesem Zirkel ist, dass man ihn kaum aufbrechen kann. Man muss, mit andern Worten, eine radikalere Frage stellen: Was haben heilige Texte in gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten überhaupt zu suchen? Vor allem, wenn es um das Problem Andersgäubiger geht: Sind die Texte angemessen interpretiert, wenn dadurch Andersgläubige diskriminiert werden?
Lockes grossartiger Gedanke
John Locke hat diese Frage vor über dreihundert Jahren in seinem «Brief über die Toleranz» gestellt und dabei bezüglich des Christentums konstatiert: «[Jede] Kirche ist in ihren eigenen Augen rechtgläubig, in denen der anderen im Irrtum und ketzerisch. Denn was auch eine Kirche glaubt, davon glaubt sie, dass es wahr ist, und das diesem Entgegengesetzte erklärt sie für Irrtum. So dass der Streit dieser Kirchen über die Wahrheit ihrer Lehre und die Reinheit ihrer Gottesverehrung auf beiden Seiten gleich steht. Auch gibt es keinen Richter weder in Konstantinopel noch sonstwo auf Erden, durch dessen Ausspruch es bestimmt werden könnte.»
Für Glaubensfragen gibt es keine Entscheidbarkeit auf neutralem Grund. Locke hielt es deshalb für klug, «zwischen dem Geschäfte der staatlichen Gewalt und dem der Religion genau zu unterscheiden und die rechten Grenzen festzusetzen, die zwischen beiden liegen».
Gläubig oder ungläubig – das ist nicht die Frage
Die Frage dreht sich also nicht um den Missbrauch oder Buchstabenglauben einer heiligen Schrift. Vielmehr sollte man sich gar nicht erst auf exegetische Debatten in politischen und gesellschaftlichen Belangen einlassen. Denn genau so setzt man den heiligen Text implizit wieder in die Rolle ein, die ihm Locke absprach. Er reklamiert klammheimlich ein Mitspracherecht ausserhalb des religiösen Bereichs.
Lockes Brief richtet sich nicht nur gegen den Machtwillen der Rechtgläubigkeit, sondern gegen dieses Mitspracherecht. Man findet wahrscheinlich ohnehin nie eine Einigung über die korrekte Interpretation.
Abgesehen davon liesse sich ja einmal an den unwahrscheinlichen Fall denken, dass ein solcher Konsens besteht. Kann dann der heilige Text als Grundlage und Massstab für ein modernes weltliches Leben beigezogen werden, im Besonderen für die Behandlung von Ungläubigen? Müsste dann der Gläubige, wenn ihm der Text gemäss eindeutiger Auslegung gebietet, Ungläubige zu töten, «glaubensstringent» danach handeln, so wie man mathematische Sätze akzeptieren muss, wenn sie korrekt aus Axiomen hergeleitet sind? Soll die «Krankheit Islam» – wie sie der gerade erst verstorbene Abdelwahab Meddeb genannt hat – an der richtigen Auslegung genesen?
Hermeneutische Arroganz
Zur Debatte steht nun freilich der religiöse Diskurs grundsätzlich, nicht das Interpretieren innerhalb dieses Diskurses. Und wenn es im Besonderen einen fortschrittlichen Islam geben soll, dann kommt er um eine solch grundsätzliche Infragestellung nicht herum – wie schmerzlich sie für ihn auch sein mag.
Dass der Koran – oder ein anderer heiliger Text – Ressource für ein reiches Innenleben sein kann, darüber herrscht kein Zweifel. Aber selbst und gerade in einer «postsäkularen» Gesellschaft müssen es sich heilige Texte gefallen lassen, dass über sie diskutiert wird, dass sie kritisiert werden, auch von Leuten, die nicht an diese Texte glauben. Man braucht ja nicht unbedingt ein atheistischer Maniak à la Richard Dawkins zu sein.
Wer die Kritik zu verbieten oder zu hintertreiben versucht, fällt hinter eine der zentralen Errungenschaften der Aufklärung zurück: Meinungsfreiheit. Sie muss Tradition, Dogma und Orthodoxie nicht schonen. Das ist ein Axiom der politischen, kulturellen und sozialen Moderne. Anders gesagt: Heilige Texte sind eben nicht mehr sakrosankt, und ihre Auslegungen können im besten Fall zu einer Öffnung des religiösen Diskurses führen – ein dringliches Anliegen heute. Den Leuten aber, die sich aus nicht islamisch-theologischer Sicht über den Koran äussern, «Ignoranz» vorzuwerfen, ist nun selbst wiederum Zeichen einer hermeneutischen Arroganz.
Den so einleuchtenden wie gemässigten Ausführungen von E. Kaeser möchte ich höchstens anfügen, dass erstaunlicherweise just der Qoran für Deutungskriege eine ganz ähnliche Lösung vorsieht: da im Diesseits eine Entscheidung eh nicht möglich ist, investiere man seine Energie vorläufig in Sozialpolitik und warte auf das göttliche Urteil im Jenseits!
"Und wir haben den Qoran beladen mit der Wahrheit zu dir herabgesandt, damit er die vorherigen Schriften bestätige und darüber Gewißheit gebe. (...) – Für jeden von euch (in verschiedenen Bekenntnissen) haben wir eine (eigene) Tradition und einen (eigenen) Weg bestimmt. Und wenn Gott gewollt hätte, hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber er wollte euch in dem, was er euch gegeben hat, auf die Probe stellen. Wetteifert nun miteinander im Guten! Zu Gott werdet ihr allesamt zurückkehren. Und dann wird er euch Kunde geben über das, worüber ihr (im Diesseits) uneins waret." (Qoran 5,48)
Dr. theol. Pierre Casetti-Frei
Da Sie sich als Theologe ausgeben wäre interessant zu vernehmen, wie denn die (christlichen) Theologen damit umgehen, wenn über ihre Religion debattiert wird. Man muss zugeben, nicht oder sogar selten sachlich?? Also ähnlich wie bei andern fremden Religionen? wie beim Islam? Die Katholiken, je hierarchisch höher desto mehr, haben doch so ihre Probleme, Kritik überhaupt zuzulassen, geschweige denn zu tolerieren oder ernst zu nehmen. So scheint es.
Gut, man kann Theologe sein und dennoch eine eher religionswissenschaftliche Überzeugung haben.
"... nach westlichem Rechtsempfinden ... nicht des Mordes, sondern ... Fehlinterpretation des Koran"
Finde ich, ähm, speziell, dass der Autor darauf kommt. Eigentlich behaupten eher wenige Leute, jedenfalls auch selten genug in der (post-)"christlichen" Welt, die Religion verbiete das Töten, nicht heute und geschichtlich schon gar nicht beim Beispiel Christentum. Siehe Gesellschaften wie die USA (Todesstrafe, Krieg, aktiv Töten ohne Gericht usw.), wo zwar nur teilweise ("Fundamentalisten") im Namen der Religion getötet wird, aber das staatlich autorisierte Töten auch selten religiös begründet hinterfragt wird.
"Wer darf mitreden?"
Auch hier scheinen die vielleicht richtigen Fragen gestellt zu werden, aber aus einer sehr eingeschränkten Perspektive. Wer darf bei der Medizin, bei Philae, beim Wetter mitreden? Ja, eigentlich alle. Aber sogar bei der Wettervorhersage stützt sich die Meteorologin wohl besser auf wissenschaftlich einigermassen gesicherte Prognosemethoden ab. Trotzdem kann ich über das aus Laiensicht sowieso immer viel zu schlechte Wetter und die zu häufige Fehlprognose reden. Also emotional. Soll die Fachperson jetzt auf meine Ignoranz immer eingehen müssen?
Ich habe den NZZ-Artikel auch gelesen und sehe dort keine Verwendung von "Ignoranten" im Sinne von "Ungläubigen". Sondern dasselbe, was in fachlich-religiösen Diskussionen bspw. christliche Theologen und Pfarrer auch beanspruchen würden.
Es wäre allgemein wohl nicht schlecht, wir würden uns bei allem Mitreden gelegentlich darauf einigen versuchen, was man in welchen Fällen besser den Fachleuten überlassen darf.
Und ja, auch über die abendländisch-christliche Religion wird ja heutzutage oft auch abschätzig, mit Hang zu negativen Konnotationen, wird "mitgeredet" von "Ignoranten", Gläubigen wie "Ungläubigen".
Insofern hat der Autor den letzten Absatz gut gemeint, gut begonnen, hätte den letzten Satz aber als ziemlich überflüssig gerne auch weglassen können.
Die Evolution nach der Evolution. Ein Gott gegebener Spieltrieb führte beim Menschen zu neuen Erkenntnissen. Beim Hantieren mit Steinen entstanden möglicherweise zufällig sichtbare Zeichen. Aus Zeichen wurden Buchstaben, aneinandergereiht Wörter, Wörter die etwas bezeichneten und einen Sinn ergaben. Aus Wörtern wurden Sätze, daraus Bücher, Millionen von Büchern alle mit anderen Aussagen. Was ich nun sagen will! Liebt und respektiert einander, denn am Anfang war da auch nur der Wasserstoff. Nur ein Zeichen…aber dann! Seine Bindungskräfte, erstaunlich. Durch Polbildungen und der Fähigkeit zu induzierten Dipolbildungen entstand ein Periodensystem. Aus diesem Periodensystem die unendliche Vielfalt aller Bindungen, gipfelnd in Dingen und Wesen. Einstein meinte einmal: Gott würfelt (spielt) nicht. Sind wir da so sicher? Der Geist Gottes arbeitet (spielt eventuell) ununterbrochen, lässt Dinge entstehen und vergehen. Er der Zauberer unser aller Geist Gottes, ob Jude, Christ oder Muslime und all die anderen, auch er ist in jedem von uns enthalten, lässt durch seine Kreativität ganze Universen entstehen und verglühen. Im Kern des Wasserstoffatoms liegt sein kleines Geheimnis, eines das wir nie lüften können, weil die aufgewickelte Energie, der Spin, Gottes Kreisel, einem Hurlibus ähnelt. Wenn die Energie einmal aufgebraucht ist, dann ist für alle Schluss mit lustig. Manchmal ist dieses Spiel sehr hart, manchmal sehr schön. Sämtliche Religionen wollen Gott deswegen ehren. Dazu braucht man jedoch niemand zu töten! In der Singularität würden wir uns eh zu Tode langweilen. ...cathari
Die wissenschaftliche Gottesklärung - mh, liebe(r) cathari. Da ist mir mein Schöpferglaube näher, der mir ebenfalls gebietet nicht und niemand zu töten. Der mir ein Gegenüber ist und geschaffen hat. Der mich aus Singularität und tödlicher Langweile befreit hat. Amen.