Freihandel bringt nicht automatisch Wachstum
Seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 hat sich die öffentliche Meinung gegenüber der Globalisierung in den Industrieländern zunehmend verschlechtert. Genauer: gegenüber jenem neoliberalen Globalisierungsmodell, das seit gut 30 Jahren verfolgt wird. Einen ersten Höhepunkt erlebte die Kritik daran 1999 in Seattle mit den Protesten gegen die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO). Das Motto der Kritikerinnen und Kritiker lautete: «Eine andere Welt ist möglich.» Inzwischen, so scheint es, ist die Kritik alternativer Kreise Mainstream geworden. Und seit sich der neue US-Präsident für die handelspolitische Abschottung ausspricht, fragen Beobachter die Nichtregierungsorganisationen wie Alliance Sud, welche die neoliberale Globalisierung schon immer kritisierten, habt ihr jetzt gewonnen?
Die Antwort muss ambivalent ausfallen: ja und nein. Ja, weil die aktuelle Infragestellung der bisherigen Globalisierungspolitik durchaus etwas Heilsames hat. Nein, weil der neue Protektionismus der Industrieländer, mit dem gewisse westliche Politikerinnen und Politiker das Freihandelsdogma ersetzen wollen, ein untaugliches Mittel ist, um für eine gerechte Welt zu sorgen.
Alliance Sud war nie und ist nicht gegen Globalisierung an und für sich, sondern gegen die Art und Weise, wie bis heute globalisiert wird. Seit der Gründung der WTO 1995 haben die industrialisierten Länder den freien Kapital- und Güterverkehr, jenen der Technologie und der wichtigsten Dienstleistungen durchgesetzt; und zwar überall dort, wo sie über den komparativen Vorteil verfügten. Gleichzeitig haben sie sich geweigert, ihre Grenzen für Landwirtschaftsprodukte und für weniger qualifizierte Arbeitskräfte zu öffnen, wovon namentlich die Entwicklungsländer hätten profitieren können. Was die Liberalisierung bei Industrieprodukten betrifft, wurden sie auf dem falschen Fuss erwischt: Sie hatten nicht vorausgesehen, dass China und andere Schwellenländer so rasche Fortschritte machen würden.
Eine Globalisierung zu Gunsten der Multis
Von dieser hochgradig selektiven Öffnung der Märkte konnten vor allem multinational operierende Firmen profitieren. Viele andere Unternehmen, in den Entwicklungsländern ebenso wie in den industrialisierten, blieben auf der Strecke. Dabei wurde die Ungleichheit gefördert – die acht reichsten Menschen besitzen heute so viel wie die 50 Prozent der Ärmsten auf der Welt. Die Multis organisieren ihre Produktion entlang globaler Wertschöpfungsketten, sie betreiben ihre Geschäfte dort, wo ihre Gestehungskosten (Löhne, Steuern, etc.), die Preise für Rohstoffe am niedrigsten und der Verkauf ihrer Produkte für sie am attraktivsten ist.
Die mächtigsten Multis stammen aus den Industriestaaten, neuerdings auch aus einigen Schwellenländern. Die ärmsten Länder dagegen finden sich am Ende dieser Produktionskette.
Der internationale Handel ist zweifelsohne ein zentraler Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung. Aber die Regeln der Handels- und Investitionsabkommen spielen die Arbeitenden der ganzen Welt gegeneinander aus, sie sorgen für einen Abwärts-Wettlauf (race to the bottom), der Arbeitsplätze und gewachsene Strukturen zerstört. Gewiss, US-amerikanische Firmen haben in Mexiko neue Arbeitsplätze geschaffen, doch diese sind in der Regel schlecht bezahlt und prekär. Ganze Dörfer wurden umgesiedelt, um Platz für industrielle Grossprojekte zu machen.
Traditionelle Anbauflächen mussten exportorientierter Agroindustrie weichen, Kleinbauern wurden durch den Import von hochsubventioniertem US-Mais aus dem Markt gedrängt. Der Verlust von Arbeitsplätzen traf aber auch US-amerikanische Arbeitnehmende. Wer etwa in der Automobilindustrie seinen Job verlor, konnte nicht einfach eine Stelle mit hochqualifizierter Arbeit annehmen, wie sie etwa im Silicon Valley neu geschaffen wurde. Dieser globale Wettbewerb unter Volkswirtschaften und deren Arbeitsnehmenden, die ganz verschiedene Sozial- und Lohnsysteme kennen, hat zu Spannungen und Verwerfungen geführt, welche die Politik viel zu lange ignoriert hat. Heute bilden sie den Nährboden eines Populismus, der sich wie ein Flächenbrand ausbreitet.
Doch eine Rückkehr zum Protektionismus, wie sie Donald Trump vertritt – indem Importe besteuert, Exporte und die Wiederansiedlung von abgewanderter Produktion in den USA gefördert werden sollen –, wäre eine Katastrophe, für die US-Wirtschaft ebenso wie für die Entwicklungsländer, die einen wichtigen Markt verlören. Es sei denn, ein Land wie Mexiko führe rasch eine Wirtschaftspolitik ein, welche die Exportabhängigkeit einschränken und mehr auf Binnenkonsum setzen würde, indem nationale Investitionen und die Kaufkraft forciert würden. Das ist genau, was China zurzeit tut. Wer die Mindestlöhne anhebt, den bestrafen die Investoren aber damit, dass sie einfach weiterziehen. Das ist die Logik des freien Kapitalverkehrs, wie ihn die Handelsabkommen vorsehen.
Ungenügende staatliche Umverteilungspolitik
Schon 2005 – drei Jahre vor Ausbruch der Finanzkrise – hatte Nobelpreisträger Joseph Stiglitz festgestellt, dass «die Liberalisierung des Handels seine Versprechen nicht gehalten hat». Er ergänzte jedoch, dass «die dem Handel zugrunde liegende Logik – namentlich das Potential zu haben, Lebensbedingungen einer Mehrheit, wenn nicht gar aller Leute, zu verbessern» intakt bleibe. Aber damit das auch zutreffe, gelte es erst einmal zu anerkennen, dass Freihandel nicht automatisch Wachstum nach sich ziehe – so wie es dessen Apologeten behaupten – und vor allem, dass nicht automatisch rundum alle von dessen Vorteilen profitierten, so wie es der überstrapazierte Trickle down-Effekt weismachen wolle.
Stiglitz weiter: In den industrialisierten Ländern gelte es, die Kosten und die Gewinne gerechter zu verteilen, indem Erträge progressiv besteuert werden. Es brauche eine wirksamere soziale Abfederung für Personen, die ihre Stelle in einem nicht mehr wettbewerbsfähigen Sektor verlieren, um einen neuen Job finden zu können. Es brauche eine Politik, die für höhere Löhne sorgt – namentlich einen Mindestlohn, der etwa in den USA seit Jahren nicht mehr angehoben wurde. Globalisierung werde nie funktionieren, wenn sie darauf basiere, dass die Arbeitnehmenden sich mit Lohnverzicht einverstanden erklären müssten, um ihre Arbeit nicht zu verlieren.
Löhne könnten nur steigen, wenn auch die Produktivität zunimmt, dafür aber brauche es Investitionen in Bildung und Forschung. Unglücklicherweise, hält Stiglitz fest, passiere in vielen Industrieländern und vor allem in den USA exakt das Gegenteil: Die Steuern sind regressiver geworden, das soziale Netz sei geschwächt worden und die Ausgaben für Wissenschaft und Technologie seien im Verhältnis zum Nationaleinkommen rückläufig. «Diese Politik führt dazu, dass sogar in den Vereinigten Staaten und in vielen Industrieländern, die doch eigentlich zu den potentiellen Gewinnern der Globalisierung gehören, immer mehr Leute finden, es gehe ihnen wegen der Globalisierung schlechter als vorher», schliesst er.
Fair trade statt free trade
Alliance Sud, wie andere NGOs, die sich für einen radikalen Paradigmenwechsel einsetzen, verlangt ein Handelssystem, das den Menschenrechten und dem Schutz der Umwelt Priorität einräumt. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die durch ein aggressives liberales Handelsregime bedroht werden, müssen geschützt werden. So bedroht etwa der Schutz des geistigen Eigentums, wie er in Handelsabkommen stipuliert wird, das Recht auf Nahrung, indem der Zugang zu Saatgut für Kleinbauern eingeschränkt wird; das Recht auf Gesundheit ist bedroht, indem die Produktion von Generika eingeschränkt wird.
Die Liberalisierung der Dienstleistungen könnte zu einer Privatisierung des staatlichen Service public im Gesundheits- und im Bildungswesen führen und die Menschenrechte jener bedrohen, die sich die verteuerten Dienstleistungen nicht mehr leisten können.
Insbesondere die Staaten der Entwicklungsländer brauchen mehr policy space, das heisst Spielraum, um ihre je eigene nationale Wirtschaftspolitik zu definieren. Das ist genau das Gegenteil dessen, was die WTO, vor allem aber Freihandelsabkommen und die Megadeals TISA, TTIP, TPP und CETA anstreben: Diese zielen darauf, Zölle auf Agrar- und Industrieprodukte weiter zu senken. Das setzt die nationale Produktion ohne jeglichen Schutz der internationalen Konkurrenz aus, vor allem gilt das für verletzliche Sektoren oder eine Industrieproduktion, die sich erst im Aufbau befindet.
Ausländische Investoren verfügen über mehr Rechte als nationale, namentlich wegen der oft kritisierten Streitschlichtungsmechanismen zwischen Investoren und Staaten. Diese Megadeals sehen vor, Dienstleistungen durch «Vereinfachung» von Regeln, die als Handelshemmnisse betrachtet werden, zu liberalisieren. Das bedroht den Service public, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen und den KonsumentInnenschutz. Sie erlauben ausländischer Konkurrenz in Wettbewerb zu treten mit staatlichen Unternehmen. Also auch jenen, die von den Staaten dafür benötigt werden, um ihre eigene Entwicklung nach ihrem Gutdünken zu steuern oder die sie für strategisch wichtig halten.
Es kann darum nicht erstaunen, dass es der Öffentlichkeit nicht mehr gelingt, den Unterschied zwischen für beide Seiten profitablem Handel und ungerechten Handelsabkommen zu machen und das beides gleichzeitig verteufelt wird. Dabei könnten alle von gerechtem Handel und einer gerecht organisierten Globalisierung profitieren.
Isolda Aggazzi ist Handelsspezialistin bei Alliance Sud. Alliance Sud ist die Arbeitsgemeinschaft von Swissaid · Fastenopfer · Brot für alle · Helvetas · Caritas · Heks
Verantwortungsbewusste Globalisierung
Die Theorie hat immer nahegelegt, dass Globalisierung wirtschaftspolitisch begleitet werden muss. Ein Konzept verantwortlicher Globalisierung könnte folgende Elemente enthalten: (i) die Wirtschaftspolitik entschädigt und befähigt die Verlierer; (ii) Umweltschäden werden in Kosten einbezogen und durch Innovationen gesenkt; (iii) technischer Fortschritt wird umgelenkt von arbeitssparend zu energie- und rohstoffsparend, (iv) eine Steuerreform reduziert die Unterschiede in den Markteinkommen und entlastet Arbeit, (v) Finanztransaktionen werden besteuert und senken den Zwang zu hohen Renditen in der Industrie.
Europa soll seine relativ erfolgreiche Globalisierung mit einer Strategie unterlegen die durch sozialen Ausgleich den Konsum und durch technologische Innovationen eine kohlenstoffarme Infrastruktur generiert. Strategien skizzieren ist das Ziel: die Globalisierung fairer gestalten, nicht bekämpfen. K. Aiginger/A. Pohl, Ökonomenstimme vom 20. Dezember 2016
Tempo der Globalisierung reduzieren!
Dass die Globalisierung mit den fallenden Handelsschranken und der Personenfreizügigkeit durch die politischen Führer zu schnell und zu umfassend vorangetrieben wurde, ist heute offensichtlich. Es gibt viele Globalisierungsverlierer, die sich mit Recht gegen diese Entwicklung wehren. Dabei aber gleich von Abschottung und von geschlossenen Grenzen zu reden, wird der Sache nicht gerecht. Es geht um eine Reduktion der Tempos der Globalisierung im Interesse der von ihr negativ betroffenen Bevölkerung.
Multiversum!
Ich bin mir sicher, es gibt, ja es muss andere Universen geben. Wir brauchen Archivraum, wohin sonst mit all den Lügen? Etliche sagen uns was richtig und falsch ist, dabei spüren wir, es ginge auch anders. Solidarität nur ein Wort? Dann sind wir bereits Jenseits von Eden. Kompatibilität hiesse das Zauberwort, ohne sie wird alles zum Desaster. Ein Beispiel! Die Kinderarmut in Italien hat sich in den letzten Jahren verdreifacht, steht am Ende wiedermal als Ausweg nur Wegzug oder schlimmer noch die Prostitution? Zweifellos ist Ökonomie von grösster Wichtigkeit, die Multis jedoch sollten nicht zur Usurpation Maximus heraufstilisiert werden. Und sollte jemand aussteigen, sowie zurzeit und warme Plätzchen offerieren müssten die anderen mit dem Zollstock reagieren. Wir brauchen Regeln um den kleinen Mann/ Frau zu schützen und da bleibt der Innländervorrang vorläufig von grösster Bedeutung. In Demokratien darf sich das Volk nicht entmachten lassen, bleibt auf der Hut, die Verführungen haben immer kürzere Ablaufdaten. Reichtum hält Schwankungen aus, bei Armut kann sie töten. Der faire Verteilkampf gewinnt an Priorität, keine gerupften Hühner, aber Federnlassen bei einigen wäre angesagt… cathari
In der Friedensforschung hat man anfangs der 70er Jahre herausgefunden, dass neue Industrienationen eine Phase der Schutzes gegen Konkurrenz brauchen, um in der internationalen Arbeitsteilung aufsteigen zu können. Die Theorie der komparativen Vorteile (Smith, Ricardo) war von Anfang an falsch und im wörtlichen Sinne selbstmörderisch. Das hätten Smith und seine Schüler in der britischen Kolonialverwaltung in Irland spätestens anhand der Hungersnot in Irland (zwischen 1845 und 1852) erkennen müssen.
MfG
Werner T. Meyer
https://de.wikipedia.org/wiki/Dieter_Senghaas (mit ausführlichen Literaturlisten)
https://de.wikipedia.org/wiki/Grosse_Hungersnot_in_Irland