Jeder Kritiker ein Verräter?

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Jeder Kritiker ein Verräter?

Von Reinhard Meier, 24.07.2020

153 namhafte Intellektuelle haben gemeinsam zu mehr Liberalität in der Rassismus-Debatte aufgerufen. Ein Autor in der «Zeit» spricht von «Massenverrat».

Die Erklärung, die 153 hochangesehene Intellektuelle vorwiegend amerikanischer Herkunft Anfang Juli in der Zeitschrift «Harper’s Magazine» als Mahnung gegen Tendenzen eines «illiberalen Dogmatismus» und eines Meinungsdiktats in der aktuellen Protestbewegung gegen Rassimus veröffentlicht haben, schlägt in amerikanischen und europäischen Kulturmilieus weiterhin grössere Wellen. Im Interesse einer offenen demokratischen Debatte ist das nur zu begrüssen.

Aufsehenerregend ist diese Auseinandersetzung vor allem aus zwei Gründen. Erstens ist es in der neu aufgeflammten Debatte um Rassismus und soziale Gerechtigkeit in demokratischen westlichen Gesellschaften keine Selbstverständlichkeit, dass ausgerechnet eher links oder linksliberal orientierte Geistesgrössen gemeinsam gegen Auswüchse einer sozialen Protestbewegung den Warnfinger erheben, die sie grundsätzlich unterstützen. (In autoritären Regimen kommen diese Themen kaum zur Sprache – wenn es um die eigenen Verhältnisse geht.)

Zweitens beeindruckt die Anzahl der illustren Namen, die auf der langen Unterzeichnerliste dieser Erklärung zu finden sind. Die feministisch engagierte Autorin Margret Atwood ist dabei, das linke Urgestein Noam Chomsky, die Schriftsteller Louis Begley, J. K. Rowling, Salman Rushdie und Daniel Kehlmann, die US-Kolumnisten David Brooks, Roger Cohen und Anne Applebaum, die Professoren Michael Ignatieff, Mark Lilla, Steven Pinker und über hundert andere Namen, denen insbesondere im angelsächsischen Sprachraum erhebliches Gewicht beigemessen wird.

Diese Autoren stellen klar, dass sie die Proteste gegen Rassismus, für mehr soziale Gerechtigkeit, für Polizeireformen und mehr Gleichberechtigung an Hochschulen und im Journalismus im Kern für richtig und notwendig halten. Wogegen sie ihre Stimme erheben, sind «jene Kräfte des Illiberalismus», die jede offene Debatten über diese Themen zugunsten einer von ihnen einseitig  definierten «ideologischen Konformität» zu verhindern suchen. Diese Vertreter eines von links verbreiteten «intoleranten Klimas», heisst es in der Stellungnahme,  hätten in Donald Trump «einen mächtigen Verbündeten, der als «rechter Demagoge» bekanntlich ebenfalls gegen liberale und demokratische Werte agitiere.

Gegen welche konkreten Vorkommnisse und Strömungen die Unterzeichner ihre Besorgnis anmelden, ist unschwer zu erkennen, wenn man die Nachrichten über die politischen Vorgänge der letzten Monate in prominenten amerikanischen Redaktionen, Verlagen und Hochschulen etwas näher verfolgt hat. Da wurde zum Beispiel nach einem internen Kesseltreiben der verdiente Leiter der Kommentarseite der «New York Times» kurzfristig entlassen, weil in seinem Ressort der Kommentar eines rechtsrepublikanischen Senators gegen die Black-Lives-Matter-Demonstrationen in seinem Heimatstaat Arkansas publiziert worden war.

Oder es wurde gegen den Journalisten Lee Fang ein Shitstorm entfesselt, weil er im linken Magazin «The Intercept»  ein Video-Interview veröffentlichte, in dem ein Afroamerikaner erklärt, er frage sich «warum ein schwarzes Leben in der Öffentlichkeit nur dann zählt, wenn ein weisser Mensch es nimmt.» Damit spielte er auf die Tatsache an, dass in den USA am meisten schwarze Bürger durch Gewalt anderer Schwarzer umkommen. Dieser – indirekte – Hinweis wurde von Kollegen Lees wiederum als rassistisch angeprangert. Nur durch eine langfädige, unterwürfige Entschuldigung konnte er weitere Sanktionen vermeiden.

Solche Zensur-Aufwallungen und Rufmorde innerhalb des intellektuellen linksliberalen und universitären Milieus beschränken sich namentlich in den USA nicht mehr auf exotische Einzelfälle – sonst hätten die über 150 namhaften Intellektuellen kaum einen Aufruf zu mehr Liberalität im Umgang mit Meinungen und Haltungen publiziert, die nicht nahtlos an die Dogmen der selbsternannten Gralshüter des linksradikalen Kulturkampfes angepasst sind.

Natürlich hat auch diese prominente Stellungnahme wiederum vielfältige Kommentare hervorgerufen – mit zustimmendem, skeptischem oder vehement ablehnendem Tenor, wie man das von einer offenen Debatte erwartet. Unter den radikal kritischen Repliken hat wohl ein Autor namens Robin Detje in der weltoffenen und eher linksliberal orientierten Wochenzeitung «Die Zeit» den Vogel abgeschossen. Er geisselte den Toleranzaufruf der 153 Intellektuellen in «Harpers’s Magazine» kurzerhand  und ganz im Stil eines stalinistischen Scharfrichters als «massenhaften Verrat». Den Unterzeichnern des Briefes wirft er in akrobatischer Verdrehung der Argumente vor, ausgerechnet diejenigen Antirassismus-Aktivisten anzugreifen, «die den Liberalismus verteidigen wollen».

Es mag ein Trost sein, dass auch dieser eifrige Verrats-Denunziant nicht ohne energischen Widerspruch blieb. Gegen 300 Mal ist sein giftiger Text im Internet kommentiert worden – überwiegend im kritischen Sinne, soweit sich das überblicken lässt. Ein Leser schrieb ironisch, der Autor solle es sich «in seinem Schützengraben gemütlich machen».

Es ist ein Gütezeichen für jede Organisation und Institution, wenn diese selbstkritische Kräfte überhaupt zulässt und eine Debatte zu den kritisierten Punkte ermöglicht. Den 153 intellektuellen Persönlichkeiten sei für die gemeinsame Erklärung gedankt.

Nun hoffe ich, dass sich diese 153 Persönlichkeiten auch noch zu einer gemeinsamen Erklärung zu Trumps Politik finden können.
Das journal 21 Interview von Heiner Hug mit Kurt Spillmann,

https://www.journal21.ch/trump-letat-cest-moi

Professor für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung an der ETH Zürich und Professor für Geschichte der Neuzeit, besonders amerikanische Geschichte, an der Universität Zürich, könnte die Basis für diese noch ausstehende Erklärung bieten.

Die sich gerade in linksintellektuellen Kreisen verbreitende "cancel culture", die im Harper's Magazine zu Recht kritisiert wird, stellt eine klare Haltung gegen die Aufklärungswerte dar, die eigentlich deren DNA sein müssten.

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