Musterdemokratie oder erstarrter Staat?
Journal 21 stellt in dieser neuen Rubrik ausgewählten Personen aus Politik, Wissenschaft und Kultur «die Gretchenfrage» zu einem hintergründig aktuellen Problem. In der ersten Runde geht es darum, ob das Schweizer Modell der Demokratie an seine Grenzen stosse.
Politik dauert in diesem Land meist länger als in anderen Demokratien. Bremsend wirken Referendum und Föderalismus. Trotzdem: Wenn der Anpassungsbedarf an geänderte wirtschaftliche, soziale oder politische Bedingungen sehr hoch ist, gelingt es in der Regel, eine mehrheitsfähige Lösung zu finden.
Im Gegensatz zur Referendums-Bremse wirkt die Volksinitiative beschleunigend. Sie bringt Probleme und mögliche Lösungen auf den Tisch. Zwar scheitern die meisten Initiativen an der Urne. Ihre Anliegen finden aber dennoch den Weg ins politische System; meist etwas abgeschwächt, dafür aber umsetzbar.
Das Schweizer System der halbdirekten Demokratie kann durchaus als Erfolgsgeschichte betrachtet werden, wenn auch nicht gerade als Musterdemokratie. Beispielsweise war die späte Einführung des Frauenstimmrechts alles andere als mustergültig. Genauso wenig wie die intransparenten, oft engen und verfilzten Machtzirkel, in denen die Eliten ihre Kompromisslösungen zimmerten. Aber das System der halbdirekten Demokratie stabilisiert, sorgt für Interessensausgleich und für die nötige Dosis Innovation. Zumindest bis anhin.
Gaspedal durchgedrückt
In der heutigen Zeit der mediatisierten Politik und der professionalisierten Kampagnen wird das Volksinitiativen-Gaspedal immer stärker durchgedrückt. Es werden immer häufiger Volksinitiativen ergriffen, sei es als Wahlkampfinstrument (Stichwort 1:12-Initiative), als Ventil zur Kanalisierung öffentlicher Empörung (Stichwort Verwahrungsinitiative) oder als Instrument zur Durchsetzung von Partikulärinteressen (Stichwort Billag-Initiative). Und immer häufiger nehmen Volksinitiativen die Hürden des Volks- und Ständemehrs.
Diese Vorlagen werden ohne Vernehmlassungsverfahren, ohne breit abgestützte Debatte ausgearbeitet. Das Volk kann dazu nur Ja oder Nein sagen. Die Unterlegenen haben dann mit der Politik zu leben, auch wenn dadurch die eigene Existenz gefährdet wird (Stichwort Zweitwohnungsinitiative). Je mehr Volksinitiativen angenommen werden, desto mehr verliert die politische Kultur des Ausgleichs, der Kompromisse, der Einbindung aller an Bedeutung.
Volksinitiativen sind oft schwer umsetzbar. Es war ein Vorteil der früheren Zeiten, dass die Kampagnen noch nicht so geschmiert liefen und nicht so viel Geld im Spiel war. Es gab daher viel weniger Initiativen, und es wurde kaum je eine angenommen. Volksinitiativen waren primär als Input zu verstehen. Sie wurden nicht als «Befehl» der obersten Gewalt im Staat in der Verfassung festgeschrieben. Volksinitiativen brachten Schwung ins politische System. Heute fragt sich, wie viel Schwung das System verträgt, ohne dass es von der Spur abkommt. Schafft es bei dem Tempo die Kurven noch?
Zu viel Vereinfachung
Die pessimistische Antwort ist Nein. So kann das nicht funktionieren! Das Instrument der Volksinitiative verlangt viel zu viel Vereinfachung. Wenn Politik primär über diesen Kanal gesetzt wird, dann kann dies nicht gutgehen. Nicht, wenn simple Mehrheitsentscheide, die zudem immer nur von einer eher kleinen Minderheit der Bevölkerung getroffen werden, Grundrechte aushebeln können.
Die Gesellschaft ist viel zu komplex, die Interessenslage zu unklar, als dass man über Prioritäten, die mittels Volksinitiativen gesetzt werden, Politik im Sinne des Gesamtgemeinwohls machen könnte. Die Steuerungsfähigkeit droht Schaden zu nehmen, die politische und wirtschaftliche Stabilität werden flöten gehen und damit verbunden auch der hohe Grad an Erwartungssicherheit, der die Schweiz in der Vergangenheit so erfolgreich gemacht hat. Die einen versuchen zu steuern, während die anderen immer mehr Gas geben. Irgendwann werden sie gegen die Wand fahren.
Bedingungen für ein positives Szenario
Es ist aber auch eine optimistische Antwort denkbar: Regierung und Parlament werden zwar vermehrt aufgerüttelt. Sie sind dadurch gezwungen Stellung zu beziehen und Lösungen zu finden. Auch da, wo es schwierig ist – und auch da, wo ohne Volksinitiative kaum Handlungsdruck vorhanden wäre. Parallel zu Medien und Kampagnen werden auch die politischen Institutionen professioneller. Sie werden ihre Problemlösungskapazitäten erhöhen und lernen, mit der neuen Situation umzugehen. Das politische System der Schweiz wird sich anpassen, und es wird dadurch auch besser gerüstet sein, im stark gewandelten internationalen Umfeld zu bestehen.
Ob die optimistischere Sichtweise eine Chance hat, hängt vom Verhalten der politischen Eliten ab. Ob sie beispielsweise zulassen, dass sich die bereits im Entstehen begriffene Norm durchsetzt, wonach Regierung und Parlament per Volksinitiative gesetzte Verfassungsartikel nicht zwingend wortgetreu umsetzen müssen. Ob sie das Instrument der Volksinitiative weise einsetzen, auch wenn es um die Sicherung ihrer Machtansprüche geht. Ob sie bereit sind, die politischen Kräfte wieder entsprechend ihrer Wählerstärke einzubinden.
Auf jeden Fall wird das nicht reibungslos gehen. Das politische System wird zwar nicht erstarren, aber auch kaum mehr auf den alten Pfad der Stabilität, Erwartungssicherheit und bedächtigen Anpassung zurückkehren.
Michelle Beyeler ist Privatdozentin für Politikwissenschaft an der Universität Zürich sowie Lehrbeauftragte und Projektleiterin an der Universität Bern.
Ich will nicht in einer Musterdemokratie leben, aber in einer Demokratie. Nicht in einer Muster- und nicht in einer repräsentativen Demokratie, wo die Regierung handverlesen ERNANNT wird (wie in der EU) und die Parlamentarier entweder nichts zu sagen haben, oder doch zumindest nachdem sie gewählt wurden, vier Jahre lang genau das machen, was sie und die Regierung wollen.
Aehnliches war damals an der Uni auch zu hören: Initiativen als Denkanstoss, meist sowieso zum Scheitern verurteilt, sodass kein Bedarf für Reform bestehe etc. Leider sind diese ruhigen Zeiten vorbei, und der Appell an die Eliten hilft kaum weiter, da es heute bei vielen Abstimmungen gerade darum geht, die echten oder vermeintlichen Eliten zu desavouieren. Ohne ein Minimum an Reform gerät die direkte Demokratie in eine Sackgasse. Ueberlegenswert wäre ein gewisser Schutz der Verfassung: entweder durch verstärkte Mehrheitsanforderungen (z. B. 60 statt 50 Prozent) oder eine Mindeststimmbeteiligung (auch hier 60 Prozent), damit ein Volksentscheid überhaupt Gültigkeit erlangt. Oder ein gewisser Zwang zu "echten" Entscheidungen: eine Initiative welche internationale Konventionen oder Abkommen in Frage stellt, müsste automatisch zu einer Abstimmung über diese Verpflichtungen führen. Wegen der "Guillotine-Klausel" hätte der Souverän am 9. Februar also über das gesamte Paket der Bilateralen abstimmen müssen; zur Frage der Ausweisung von ausländischen Deliquenten wäre eine Abstimmung über die Kündigung der europäischen Menschenrechtskonvention notwendig gewesen. Dies um die Aushöhlung der Schweizer Erfolgsgeschichte per Salamitaktik zu vermeiden.
Um Ihre Vorschläge realisieren zu können bräuchte es Abstimmungen dazu, nicht? Diese Abstimmungen würden dann wohl die internationalen Konventionen oder Abkommen in Frage stellen, denn um die ginge es gemäss Ihren Überlegungen?
Diese Abstimmungen nicht unbedingt, es ginge ja nur um die internen Spielregeln der direkten Demokratie. Allerdings, und da liegt der Hase im Pfeffer, muss jede Einschränkung der Volksrechte vom Volk abgesegnet werden. Ein gegenwärtig ziemlich illusorisches Unterfangen, doch kein Grund, aus dem Status quo eine Art Denkverbot abzuleiten.
Die Ausschaffungs-, Verwahrungs- und Einwanderungsinitiativen waren vor allem ein Misstrauensvotum an die Justiz und ein Weckruf an das Parlament.
War die Problemerkennung und Problemlösung früher besser, als die Initiativen kaum je angenommen wurden? Waren Wirtschaft und Politik früher weniger verbandelt? Eines scheint mir klar zu sein: Früher war die Machtfülle - gerade für den Bundesrat - grösser. Der Bundesrat in anderen Zeiten profitierte oftmals vom Bonus der Obrigkeitsgläubigkeit. Das ist heute anders. Auch darum, weil die Medien die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Politik und Wirtschaft transparenter machen. Wie sonst ist es zu erklären, dass jeder Politiker, der im Rampenlicht steht, und jeder Chefbeamte eine Gilde von PR- und Kommunikationsexperten um sich schart? Die heutigen Schweizermacher getrauen sich kaum mehr einen einzigen Satz in Eigenregie zu formulieren. Und da fängt das eigentliche Problem an: Wie soll man Magistraten und Chefbeamten vertrauen können, die keine Verantwortung übernehmen und ihre Adlaten die Öffentlichkeitsarbeit machen lassen? Die so genannte Elite verdient gutes Geld und müsste eigentlich so gut ausgebildet sein, um Probleme zumindest skizzieren zu können oder mit ein paar Sätzen geradezustehen. Und wenn irgendwo in einer Verwaltung ein gravierendes Problem bekannt wird, wird in Raten oder gar nicht informiert. Wie beim jüngsten Fall, wo das Seco sämtliche Aufsichts- und Informationspflichten sträflich vernachlässigt hat. Es hat sich ein neuer Filz etabliert. Vielleicht ist das mit ein Grund, dass der Souverän den Eliten nicht mehr traut und daher vermehrt Initiativen lanciert werden. Natürlich haben die Mediengeilheit und Egozentrik der Politiker, mit einhergehender Publikumsbewirtschaftung, einen ebenso grossen Einfluss auf die Fülle der Volksbegehren. Vielleicht müsste der Augiasstall, mit all den internen und externen Beratern, PR - und Kommunikationsexperten und sonstigen Lobbyisten, die im Übrigen vom Steuerzahler berappt werden, zuerst ausgemistet werden.
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Meiner Meinung nach haben Sie völlig Recht.
Man muss sich grundsätzlich darüber Gedanken machen, ob das innehaben von Machtpositionen mit dem gleichzeitigen Abgeben von jeglicher persönlicher Verantwortung vereinbar ist?
Grundsätzlich ist es heute soweit, dass sogenannte Verantwortungsträger eben gerade nie die Verantwortung für etwas übernehmen was sie aufgrund von ihrer Position eigentlich zu verantworten hätten. Sie vertreten die Meinung ihrer Berater gegen aussen, weil sie über ihre befristeten Amtsangelegenheiten viel zu wenig wissen (können). Sie werden von Lobbyisten beflirtet welche sie mit Argumenten überzeugen die es in sich haben, aber häufig nicht zum Wohle des Volkes und Landes beitragen.
Da haben sich schon seit Urzeiten Biotope zwischen Politik und Wirtschaft entwickelt die mittlerweile eher an undurchdringliche Sumpflandschaften erinnern.
Vielleicht ist das ein Grund für die zunehmende Anzahl von Volksinitiativen. Das Stimm- Wahl- und Steuerzahlervolk fühlt sich nicht mehr ernst genommen und ergreift die Gelegenheit die Politik aufzurütteln. Parteien welche dem Volk "auf's Maul schauen" formulieren Initiativen welche die Unzufriedenheit des Volkes beinhalten und das Volk stimmt darüber ab.
Je grösser die Unzufriedenheit mit den verantwortungslos handelnden Verantwortungsträgern desto mehr Initiativen wird es geben. Keine Ruhe mehr in den oberen Etagen in Sicht. Empörten Reaktionen der verantwortungsbefreiten Entscheidungsträger und Anfeindungen gegenüber den Initianten von Volkdinitiativen zum Trotz wird diese Spirale weiter fortgesetzt werden.
Denn obwohl das von den solchermassen Herausgeforderten immer auf die initiierenden Parteien geschoben wird, muss man deutlich festhalten: Initiativen werden aufgrund der Unzufriedenheit im Volk gestartet. Sie kommen zur Abstimmung weil sie genügend Unterschriften erhalten haben - und wenn sie angenommen werden, dann nicht von den Initianten - sondern vom Stimmvolk!
Das wird von unseren - von uns bezahlten - verantwortungs- und entscheidungsbefreiten Leistungsträgern gerne vergessen.
Wie gesagt, kein Ende in Sicht! Das System das sich in den oberen Etagen unserer Gesellschaft installiert hat ist falsch - aber zäh.
Es wird sich vermutlich nicht im Guten ändern.
http://www.neopresse.com/gesellschaft/kommentar-macht-und-gewissen/
Guter Artikel. Danke.
Heikel ist beim erhöhten Populismus-Niveau in der Schweiz (und im übrigen Europa), Verfassungsartikel nicht zwingend wortgetreu umsetzen zu wollen, was nicht eben "don't feed the populists (trolls)" bedeutet.
Zweite Kritik: die Verwendung von "(politischen) Eliten" erscheint mir zu unbedacht bzw. ohne Erläuterung und damit bereits zu inflationär.
Sehr guter Artikel! Da müsste man auch mal von den medial geschürten Ängsten sprechen. Zu oft wird suggeriert, dass durch bestimmte Umstände sehr Unangenehmes geschehen könnte. Situation oder Schreckängste werden höllisch emotionalisiert dargestellt. Durch Assoziation mit eigenen Hilflosigkeitserlebnissen wird so vermehrt Handlungsbedarf vorgegaukelt. Ja sogar da, wo noch gar keiner ist. Immer schneller dreht sich der Derwisch bis er zerspringt. Lebendiges wird eingeschnürt bis zur Bewegungslosigkeit. Künstlich erhöhte Spannungen generieren oft erhöhte Reizbarkeit und so was verlangt wiederum nach Spannungslinderung. So punkten die scheinbar braven, netten und angepassten Gruppierungen durch gesellschaftliche Akzeptanz mit immer mehr Motionen und Initiativen. Z.B. Lasst den muslimischen Mädchen ihre Kopftücher und lasst in unseren Schulen dafür die Kruzifixe an den Wänden hängen. Toleranz beginnt im Denken und basiert auf Liebe zum nächsten.…..gilt auch für mein geliebtes Wallis!…..cathari
Es wird immer so getan, als ob die Parteien die Politik machen, aber je länger je mehr habe ich das Gefühl, dass heute in den PR- und Marketingabteilungen bestimmt wird, wo uns der Schuh zu drücken hat, worauf Probleme postuliert werden, welche dann, oh Wunder, von der entsprechenden Partei aufgegriffen werden und mit den immer gleichen, meist untauglichen Lösungsansätzen in eine Initiative mit einem möglichst griffigen Namen verpackt werden, welche dann in riesigen Lettern von allen Plakatwänden zurufen soll: "Wählt unsere Schweiz-Partei, denn die anderen tun ja eh nichts zu den Problemen, die wir selber kreiert haben!" und das gleiche wird auch durch die Lautsprecher aus der Partei des Volkes über alle medialen Kanäle verbreitet, bis die Empörung über die angebliche Untätigkeit der anderen fast physisch greifbar wird und die Empörung sich in allen Foren, durch bezahlte Postings Luft verschafft und dann ist es meist nicht mehr weit, bis die politisch Uninteressierten ebenfalls empört zum Wahlzettel greifen und denen in Bern mal den Marsch blasen wollen, ohne zu merken, dass die Superpatrioten sie eigentlich nur dazu missbrauchen, den Rechtsstaat auszuhöhlen und die sozialen Errungenschaften zu torpedieren, damit ihre Geldgeber möglichst gute Geschäfte machen können und im Hintergrund ihre ganz eigene, zum Teil völlig gegen die Interessen der Allgemeinheit gerichtete Politik für die Geldelite und die Abzocker machen können.
PS: Nach all den Angriffen auf den Rechtsstaat durch Automatismen, welche den Gerichten jeden Ermessensspielraum nehmen sollen, warte ich nur noch auf eine Initiative, die den automatischen Richter will und sich zum Beispiel "Gerechtigkeitsbeschleunigungsinitiative" nennen könnte.