Mehr Einmischung, bitte!

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Mehr Einmischung, bitte!

Von Christoph Zollinger, 13.09.2015

Eidgenössische Abstimmungs- und Wahlkampagnen werden monatelang im Voraus medial breitgewalzt. Die wichtigen Stimmen der Professorenschaft an UNI/ETH hört man zu wenig.

Die entscheidenden Streitpunkte der Schweizer Politik werden von den Wortführern der politischen Parteien unergiebig hin- und hergeschoben. Taktieren vor den Wahlen ist angesagt. Politische Führerschaft sieht anders aus. Doch warum hören wir so wenig von unseren Lehrkräften an den Hochschulen?

Hektischer Stillstand

Seit Monaten vernehmen wir aus den Medien, im Jahr vor den Parlamentswahlen seien keine engagierten, schon gar keine mutigen Vorstösse zu erwarten. Die Wahlen sind eben wichtiger als Problemlösungen. Besonders ungemütlich ist das Schweigen beim politischen Hauptknackpunkt: unserem Verhältnis zur EU.

Die Mitglieder des Bundesrats wenden und winden sich, bemühen sich in Brüssel und den europäischen Hauptstädten um „Verständnis“. Verständnis für die isolationistische Grundstimmung in Teilen unserer Bevölkerung. Die Frage ist brennend: Teilt eine Mehrheit des Volkes wirklich diese eigenartige, abkapselnde Einstellung? Eine Mentalität, lautstark und flächendeckend propagandiert durch folkloristische Auftritte ihrer SVP-Vertreter? Oder erliegen wir bei dieser Einschätzung einer Täuschung? Wirken diese omnipräsenten „Landesverteidiger“ („Eigenständigkeit in Gefahr!“) nur deshalb als unüberhörbare Wortführer, weil sich andere, wichtige Stimmen vornehm zurückhalten? Weil sie sich zu schön sind, um in die Niederungen der Politik hinabzusteigen?

Eine wichtige Stimme neben Politik und Wirtschaft

Unsere Professorinnen und Professoren sind gefordert. Man wird den Eindruck nicht los, sie hätten zwar etwas zu sagen, scheuten sich jedoch vor unqualifizierten oder gehässigen Reaktionen. Sie erliegen mit dieser Haltung einem unverzeihlichen Missverständnis. Ihr Beitrag zur EU-Debatte kann mitbestimmend sein für unser Land. Ihre Stimme kann die Wahlen im Herbst 2015 entscheidend beeinflussen. Es genügt nicht, wenn einige wenige, bekannte „öffentliche“ Intellektuelle sich im politischen Diskurs einschalten.

Die Unfähigkeit der Schweiz, sich für eine zeitgemässe Rolle innerhalb Europas zu entscheiden, ist statisch und zementiert, während sich die Welt in schnellem Wandel befindet. Übersteigerter Individualismus in diesem Kontext ist unzeitgemäss, wirklichkeitsfremd. Die Schweiz braucht jene Kräfte, denen nicht nur ein politisches, bäuerlich geprägtes Zukunftsbild am Rand der EU vorschwebt. Es braucht ja nicht gleich ein „Komitee gegen den schleichenden Realitätsverlust“ zu sein.

Politik und Wissenschaft

Nach dem Ja zur Zuwanderungsinitiative vom 9. Februar 2014 ging ein zögerlicher Ruck durch einen Teil der Professorenschaft. Realisiert wurde plötzlich, wie stark das politische Geschehen auch hier den Alltag prägt. Was nun mit dem europäischen Forschungsprogramm, ohne dessen Austauschmöglichkeiten ein eigentliches Grounding droht? Die Erkenntnis, dass in der modernen Forschung kein Land im Alleingang erfolgreich sein kann, wirkte wie ein Weckruf im Elfenbeinturm. Mehrere Professoren wurden politisch aktiv.

Doch das genügt nicht. Sich nur dann einzumischen, wenn der eigene Garten auszutrocknen droht, ist zwar ein löblicher Anfang. Die Hochschulen haben die Pflicht, ein wachsames Auge auf die Entwicklungen in der Gesellschaft und der Politik zu werfen. Kritisches Reflektieren gehört ja zum Beruf. Zwar sind auch weitere lokale Ansätze des politischen Sich-einmischens feststellbar, doch werden diese Einzelaktionen in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Vielleicht sollte sich ein eigentliches Koordinationsgremium mit einer professionellen, gesamtschweizerischen Kommunikationsplattform bilden?  

Die herbeigeredete Gefahr

Die schleichende „Hauptgefahr für die Schweiz, die es unter allen Umständen abzuwenden gilt“, ist nicht, wie es Christoph Blocher in orchestrierten Inseratekampagnen propagandiert, der Rahmenvertrag mit der EU, sondern die   Spaltung unseres Landes angesichts seiner Zukunftsplanung. Seit 1992, als die „Mehrheit“ des Volkes (50,3% der Abstimmenden) oder 39.6% der Stimmberechtigten auf die Schalmeiengesänge gefährdeter Souveränität und Volksrechte hörte, hat sich ein Graben durch die Schweiz geöffnet, ein Anti-EU-Graben. Dieser ist eigentlich eine künstliche, herbeigeredete Verwerfung – es ging ja gar nie um den EU-Beitritt.

Unkräuter der Propaganda  

Propaganda beeinflusst unser Denken. Unablässige propagandistische Wiederholungen von (eingebildeten) Gefahren bleiben nicht ohne Auswirkungen im Alltags-Denken vieler Menschen. Bertrand Russel hat schon im letzten Jahrhundert gemahnt: „Denn wo unabhängiges Denken abstirbt […] wuchern ungehindert die üblen Unkräuter der Propaganda und des Dogmatismus“.

Und weiter: „Wenn keine lebendige Einheit der Ziele einer Gesellschaft geschaffen werden kann, so drängt sich eine Art langweilige und schwache Gleichförmigkeit der Politik auf. Es ist schade, dass Menschen von Macht und Verantwortung dies so selten wahrhaben wollen“.*

Populismus als Gefahr

Die diesjährige Sommerakademie der Schweizerischen Studienstiftung in Sils Maria   stand unter dem Motto „Populismus als Gefahr“. Ziel der Veranstaltung: Erarbeitung einer historisch informierten Perspektive auf die liberale Demokratie im 21. Jahrhundert. Insbesondere der aus den USA angereiste, unermüdliche, 90-jährige Historiker Fritz Stern (Prof. Emeritus Columbia University, New York) fesselte die Teilnehmenden mit seinem vom persönlich Erlebten geprägten Geschichtsbild aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland.

Sehr Bedenkenswert seine Analyse des Damaligen und die daraus gelernte Schlüssellektion: Zivile Passivität und gewollte Blindheit ergaben ideale Vorbedingungen für den späteren Triumph der NS. „Zivile Passivität und  gewollte Blindheit“, diese Erkenntnis – immer auf Deutschland bezogen – die Geschichte liefert eine eindrückliche Lektion: die Fragilität unserer Demokratien, die Fatalität ziviler Passivität oder Gleichgültigkeit: im Nachhinein wäre jene Entwicklung wohl nicht unvermeidbar gewesen.

Neue Bilder malen

Wer die Köpfe der Menschen gewinnen will, darf nicht schweigen. Zweifellos wären an dieser Stelle Hochschullehrende in der Lage, Geschichten zu erzählen. Solche überzeugende Beiträge (nicht wissenschaftliche Papers) sind in den hausinternen Printmedien der UNI/ETH immer wieder zu finden. Doch in der aktiv bestimmenden Wählergruppe bei eidgenössischen Abstimmungen und Wahlen sind leider Studierende eine kleine Minderheit.

Diese andere Botschaft hätte nicht den Anspruch, das einzig richtige oder mögliche Weltbild zu verkünden. Die geballte Kraft der Hochschullehrenden müsste aber in der Lage sein, fachspezifische Orientierungshilfe, wertvolles Wissen und intelligente Lösungsvorschläge zu liefern und dies alles einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen. Einprägsame Bilder zu malen, die eine weltoffene Kraft des politischen Gestaltens symbolisierten und dabei nicht zu akademisch tönten. Eine moderne Interpretation von „Sicherheit“, basierend auf realen Gefährdungen, zu beschreiben, den Klimawandel zu thematisieren, über das Verhältnis der Schweiz zur EU nachzudenken. 

Dies würde dazu beitragen, ein optimistisches, offenes Bild zu entwerfen, wie unser Land auf die drängendsten Herausforderungen der Zeit reagieren könnte.

Der Entscheid läge dann immer noch bei den Abstimmenden. Doch diese hätten dann – neben einem Strauss gegensätzlicher parteipolitischer Empfehlungen – plötzlich eine qualitativ verbesserte Auswahl.

*Literatur
Bertrand Russel: „Denker des Abendlandes“, (2005)

Weiterführend
(Fritz Stern, „A fundamental History Lesson“)
http://inthesetimes.com/article/2341*

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Danke Herr Zollinger für diesen Beitrag. Das Qualitätssiegel, das lange Zeit die demokratische Kultur der Schweiz auszeichnete, war die Sachdiskussion oder der Sachstreit. Persönliche Anschuldigungen und Ausfälligkeiten auf die Verfechter eines Standpunktes waren tabou und als unzulässiger Stil verpönt. Diese Kultur hat die Schweiz nicht nur ausgezeichnet sondern war Voraussetzung für ihren allgemeinen Erfolg. Eine breite Beteiligung der Stimmbürger war damit gewährleistet.
Die anstehenden Probleme können wir nur dann gemeinsam meistern, indem wir uns wieder auf Sachlichkeit als politische Tugend setzen.
Zur Ehrenrettung der Professorenschaft möchte ich doch die RASA-Initiative anführen. Diese hat ihren Ursprung in Hochschulkreisen. Sie mag nach dem tradierten Verständnis unserer Parteien völlig quer in der politischen Landschaft liegen, doch vielleicht sind wir noch einmal froh, dass die RASA Initianten uns noch einen Rettungsfallschirm bereit halten.

Danke für diese Worte, Herr Zollinger! Wir erleben jetzt einfach, die Auswirkungen von Blochers Kampagnen gegen die "Classe Politique" und gegen die Wissenschaft und ihr Schlüsselsatz: "Man wird den Eindruck nicht los, sie hätten zwar etwas zu sagen, scheuten sich jedoch vor unqualifizierten oder gehässigen Reaktionen." zeigt ganz exemplarisch, wo das Problem der 75% Nicht-SVPler liegt; Wir haben alle Angst und zittern vor den orchestrierten Angriffen der Rechtsnationalen, weil diese unser Land, durch ihre unbegrenzten finanziellen Mittel, förmlich in Geiselhaft genommen haben und jeder, der sich dieser "Macht" in den Weg stellt, wird gnadenlos durch die Mangel gedreht und notfalls auch medial hingerichtet, wie es einem Ph. Hildebrand, oder den Mitarbeitern eines Ch. Mörgeli passiert ist. Es ist diese Angst, welche unser Land lähmt und es sind leider nicht nur die Wissenschaftler, sondern wir alle, die wie das Kaninchen vor dieser übermächtig scheinenden Schlange zittern und es wäre bestenfalls noch anzufügen, dass nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Kunst sich mehr einmischen müsste, denn ich überlege mir oft, was z.B. ein Friedrich Dürrenmatt zu diesen populistischen Kampagnen und der bewussten Dauerdesinformation der SVP gesagt hätte und ich bin überzeugt, dass seine Worte eine Wohltat gewesen wären, da er diesen Popanz und Brandstifter aus Herrliberg in aller Schärfe und mit seiner wunderbaren Ironie auf die wahre Grösse und Bedeutung gekürzt hätte!

Dürrenmatt hat mit "Durcheinandertal" auch die heutige Situation der Schweiz treffend beschrieben.

Auch Samuel Bendicht kommt in dem Stück vor!

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