Kapitalismus, Sozialismus – Floskeln oder Substanz?

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Kapitalismus, Sozialismus – Floskeln oder Substanz?

Von Reinhard Meier, 18.11.2010

Als Mitarbeiter vom Journal 21 habe ich den Gastkommentar von SP-Nationalrat Hans-Jürg Fehr und den Artikel meines Kollegen Roman Berger (der über zwei Beiträge in der Zeitschrift „Widerspruch“ berichtet) mit Interesse gelesen. Die Lektüre gibt Anlass zu einigen skeptischen Fragen, was denn mit so pompösen Begriffen wie Kapitalismus, Sozialismus oder Wirtschaftsdemokratie genau gemeint sein könnte.

In beiden Artikeln geht es um den Begriff des Kapitalismus, respektive um mögliche Strategien zu dessen Überwindung. Hans-Jürg Fehr bezeichnet die vieldiskutierte Formulierung von der „Überwindung des Kapitalismus“ im neuen SP-Parteiprogramm als eine „Floskel“. Doch wenn das nur eine Floskel sein soll – ist sie dann gar nicht ernst gemeint? Er selber scheint dieser Meinung zuzuneigen, denn er bekennt, dass er von der Aufnahme dieser Formulierung abgeraten habe.

Seine Partei, fährt der Autor fort, verlange „Wirtschaftsdemokratie statt Kapitalismus“, denn in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung sage stets das Kapital „wo es lang geht und nicht die Arbeitenden“. Aber wie ist das bei demokratischen Volks- oder Parlamentsabstimmungen? Sagt da nicht die Mehrheit der Stimmenden oder des vom Volk gewählten Parlaments, wo’s langgeht? Zum Beispiel bei der sozialdemokratischen Initiative „Für gerechte Steuern“, über die am Wochenende abgestimmt wird. Oder bei der von vielen linken und manchen liberalen Köpfen beklagten Abschaffung der Erbschaftssteuer im Kanton Zürich – auch das war ein demokratischer Volksentscheid, kein kapitalistisches Diktat.

Helmut Schmidt zum Kapitalismus-Begriff

Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt äussert sich in einem langen Gespräch mit dem deutsch-amerikanischen Historiker Fritz Stern („Unser Jahrhundert. Ein Gespräch.“ C.H. Beck, München 2010) ebenfalls kritisch zur undifferenzierten Verwendung des Schlagworts „Kapitalismus“. Ich zitiere: „Das Wort Kapitalismus stammt ja von Karl Marx, es ist ein marxistischer Begriff und hat von vornherein für viele Menschen einen ausgesprochen negativen Klang... Aber die Benutzung des Wortes Kapitalismus durch einen Deutschen kann zu Irrtümern führen. Das deutsche Wirtschaftssystem ist kein kapitalistisches, sondern es ist zum grossen Teil Wohlfahrtsstaat. Von hundert lebenden Deutschen sind 25 staatliche Rentner, und die andern finanzieren diese 25, zum Teil durch das kapitalistische System, durch die Benutzung einer Marktwirtschaft,...zum grösseren Teil finanziert durch die Arbeitnehmer dieser Marktwirtschaft. Wir haben den marktwirtschaftlichen und wir haben den sozialstaatlichen Sektor. Und dazwischen haben wir einen öffentlichen Sektor.“

Von solchen Unterscheidungen über die tatsächlich wirtschafts- und sozialpolitischen Verhältnisse etwa in Westeuropa liest man seltsamerweise in den hier zur Debatte stehenden Stellungnahmen kein Wort. Der inhaltlich präzisere und ideologisch weniger aufgeladene Ausdruck „soziale Marktwirtschaft“ kommt nicht vor. Es wird der Eindruck erweckt, als gebe es allein die Alternative „Kapitalismus“ oder „Wirtschaftsdemokratie“ (beide Begriffe werden nicht konkreter definiert). Schmidt – ein bekennender Sozialdemokrat – betont ausdrücklich, dass ein gemischtes Wirtschafts- und Sozialsystem auch für andere europäische Länder wie zum Beispiel die Schweiz gelte.

Wie wird das „Wohnen demokratisiert“?

Der Basler Historiker Hans Schäppi (der das SP-Programm von links angreift) wird im Beitrag von Roman Berger mit der Forderung zitiert, wichtige gesellschaftliche Bereiche wie Universitäten, Schulen, öffentliche Verwaltung und Wohnen müssten zur Überwindung des Kapitalismus „demokratisiert“ werden. Auch dazu möchte man gerne Genaueres wissen: Werden über neunzig Prozent aller Schulen und Universitäten in der Schweiz nicht hauptsächlich vom Staat finanziert und von demokratisch bestellten Institutionen kontrolliert (gewählte Schulpflegen, Regierungsräte, Kantonsparlamente etc.)? Und wie im Einzelnen soll „das Wohnen demokratisiert“ werden? Sollen staatliche (vielleicht gewählte) Behörden den Bürgern den ihnen zustehenden Wohnraum zuweisen – so etwa nach dem Muster der früheren Sowjetunion, in der eine fürchterliche Wohmisère herrschte?

Der Historiker Schäppi behauptet gemäss Bergers Zusammenfassung weiter, einen Höhepunkt des Demokratiezerfalls habe die Schweiz mit den Rettungsmassnahmen für die UBS erlebt. Diese seien „ohne demokratische Legitimation und ohne Widerstand durchgesetzt“ worden. Über diese Rettungsmassnahmen zugunsten der UBS kann man in guten Treuen sehr unterschiedlicher Meinung sein. Aber gibt es dafür wirklich keine demokratische Legitimation? Warum wird die nachträgliche Zustimmung durch die bürgerliche Parlamentsmehrheit (von der immerhin im Vorwort der Zeitschrift „Widerspruch 58“ die Rede ist) ausgeblendet? Sind parlamentarische Mehrheiten in den Augen Schäppis keine demokratische Legitimation, wenn es sich um bürgerliche Mehrheiten handelt?

Systemwechsel und Demokratie

Schäppi argumentiert weiter, Umweltzerstörungen wie die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko seien „im Rahmen eines kapitalistischen Systems" (zu dem er ja auch unser Land zählt) "nicht lösbar“ oder zu verhindern. Aber wie steht es mit den sauberer gewordenen Schweizer Seen, deren Zustand sich im Vergleich zu den Zuständen vor 30 oder 40 Jahren deutlich verbessert hat? Und schliesslich: In welchem Land mit andern Wirtschaftssystemen werden oder wurden solche Probleme besser gelöst? Etwa in China (das sich immer noch sozialistisch nennt) oder Kuba oder in der ehemaligen DDR oder in der Sowjetunion?

Selbstverständlich sind Forderungen nach politisch-wirtschaftlichen Veränderungen oder gar einem Systemwechsel absolut legitim und in einer lebendigen Demokratie notwendig. Dass Alternativen zum Kapitalismus „in der öffentlichen Debatte tabuisiert“ seien, wie der Zürcher Philosophie-Professor Urs Marti ebenfalls in der Zeitschrift „Widerspruch“ behauptet, kann ich nicht nachvollziehen. Aber wer einen solchen Systemwechsel verlangt, sollte erstens genauer erklären, was im Einzelnen mit Allerweltsschlagwörtern wie „Überwindung des Kapitalismus“ und „Wirtschaftsdemokratie“ gemeint ist. Und vor allem: Mit welchem Mitteln solche Umbrüche durchzusetzen wären. Soll ein Systemwechsel konsequent durch demokratische Mehrheitsentscheidungen (also durch Volksabstimmungen oder die gewählten Parlamente) herbeigeführt werden? Wenn dieses Prinzip nicht in Frage gestellt wird, bin ich beruhigt.

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Gut, dass dieser präzisierende Zwischenruf kam. Das Journal 21 ist ja ein privilegierter Raum, wo kein Inserateboykott droht und die meisten Diskussionsteilnehmer weder befördert noch gewählt werden wollen. Es wäre schade, wenn der Dialog auch hier mit ideologischem Leerlauf geführt würde.

Ich nenne mich von jetzt an cathari. OK? Geld und Wirtschaft sind gewissen Leuten die sich schwer damit tun, ständig ein Dorn im Auge. Warum eigentlich?Wahrscheinlich weil sie die Spielregeln nicht allein bestimmen können. Die schweizerische soziale Marktwirtschaft steht heute weltweit als Vorzeigemodell da.Ein Leuchturm in einer Welt voller überschuldeter und mit Arbeitslosigkeit gegeiselter Staaten.Mit einem zwar sehr teuren aber funktionierenden Gesundheitswesen.Mit einem guten und noch bezahlbaren sozialen Auffangnetz und die Steuern ähneln noch fast dem Zehnten.Ich glaube nicht dass es klug und im Interesse der Schweizer ist an diesem System grobe Änderungen anzubahnen. Irgendwie wird man das Gefühl nicht los die gesammte Linke kämpft wie früher gegen ein Patriarchat mit Zigarren und Melone. Sie haben noch nicht begriffen dass Geld in einem stark konkurrierenden globalen Wettbeweb zuerst generiert werden muss bevor man es verteilen kann.Die Eigenverantwortung die auch ein Stück Freiheit bedeutet und die gerade bei uns nicht zu reinem Kapitalismus geführt hat ist für sie ein unhaltbarer Zustand. Sie wollen ein Staat, eine art Mutter die alle Wünsche befriedigt ohne zu fragen woher die Finanzierung kommt. Sie sagen einfach wir holen es uns dort wo es ist.So etwas ist aber nicht Gerechtigkeit sondern Verkennung der Faktenlage. Kapital ist frei und so gesehen ist es ein Risiko für unsere Zukunft, ein sehr kurzfristiges Denken.Wenn das Matriarchat nur noch sagt "ich will" dann sehne ich mich wieder an das nachhaltigere Patriararchat das die heutige schöne gut funktionierende Schweiz aufgebaut hat. Eine Frage hätte ich noch:"Lebt eigentlich die UDSSR und die DDR noch? An was sind sie denn Zugrunde gegangen?

Ich kann nicht umhin, an ein Parallelbeispiel in der Sexualkultur erinnern. Wenn Schwule die Gleichwertigkeit der Homosexuellen mit den Heterosexuellen verlangen, dann wird auch nicht gleich die Heterosexualität abgeschafft. Auch kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen, dass sie durch die Heterosexualität erst erschaffen worden sind...

Es sind etwa die gleiche Art von Aengsten, die die Diskussion regieren. Aber das hatten wir doch schon ab 1968...

Das eine ist ein anderes System als das endere, aber sie existieren weder übereinander, noch unabhängig voneinander.

Ich kann das SP-Bashing nun langsam nicht mehr ertragen! Egal, ob es in moderatem Ton, wie bei Ihnen, daherkommt oder in verhöhnendem Ton, wie bei anderen Medien. Das SP-Parteiprogramm ist ideell und ich sehe weder bei Politik noch bei Bevölkerung und schon gar nicht bei der Wirtschaft irgendwelche Bestrebungen, unser herrschendes System (egal, ob man es Kapitalismus oder Neoliberalismus oder was für ismus auch immer nennen will) zu überwinden oder auch nur zu überdenken. Bei einer möglichen nächsten Krise wird einfach noch weiter rechts gewählt und diejenigen, die bereits früh gewarnt hatten, werden abgestraft. Das ist doch ein altes Spiel. Wäre nett, wenn man mal einen kritischen Bericht über die diskriminierenden Plakate lesen würde, die schon wieder unseren öffentlichen Raum zukleistern und die manchmal an die Bilder des Wochenmagazins "Der Stürmer" erinnern!

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