Gauck in Davos
Von Kabinettsdisziplin kann in der deutschen Bundesregierung nicht mehr die Rede sein. Vor diesem Hintergrund durfte man auf die Rede des deutschen Bundespräsidenten vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos ganz besonders gespannt sein. Was würde er wem ins Stammbuch schreiben?
Sein entscheidender Satz lautete, dass es ethisch geboten sein könne, Grenzen zu schliessen. Dieses Gebot leitete er daraus ab, dass nicht nur die Aufnahmefähigkeit eines Staates begrenzt sei, sondern auch die Akzeptanz der Bürger. Begrenzung helfe, „Akzeptanz zu erhalten“. Das ist sehr höflich formuliert. Schliesslich hat sich in Deutschland eine Phalanx gebildet, die vom Vorwurf des Verfassungsbruchs seitens eines ehemaligen Bundesrichters und einzelner namhafter Politiker bis zum tobenden Mob speziell in östlicher gelegenen Städten reicht. Und am Tag von Gaucks Rede beschloss Österreichs Regierung eine Obergrenze, die drastischer kaum sein könnte.
Das eigentliche Dilemma kleidete Joachim Gauck in eine Formulierung, die erst entschlüsselt werden muss. Er sprach die ethischen Werte Europas und insbesondere die „Solidargemeinschaft“ an. Ein rigoroses Abschotten würde dieses Selbstverständnis beschädigen. Genau das aber ist in vollem Gange und wird sich noch ungeahnt steigern. Denn es ist egal, ob man die Grenzen ganz im Süden „sichert“ oder sich wieder national abschottet: Diejenigen, die abgewiesen werden, erleiden ein grausames Schicksal. Aus europäischer Solidarität wird Schulterzucken.
Der Begriff "Solidargemeinschaft" ist ein Hohn, in Anbetracht der Unfähigkeit wie die EU als Ganzes das Flüchtlingsproblem nicht löst. Dass die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel, die eine Führungsrolle und Verantwortung übernommen hat und als Einzige sich gegen die europäische Abschottungspolitik ausgesprochen hat, nun zu scheitern droht, ist eine menschliche Bankrotterklärung. In der Frage der gerechten Verteilung von Flüchtlingen zerfällt die EU in ihre Einzelteile, sprich Nationalstaaten. Die Österreicher wollen nur noch 37500 Flüchtlinge in ihr Land lassen. Wie bitte soll das rechtmässig geschehen? Es ist eine Provokation, die allen rechtlich relevanten Verträgen widerspricht und so nicht durchführbar sein wird. Die Dänen machen dicht. Eigentlich wollen alle dicht machen. So wie es aussieht, wird der Schengenraum dichtgemacht und es werden wieder strikte Grenzkontrollen durchgeführt. Eines müssen sich die Staaten im Klaren sein: Das Dichtmachen hat gravierende wirtschaftliche Folgen. Das Wirtschaftswachstum im Euro-Raum ist eh schon viel zu schwach, um das Heer von Arbeitslosen zu beschäftigen. Auch Pediga und die AFN sollten beachten, dass durch das Dichtmachen der Grenzen ihre Jobs auch nicht sicherer werden. Zur Erinnerung: Im Libanon lagern eine Million Flüchtlinge und in Jordanien etwa 700000. Die EU ist dazu verdammt mit Erdogan zusammenzuarbeiten, der lieber die Kurden verfolgt als den IS. Deren Leute marschieren in der Türkei ein und aus und es wird munter Öl geliefert. Wer noch jemals der Meinung war, die EU sei eine politische Union sollte sich schleunigst davon verabschieden. Sie läuft Gefahr nicht einmal mehr eine Wirtschaftsunion zu sein.
"Aus europäischer Solidarität wird Schulterzucken." Ich halte diesen letzten Satz für grundfalsch.
Man muss kein Nazi sein, um schon lange gewusst zu haben, dass man die Flüchtlingskrise nicht so handhaben kann, wie Frau Merkel den Anschein erweckt, dass man sie bewältigen könne.
Ein Grunddilemma, dass nämlich Führerschaft danach verlangt, Verantwortungsethik zu zeigen, während es dem Einzelnen unbenommen ist sich auf Gesinnungsethik zu beschränken, zeigt sich auch in diesem Kommentar.
Dann das konsequente Ignorieren von unbequemen, aber nicht unwichtigen Details: Dass zum Beispiel nur eine Minderheit der Migranten an Leib und Leben unmittelbar bedroht ist, dass nur eine Minderheit aus Syrien kommt, dass die überwiegende Mehrheit aus jungen Männern besteht, die es eigentlich brauchen würde, um daheim die Verhältnisse zu stabilisieren und zu verbessern, etc. Mal ganz abgesehen davon, dass Bürgerkireg kein Grund für dauerhaftes Asyl ist, wir in der Schweiz eine Migrationsstrategie haben, die nicht einfach so in den Papierkübel wandert. Oder dass die einzige bindende Grundlage für eine funktionierende europäische Flüchtlingspolitik Dublin ist, dass wiederum nur dann funktioniert, wenn die Aussengrenzen halbwegs dicht sind, was sie aber nicht sind.
Ich fürchte, dass wir auf Dauer die Errungenschaft, Asyl an Verfolgte zu gewähren, ruinieren, wenn wir nicht ein wenig genauer hinschauen, genauer unterscheiden und auch Rechtsnormen mit unbequemen Folgen durchsetzen.
Insofern hat Gauck nicht unrecht.
>"Aus europäischer Solidarität wird Schulterzucken."
Das trifft leider zu, aber wie es besser gemacht würde hat der Autor nicht bewiesen.
Und dass die USA, welche durch ihre Interventionen die ganze Lawine losgetreten haben, nicht einmal "die Schulter zucken" wird nicht erwähnt.
Herr Wehowsky: Wenn Sie statt zu Wehklagen recherchieren möchten, wer dem Uno Hilfswerk für die Flüchtlingslager vor Ort wie viel versprochen und wie wenig dann bezahlt das - DAS wäre interessant!
„Wir schaffen das“ war vom ersten Tag an völlig unrealistisch. Um die mit der Massenzuwanderung verbundenen Probleme(Wohnungen, Arbeitsplätze, Lehrpersonal) zu lösen, waren und sind die Schuldenberge und die Arbeitslosigkeit EU-weit einschließlich Deutschland viel zu hoch. Die zum Teil extrem unterschiedlichen Lebens- und Einkommensverhältnisse innerhalb der EU stehen der ständig geforderten Solidarität ebenfalls unlösbar entgegen. Niemand kann von einem Arbeiter oder Angestellten in Polen, der Slowakei, in Ungarn, in Rumänien, usw. verlangen, das er einem Flüchtling eine Unterstützung bezahlt, welche sein eigenes Einkommen übersteigt ohne eine Revolution zu verursachen.