Gefangen im Dickicht

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Gefangen im Dickicht

Von Christoph Kuhn, 06.07.2015

Der Gordische Knoten ist nicht durchtrennt.

Es schien so etwas wie eine Erlösung zu sein, als das griechische Trauerspiel schliesslich auf eine Volksbefragung kondensiert und simplifiziert wurde. Was haben uns informationsbedürftigen Zeitgenossen die Informierten nicht zugesetzt in den letzten Wochen! Was haben sie uns nicht vorspekuliert, behauptet, bewiesen, beschworen. Sie – das sind Ökonomen und Politiker jeglicher Couleur, Stammtischhäuptlinge und Astrologen, Experten aller Art, Betroffene, Journalisten. Jeder und jede wussten, was zu tun und was unbedingt zu unterlassen war – und jedem Spruch folgte sogleich der Widerspruch. Ein verbales Gestrüpp, ein Wort-Dickicht entstand, aus dem es kein Entkommen gab. Rechte und linke Populisten redeten in immer gröberen und einfältigeren Sätzen die Apokalypse herbei, Argumente jagten sich im Kreis herum. Statt Aufklärung gab es viel Verwirrung – die Vernunft ging öfter baden (was ja vielleicht den hohen Temperaturen geschuldet war).

Das Trauerspiel wurde auf ein ja oder nein reduziert und hat gestern Sonntag eine Bestimmung erfahren. Wirklich? Hat es? Oder hat es eben nicht? Sind wir erlöst? Natürlich nicht. Der Ausgang der Abstimmung hat Konsequenzen, erhoffte und gefürchtete. Die Informierer mutieren ab sofort zu Interpreten. Das Resultat der Befragung und die Umstände seines Zustandekommens sind Gegenstand leidenschaftlicher Auseinandersetzungen. Jedem Spruch folgt der Widerspruch. Wir landen sofort wieder im Dickicht, dem wir nur sehr vorübergehend, nur scheinbar entronnen sind.  

Die Entwicklung gibt Prof. Sinn recht: Die griechischen,
inländischen Produzenten erleben einen Boom. Jeder
Bauer, jeder Bergwerksbetrieb, jeder kleine Ölproduzent,
jeder Handwerker kann momentan eine starke Nachfrage
erleben, da Importe nicht möglich sind.
Das Ende des Euros in Griechenland würde die
Binnennachfrage extrem erhöhen. Eine Wohltat für alle,
die in Griechenland wirklich arbeiten und nicht nur
Handel mit Waren aus dem Ausland betreiben. Das
Ende des Euros in Griechenland ist der Stinkefinger,
den die Griechen den internationalen Konzernen
zeigen!

Deutlich wird, dass die exzessive Globalisierung
Arbeitsplätze und gesellschaftliche Strukturen zerstört.
Hoffentlich trifft Tsipras die Entscheidung, sein Land
in die Freiheit zu führen. Es gäbe Millionen Menschen
in Europa Hoffnung.

Die Sanktionen gegen Russland haben eine ähnlich
positive Wirkung auf die inländische Nachfrage. Ohne
ausländische Billigkonkurrenz verkaufen die russischen
Bauern und Hersteller viel mehr als jemals zuvor. Sie
hoffen, dass die EU die Sanktionen verlängert.

Griechenland wird niemals seine Schulden zahlen können. Genau so wenig wie andere Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Das ist der Grund, warum die politische Elite Europas einen Zahlungsausfall von Griechenland verhindern möchte. Sollte es Griechenland erlaubt werden, seinen Schuldendienst einzustellen, warum sollten dann andere Schuldner in der EU ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen müssen? Die finanziellen Konsequenzen eines massiven Zahlungsausfalls von einem Großteil der EU-Mitglieder sind schwer vorherzusagen. Schön werden sie aber auf keinen Fall. Europa hat ein finanzielles Kartenhaus geschaffen, das beim leichtesten Vertrauensverlust in sich selbst zusammenfallen wird.

Die Zustände in Griechenland werden in den nächsten Jahren unerträglich sein. Viele junge Griechen haben in der Brieftasche weniger Geld als die Flüchtlinge aus Afrika. Ein junger Arbeitsloser Grieche könnte die Schlepper nicht bezahlen. Zum Glück kann er als EU-Bürger legal nach Deutschland kommen und eine Arbeit suchen. Wir sollten unsere Wohnungen und Notunterkünfte nicht mit Wirtschaft-Flüchtlingen aus Afrika vollstopfen, wir wir werden sie bald für Arbeitsuchende aus Griechenland dringend brauchen.

Das Versagen der Vorgänger-Regierungen hat den Niedergang eingeleitet. Sie haben Griechenland mit falschen Zahlen in den Euro geschmuggelt, unter tatkräftiger Mitwirkung der Investmentbank Goldman Sachs. Sie haben über Jahre von der Kredit-Orgie profitiert und zugleich die Euro-Zone an der Nase herumgeführt. Viele Dinge wurden versprochen. Eingehalten wurde nur eines: Die Steuern wurden laufend erhöht, die Sozialleistungen pausenlos verkürzt. Der griechische Staat funktionierte unter den konservativen und sozialdemokratischen Regierungen wie eine einzige große Entsolidarisierungs-Maschine. Jung und Alt sind gespalten. Eine Zeitlang berichteten alle Medien mit einer gewissen Regelmäßigkeit über die dramatisch hohe Jugendarbeitslosigkeit in den Staaten in Südeuropa. Diese Berichte sind in den vergangenen Monaten klammheimlich versickert. Die Regierungen haben sich in die Statistik-Falle locken lassen. Die Öffentlichkeit diskutierte Prozentzahlen über das Wirtschaftswachstum oder diskutierte Kunst-Themen, wie den „Primärüberschuss“.
Die Politiker haben die wichtigste Kenngröße des Staatswesen vergessen, die Menschen. Die Arbeitslosigkeit ist in allen Südstaaten immer noch viel zu hoch. Der zarteste Wirtschaftsaufschwung fand unter Ausschluss der Arbeitnehmer statt. Die Jugendarbeitslosigkeit verharrte trotz Billionen an künstlichem Geld auf astronomisch hohem Niveau. Die Jungen haben sich gegen die Rentner durchgesetzt.Die Aussicht, niemals eine ordentlich bezahlte Arbeit zu erhalten, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Das wird sich fortsetzen – denn keine Regierung kann bestehen, wenn sie den Bürgern einredet, alles sei gut, die Leute aber entweder keine Arbeit haben oder sich in Billigjobs verdingen müssen.
Der griechische Crash wird zu Milliardenverlusten in der Euro-Zone führen: 340 Milliarden Euro sind so gut wie verbrannt. Die Asche wird sich auf die nationalen Haushalte legen wie Mehltau. Wir erleben den Anfang vom Ende der Euro-Zone. Es wird Generationen brauchen, bis sich Europa von diesem Schock erholt. Die Griechen haben ein Machtwort gesprochen. Es wird für sie sehr schmerzhaft sein. Der Preis, den sie für die Wiedererlangung ihrer „Würde“ bezahlen, wird gewaltig sein. Der Crash in Griechenland ist die neue Blaupause für alle anderen Staaten.

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