Die Möglichkeitsform

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Die Möglichkeitsform

Von Stephan Wehowsky, 23.11.2018

Grammatisch nennt man sie den Konjunktiv. Der stirbt gerade aus. Das ist mehr als ein rein sprachliches Defizit.

Robert Musil hat in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ in seinem typisch ironischen Ton dargelegt, dass es neben dem Wirklichkeitssinn auch einen Möglichkeitssinn geben müsse. Denn es genüge nicht, immer nur das, was ist, „realistisch“ zu beschreiben. In allen Dingen steckten Möglichkeiten, die auch wahrgenommen werden sollten.

Musils Argument zielt nicht auf Luftschlösser. Technische Geräte zum Beispiel können gefährlich werden, auch wenn sie im Augenblick harmlos aussehen. Autos zum Beispiel. Das, was wir vor Augen haben, ist stets nur ein Bruchteil der damit verbundenen Möglichkeiten.

Dabei kommt es auch auf die Perspektive an. Der eine sieht dieses, der andere jenes. Deswegen wurde die Möglichkeitsform am häufigsten in der indirekten Rede verwendet. „Der Zeuge sagte, er habe nichts gesehen und nichts gehört.“ – Heute wird man eher lesen: „Der Zeuge sagte, er hat nichts ...“ Diese kleine sprachliche Ungenauigkeit verdeckt die Möglichkeit, dass sich der Zeuge irrt oder lügt. Erst nachdem das untersucht worden ist, kann vielleicht ein Richter feststellen, dass der Zeuge tatsächlich nichts gesehen und gehört hat. Jeder Krimi lebt vom Spiel mit diesen Möglichkeiten.

Auch im Alltag und der Politik ist das Verschwinden der Möglichkeitsform fatal. „Der Präsident twittert: Iran ist ein Schurkenstaat.“ Die falsche Grammatik macht aus der Meinung des Präsidenten eine Tatsache. Dabei handelt es sich nur um die Behauptung einer vermeintlichen Tatsache. Das ist ein grosser Unterschied: Jemand anderes kann etwas anderes behaupten. Dabei geht es nicht immer um wahr oder falsch. Unterschiedliche Aussagen können durch unterschiedliche Perspektiven zustande kommen. Die Möglichkeitsform markiert diese Tatsache. Der Blick muss diejenigen einschliessen, die etwas behaupten.

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