Mayday
Sie hat es vergeigt. Das Ergebnis der britischen Wahlen bedeutet eine Demütigung für die Premierministerin. Sie hatte im April die vorgezogenen Neuwahlen angesetzt und einen Erdrutschsieg erwartet. Nach einem solchen wollte sie als harte Verhandlungspartnerin in Brüssel auftreten, Maximalforderungen stellen und den „harten Brexit“ durchsetzen.
Ihr Kalkül erwies sich als „schrecklicher Irrtum“, wie die BBC sagt. Sie hat nicht nur keinen Erdrutschsieg errungen, sie hat sogar die absolute Mehrheit, die ihr Vorgänger David Cameron 2015 noch retten konnte, verspielt. Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn hat recht, wenn er kommentiert: „Sie hat Stimmen verloren, sie hat Sitze verloren, sie hat Vertrauen verloren.“
Ihr Desaster ist umso bitterer, da der aus der Zeit gefallene Altlinke Corbyn ein schwacher Gegner war. Zwar hat er im Laufe des Wahlkampfs an Statur und sogar an Charisma gewonnen, doch viele Briten trauen ihm nicht zu, das Land zu führen. Hätte Labour eine weniger dogmatische Führungsfigur aufgestellt, wäre die Schmach für Theresa May wohl noch grösser geworden.
Sicher haben sie die Attentate verwundbar gemacht. Plötzlich stand ihre Zeit als Innenministerin im Zentrum des Wahlkampfs. Über den Brexit sprach man kaum noch. Doch es waren nicht nur die Attentate, die sie jetzt abgestraft haben. Sie hat einen schlechten Wahlkampf geführt.
Vor einigen Wochen noch galt die Premierministerin als unbesiegbar, als neue Iron Lady. Der Wahlkampf war auf ihre Person zugeschnitten. Doch Personenkult funktioniert nicht, wenn die Person keine Persönlichkeit ist.
Je mehr sie an Zustimmung verlor, desto verletzlicher wirkte sie, repetierte gebetsmühlenartig die immer gleichen Schlagworte. Sie zeigte sich zaudernd und sah sich zu peinlichen Kehrtwendungen (in der Altenpflege) genötigt. Die einst selbstsichere Frau war nun verbissen und überheblich. Freudlos war sie schon immer, doch jetzt war sie auch noch arrogant.
Ob sie diese Niederlage politisch überleben kann, wird sich zeigen. David Cameron war nach der verlorenen Brexit-Abstimmung zurückgetreten. Der Druck auf sie wird sicher zunehmen.
Mit einer starken Parlamentsmehrheit im Rücken wollte sie in Brüssel auftreten und den „harten Brexit“ durchziehen. Jetzt geht sie als „lame duck“ in die Verhandlungen mit der EU. Die Brüsseler Unterhändler werden diese Schwäche auszunützen wissen. Der „harte Brexit“ wird vielleicht doch nicht so heiss gegessen, wie ihn Frau May anrichten wollte.
Es ist ja schön, dass sich unsere aus der Zeit gefallenen Altlinken für den aus der Zeit gefallenen Altlinken Corbyn stark machen. Aber das ist viel Ignoranz im Spiel. Corbyns Programm ist durchaus jenes eines Altlinken; weitgehende Verstaatlichungen, Reichensteuer auch für gar nicht so Reiche, Umverteilung des Reichtums, Austritt aus der NATO, kein Geld fürs Militär usw. In der eigenen Labourparty ist er stark umstritten und unbeliebt. Eine Umfrage vor der Wahl zeigte, dass ihn nur 17% der Linken als Premier möchten. Auch Altlinke haben eine Existenzberechtigung, aber ein Altlinker ist er.
Brave young Brits! Brave elderly who had time to think! Bravo!
"Trumpisieren" wird uncool - Erinnerungen werden wach an "The president and the Lady" - Händchen halten - das grenzte an Schmierentheater. Wo ist die Würde in einem Land, das ich immer für ein demokratisches Vorbild hielt? (Emotional?! Klar! - aber ich wollte es gesagt haben.) Europa ohne die 'Brits' - für mich immer noch schwer vorstellbar. Timothy Garton Ash fand die passenden Worte anlässlich der Vergabe des 'Karlspreises'.
Hut ab vor Corbyn, der trotz der Widrigkeiten ein Glanzresultat einfahren konnte.
Bedenkt man, mit welcher Negativkampagne die Massenmedien in ganz Europa auf die Wahl Corbyns zum Labourchef reagierten. Altlinker, ewig gestern, aus der Zeit gefallen usw. wurde er betitelt. Die Klasse der 1%, darunter Besitzer von sehr vielen Massenmedien, sahen ihre neoliberale Alternativlos Politik gefährdet.
Desweiteren die Unsicherheit eines bevorstehenden Grexit und ob der Sicherheitslage. Psychologische Studien belegen, dass Unsicherheit vor allem das festhalten am Status Quo, das festhalten am Bekannten, befördert.
Zwar kann man noch nicht abschliessend beurteilen ob eine "Altlinke" den Negativtrend den die Neulinken, mit ihrer Kollaboration mit dem Neoliberalismus überall in Europa verursachten, nachhaltig umkehren kann. Aber die Etablierung einer Alternative zur Alternativlos-Politik der neoliberalen Einheitsparteien, die von Neulinks über die Mitte-parteien bis ins rechte Lager reichen, könnte die Demokratie in Europa bewahren helfen.
Immer wieder diese gedankenlosen Schubladenbegriffe, um jemanden zu desavouieren: "Altlinker" - hat man je von einem Altkonservativen geschrieben?
Warum nur sollen die Ziele und Ideen Corbyns aus der Zeit gefallen sein? Sind es nicht eher diejenigen, welchen ihn seit je als "Linken" verteufeln und schubladisieren?
Seien wir Schweizer froh, dass die EU-Idee, auch ohne uns, in GB hälftig willkommen ist. Das wird BR Didier Burkhalter beflügeln.
Das Ergebnis zeigt Auch, dass die Briten nach wie vor nicht wirklich wissen, was sie punkto Brexit nun wirklich wollen. Die protektionistischen Töne aus Amerika erleichtern die Festlegung nicht. Und der Aufstieg von Emmanuel Macron in Frankreich hellt das Bild der EU möglicherweise etwas auf. All dies kann Wasser auf die Mühle jener sein, die für die Beurteilung der Brüsseler Verhandlungsergebnisse ein neues Referendum fordern.
So aus der Zeit gefallen dürfte Corbyn nicht sein. Denn immerhin hat er viele Junge Wähler mobilisieren können, die ihm vor allem in einem Punkt die Stange halten: Der sozialen Ungerechtigkeit. Und die ist in England gewaltig. Die Schere zwischen arm und reich geht immer mehr auseinander. Wen wundert's bei der seit Thatcher durchgezogenen neoliberalen Wirtschaftsordnung. Junge Wähler haben offenbar, wie in anderen Ländern Europas auch, genug von einem Staat, der nur den Reichen dient.