Eine Familie im Nirwana

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Eine Familie im Nirwana

Von Stephan Wehowsky, 24.06.2017

Toleranz ist in der Erziehung gut, könnte man denken. Aber was ist, wenn Toleranz zur Selbstverleugnung wird?

Ein jüngeres Ehepaar sitzt mit einem etwa zweijährigen Kind im Restaurant am Nebentisch. Die Mutter zeigt dem Kind Kinderbücher – wenigstens nicht den üblichen digitalen Schrott, denken meine Frau und ich. Dann aber kommt die grosse Ernüchterung.

Warten, nicht essen

Denn das Kind macht sich einen Spass daraus, drei dieser dickseitigen Kinderbücher wieder und wieder auf den Boden zu schmeissen. Vater und Mutter bücken sich, das Kind freut sich und wirft die Bücher gleich wieder auf den Boden.

Nun verschwindet die Mutter mit dem Kind. Es dauert und dauert. Das Essen wird serviert – heiss dampfend und von bester Qualität wie immer in diesem kleinen Restaurant, das etwas Besonderes ist. Der Teller vor der abwesenden Mutter kühlt aus, ebenso der Teller vor dem Vater. Der wartet und isst keinen Bissen; lenkt sich mit dem Mobiltelefon ab.

Eltern im Griff

Die Mutter kommt nach langer Zeit mit ihrem Kind zurück. Die Eltern reden kein Wort miteinander und versuchen zu essen, aber das Essen ist inzwischen kalt, und das Kind gibt nur kurze Zeit Ruhe. Dann geht der Zirkus von vorne los. Aus irgendeinem Grund muss nun der Vater mit dem Kind verschwinden und kommt und kommt nicht zurück. Als er endlich wieder erscheint, ist der gemeinsame Restaurantbesuch für dieses Ehepaar offensichtlich gelaufen.

Sie reden kein Wort miteinander. Das Kind schaut zwar blicklos, aber irgendwie zufrieden in die Gegend. Jetzt muss es keine Heftchen mehr auf den Boden schmeissen. Es hat seine Eltern gut im Griff.

Würde und Zorn

Wir sitzen da, und es läuft uns kalt den Rücken hinunter. Der Mann wagt nicht, väterlichen Zorn zu empfinden. Schon gar nicht wagt er es, diesen Zorn sein Kind spüren zu lassen. Und erst recht wagt er es nicht, mit seinem Zorn dem grenzenlosen Verständnis seiner Frau Grenzen zu ziehen.

Was würde geschehen, wenn er es wagte? Wenn er das Kind seinen Zorn spüren liesse und damit auch seiner Frau zeigte, dass er ein Mensch mit eigener Würde ist? Aber dazu hätte er irgendwann das Nein-Sagen lernen müssen.

Amorphe Familie

Oder sie hätte das Nein-Sagen lernen müssen. Aber hätte sie dann diesen Softie geheiratet?

Und so sehen wir eine amorphe Familie. Alle hocken am Tisch, das Kind schmeisst seine Sachen auf den Boden, entführt von Zeit zu Zeit den einen oder anderen Elternteil; die Eltern kommen nicht zum Essen, und alles ist eine unendliche Misere.

Zorn empfinden, Grenzen ziehen, dazu stehen: Billiger lässt sich eine solche Misere nicht überwinden. Aber dazu müsste dieser Mann ein Mann sein. Oder seine Frau müsste eine Frau sein, die zu sich steht. Aber wenn beide das nicht können, landen beide irgendwann vor dem Scheidungsrichter und das Kind im Nirgendwo.

Prügelstrafen, körperliche und mentale, psychisch gewalttätige Züchtigungen sind verboten, und die Würde und körperliche und geistige Unversehrtheit auch von ganz kleinen Menschen ist zu schützen und zu wahren. Dazu niemals in der Öffentlichkeit aus- und auffällig , d. h. angreifbar werden. Vorbildliche Eltern! Der nächste Lernschritt folgt bestimmt.

Es wundert mich, einen solchen Artikel im Journal 21 zu lesen. Wäre dies nicht eher etwas für den Mamablog beim Tagi?
Ich nehme an, Sie, Herr Wehowsky haben keine eigenen Kinder.
Elternsein ist ein 24/7 Job, erst recht bei einem Kleinkind. Die Entwicklung des Gehirns ist bei einem Kleinkind noch nicht dahingehend ausgereift, als dass es "vorsätzlich" seinen Eltern ein Essen im Restaurant vermiesen könnte. Freuen Sie sich doch, dass Sie nicht von einem gelangweilten, schreienden Kind beim Essen gestört wurden, sondern dass die Eltern abwechselnd mit ihm hinaus gingen.

Elternsein ist oft ein austesten: Was klappt schon, was geht (noch) nicht? Wahrscheinlich werden die beschriebenen Eltern vorerst mit dem nächsten Restaurantbesuch warten. Vielleicht gingen dem Besuch auch schon diverse Diskussion daheim voraus, (funktioniert ein Essen im Restaurant mit dem Kleinkind oder nicht) so dass das Elternpaar sich deswegen nicht noch in der Öffentlichkeit streiten musste. (à la "ich habs dir ja gesagt!")
Statt in einem Artikel über diese Familie abzulästern hätten Sie entweder das Gespräch mit ihnen suchen oder sie ignorieren können.
Ich hoffe, in Zukunft keine weiteren Artikel dieser Art im Journal 21 zu sehen.

@SunSun: «Ich hoffe, in Zukunft keine weiteren Artikel dieser Art im Journal 21 zu sehen». Da bin ich entschieden anderer Meinung! Meinetwegen kann es gern weitere solche Artikel geben. Bin gerade mit Enkelkindern auf Spielplätzen, in Badis usw. daran zu erfahren, wie verschiedene Eltern ihre Kinder erziehen. Es ist aufschlussreich - im Negativen wie im Positiven.

Toleranz ist vielleicht gar nicht so gut, wie allgemein gepredigt wird. Vielleicht braucht es Verstāndnis oder so etwas Āhnliches. Verstāndnis für das Kind, für sich selbst und für die Mitwelt. Ich erlebe auf der Strasse und im Verkehr oft āhnliche Szenen. Man kann dabei die Wānde hoch gehen. Jedenfalls ich. Aber man erlebt auch andere Eltern, solche die liebevoll und konsequent nein sagen können, oder die Kontakt haben zum Kind anstatt, wie im Nirwana, auf ihr Handy zu starren.

Genau, dieses Phänomen der grenzenlosen Toleranz hat Max Frisch in seinem Theaterstück " Biedermann und die Brandstifter" dargestellt. Warum wird dieses Stück heute auf keiner deutschsprachigen Bühne gespielt? Ja, es gibt eine Parallele: im Dritten Reich wurde "Wilhelm Tell" auch nicht aufgeführt.

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