Renaissance der Handschrift?
Interaktive Schnittstellen sind angesagt. Zum Beispiel das Surface Tablet von Microsoft. Es lässt sich nicht nur per Touchpad und Touch-Display, sondern auch per Stift bedienen (ein Lichtgriffel wurde allerdings schon in den späten 1940er Jahren entwickelt). Das Tablet „erkennt“ die Spitze des Stifts bereits dann, wenn man sie zwei bis drei Zentimeter über der Bildschirmoberfläche hält. Berührt die Spitze des Stifts das Tablet, wird das als Klick interpretiert. Solange das Tablet den Stift erkennt, ignoriert es die Signale des Touchscreens. Man kann also die Hand auflegen und auf dem Tablet so schreiben, wie man es auch auf Papier tut.
Surface sei optimal für handschriftliche Notizen, liest man. Ermöglicht also das Tablet eine Renaissance der Handschrift? Gewiss: Es ist ein kleines Meisterwerk der Digitaltechnik. Am faszinierendsten daran erscheint jedoch nicht das technische Objekt selber, sondern die elementare Verschiebung in unseren traditonellen Kulturtechniken, die es mit sich bringt. In diesem Fall im Gebrauch der Hand beim Schreiben: Ist Schreiben auf dem Papier gleich wie Schreiben auf dem Schirm?
Phänomenologie des Tablets
Schon die Phänomenologie – also das Wie-es-ist-auf-etwas-zu-schreiben – zeigt Unterschiede auf. Man benutzt zwar den Stift durchaus, um Markierungen auf dem blanken Bildschirm anzubringen, zum Beispiel Unterstreichungen in einem PDF oder Notizen in einem Word-Dokument. So gesehen bietet Surface zur üblichen digitalen Palette an Gesten für das Trackpad – Drücken, Klicken, Scrollen, Wischen – eine analoge Option an. Der Stift erlaubt einen persönlicheren Umgang mit dem Schirm, weil er nicht von der Werkzeugleiste des Geräts, sondern vom taktilen Repetoire der Hand diktiert wird.
Benutzer des Tablets (ich selber bin keiner) weisen freilich bei diesem Wie-auf-Papier-Schreiben auf eine irritierende Erfahrung hin, die mir bezeichnend erscheint: eine geringfügige, aber bemerkbare Verzögerung zwischen Kontakt und Niederschrift – also zwischen dem physischen Druck und seiner elektrischen Weiterleitung und Übersetzung in Information. Ein Nutzer beschreibt sie als das Gefühl des Getrenntseins von dem, was man tut, nämlich vom Zeichensetzen in ein Medium. Die Markierung erscheint erst Sekundenbruchteile nach dem Aufsetzen des Stiftes. Im Kontrast dazu hält mich ein Filzstift oder eine Füllfeder (sofern sie nicht ausgetrocknet sind) in einem unmittelbar physischen Kontakt mit dem Papier. Schreibend werden ich und Medium quasi intim. Ich spüre fast buchstäblich, wie mit der Tinte auch meine Gedanken auf das Papier fliessen. „Unser Schreibwerkzeug arbeitet mit an unserem Gedanken“, lautet Nietzsches berühmter Satz.
The medium matters
Ein unscheinbares „subjektives“ Detail, mag man sagen, das wohl bald auch technisch behoben sein wird. Dennoch halte ich die Beobachtung für medienanthropologisch zentral. Das heisst, sie bestätigt zunächst ein generelles Faktum: The medium matters – Jedes Medium ist materiell. Anders gesagt: Die Materialität des Mediums – Stein, Ton, Holz, Pergament, Papier, Flüssigkristall – prägt unsere Schreibpraxis. Körper und Medium bilden in der Schrift eine Symbiose. Bereits das Wort „Digitalisierung“ deutet ja ein körperliches Ereignis an, nämlich den Übergang von der Hand zum Finger, zum digitus. Walter Benjamin nannte dies – im Zusammenhang mit der Schreibmaschine – „die Innervation der befehlenden Finger an die Stelle der geläufigen Hand setzen.“
Auf einen Unterschied zwischen Papier und Bildschirm sei kursorisch hingewiesen. Wenn ich etwas auf ein Blatt Papier schreibe, dann ist es da, auf dem Stück Materie, als physisches Zeichen, von mir gesetzt. Das Medium bewahrt meinen Eintrag. Wenn ich etwas dem Schirm des Tablets einpräge, dann hat das Folgen, die ich nicht überblicke. Mit meinem Schreiben auf dem Schirm initialisiere ich in darunter liegenden signalleitenden Schichten quasi eine unsichtbare Kaskade weiterer Aufschreibungen, und sie ziehen eine Spur im elektronischen Nervennetz, die ich nicht verfolgen, die aber durchaus irgendwo im gigantischen Datensilo eines Servers enden kann. Das Medium – der Schirm – bewahrt und entzieht mir also zugleich meinen Eintrag.
Disziplinierung und Personalisierung
Schreibwerkzeug ist nie bloss Instrument, sondern immer bis zu einem gewissen Grad Inkorporation. Schreiben ist ein eminent körperlicher Akt. Und wie alles Körperliche manifestiert es eine Ambivalenz von Disziplinierung und Personalisierung. Michel Foucault weist in „Überwachen und Strafen“ darauf hin, wie sehr in den pädagogischen Traktaten des frühen 19. Jahrhunderts Schreibtechnik als gleichschaltende Körpertechnik exerziert wurde: „Ein wohldisziplinierter Körper bildet den Operationskontext für die geringste Geste. Eine gute Schrift zum Beispiel setzt eine ganze Gymnastik voraus: eine Routine, deren rigoroser Code den ganzen Körper von der Fussspitze bis zum Zeigefinger erfasst.“
Und vor Foucault hat Martin Heidegger die Maschinisierung des Schreibens zum philosophischen Drama der menschlichen Entfremdung, der Vermassung, stilisiert: „Der Mensch ‚hat’ nicht Hände, sondern die Hand hat das Wesen des Menschen inne, weil das Wort als der Wesensbereich der Hand der Wesensgrund des Menschen ist (...) Die Schreibmaschine entreisst die Schrift dem Wesensbereich der Hand, und d.h. des Wortes (...) Ausserdem bietet die Maschinenschrift den Vorteil, dass sie die Handschrift und damit den Charakter verbirgt. In der Maschinenschrift sehen alle Menschen gleich aus.“
Handschrift – Heidegger deutet es implizit an – ist nicht nur ein Medium der Zucht, sondern der Selbstfindung, der Personwerdung. Sie müsste wahrgenommen werden als Handhabung – buchstäblich als das Haben einer Hand –, was wiederum bedeuten würde: als die Bewusstwerdung meiner Hand (meines Körpers, also meiner selbst) im Gerätegebrauch. In der Handschrift habe ich mich selbst, setze ich mich zu mir in innige Beziehung. Ein sehr persönlicher Akt, der ja nicht zufällig den Graphologen als empirisches Indiz für den persönlichen Charakter dient (mit welcher erkenntnistheoretischen Rechtfertigung auch immer).
Verfall der Schreibsitten online
Es gehört zu einer weit verbreiteten Form von Technikkritik, ungewohnte oder missliebige soziokulturelle Veränderungen irgendwelchen neuen Technologien anzulasten. So steht schon seit einiger Zeit die orthografische „Fehleritis“, der endemische Verfall der Schreibsitten online im Fokus der Presse. Könnten sie auf den spezifischen Klick- und Antippmodus des Schreibens zurückzuführen sein?
Der Journalist Marc Reichwein äusserte vor kurzem in der „Welt“ (1.8.2015) eine einschlägige Vermutung: „Wir simsen, mailen, posten, twittern. Wir schreiben oft gar keine Schrift im Sinne der deutschen Rechtschreibung mehr, sondern integrieren Bilder, Emoticons, Akronyme aller Art (...) Wir richten unsere Schubkraft bei der Textproduktion heute eher auf das Management einer Masse von Texten als auf die Klasse ihrer Orthografie. Ob Texte korrekt geschrieben sind, scheint uns, wenn es sich nicht gerade um Journalismus, Bewerbungsschreiben oder Bücher handelt, egal. Eventuell ist das eine menschliche Adaptation an die medientechnologische Evolution (...) Heute, wo digital alles korrigierbar wäre, korrigieren wir erst gar nicht mehr. Insofern könnte man auch sagen: The medium makes the mistake.“
Technikdeterminismus ist kommod
Mag sein. Nur ist es erstens kommod, bestimmte Entwicklungen durch Technik allein determiniert zu sehen. Erinnern wir uns daran, dass ein vergleichbares Lamento schon bei der Einführung der Schreibmaschine einsetzte. 1889 befürchtete ein Anonymus den Verlust der Männlichkeit durch die Schreibmaschine: die Ersetzung der Feder, des „eigentliche(n) Symbol(s) männlichen geistigen Schaffens durch eine Maschine.“ Das hatte im Besonderen auch einen genderspezifischen Hintergrund. Mechanisches Setzen von Typen setzte zugleich eine ganze Tradition der Kalligrafie – gepflegt vor allem vom Typus des männlichen Bürodieners – ausser Kraft. Mehr noch. Das neue Schreibgerät wurde mit einer Waffe verglichen – die Kadenz der getippten Buchstaben mit der Kadenz der verschossenen MG-Patronen. 1898 schrieb Otto Burghagen in seiner Monografie „Die Schreibmaschine“: „Die Feder war einst mächtiger als das Schwert, wo aber die Schreibmaschine herrscht, da müssen Krupp’sche Kanonen verstummen.“ – Schön wär’s.
Zweitens – und das ist in diesem Zusammenhang viel wichtiger – stellt sich die Frage, ob die Maschinisierung des Schreibens der Hand, statt sie zu ersetzen, eine neue, zeitadaptierte Bedeutung verleihe. Man muss ja nicht gleich zur alten Dressur der Schönschrift zurückkehren. Schreiben ist wie jede Kulturtechnik eine Beanspruchung und Erweiterung des gelehrigen Körpers. Und wie jede Nichtbeanspruchung riskiert auch der Verzicht auf die Handschrift eine Verkümmerung menschlicher Vermögen, ironischerweise „dank“ technischer Hilfsmittel. Wir sollten die „Speicherkapazität“ der Muskeln und Nerven unserer Hände nicht unterschätzen. Wohlgemerkt, es geht nicht darum, den Schreibstift gegen die Computertastatur auszuspielen, sondern um eine Komparatistik der Schreibmodi, deren Palette zweifellos durch die digitalen Medien erweitert worden ist.
„Der Stift ist mächtiger als die Tatstatur“
Das Interesse der Forschung an Schreibmodi in unterschiedlichen Medien nimmt zu. 2014 erschien eine Arbeit der Psychologin Pam Mueller und des Psychologen Daniel Oppenheimer in der Zeitschrift „Psychological Science“ mit dem viel sagenden Titel „Der Stift ist mächtiger als die Tastatur“. Ich zitiere aus dem Abstract: „Sich auf dem Laptop statt handschriftlich Notizen zu machen gehört immer mehr zum Usus der Studierenden (...) Die vorliegende Arbeit legt nahe, dass Laptops, selbst wenn sie ausschliesslich für das Notizenmachen verwendet werden, immer noch den Lernprozess verschlechtern, weil ihr Gebrauch zu einer oberflächlicheren Weiterverarbeitung der aufgenommenen Information führt (die Laptops waren nicht mit dem Internet verbunden, gestatteten also keinerlei Zerstreuung, Anm. E.K.). In drei Versuchen fanden wir heraus, dass Studierende in begrifflichen Testfragen schlechter abschnitten, wenn sie einen Laptop statt einen Schreibstift benutzten. Es kann durchaus vorteilhaft sein, schneller und mehr Notizen zu machen; aber die Tendenz, mit dem Laptop die Vorlesung Wort für Wort zu registrieren, statt sie in eigener Sprache wiederzugeben, wirkt sich nachteilig auf das Lernen aus.“
Eine kritische Anthropologie der Medien
Zyniker werden sich hier wohl die Frage nicht verkneifen: Wer hätte das gedacht? Es ist zweifellos zu früh, verbindliche Schlüsse aus solchen Studien zu ziehen. Sicher wird es sich die Hirnforschung nicht nehmen lassen, noch einiges zum Thema zu sagen. So beschäftigt sich zum Beispiel Jean-Luc Velay von der Universität Marseille mit der Neurophysiologie des Schreibens in verschiedenen Medien. Und Anne Mangen von der Universität Stavanger fordert allgemein eine multidisziplinäre Phänomenologie des Schreibens (und anderer Kulturtechniken), welche den Angeboten und Herausforderungen der digitalen Medien Rechnung trägt.
Die Stossrichtung scheint mir – so sehr man sich über den Neuigkeitswert der Resultate streiten kann – vielversprechend zu sein. Immerhin sieht sich eine intuitive Vermutung bestätigt, die sich wohl bei vielen von uns artikuliert: Ist das Schreiben von Hand möglicherweise gerade aufgrund seiner „Bedächtigkeit“ – das heisst: Wohlüberlegtheit, Sorgfalt, Umsicht – eine körperangepasstere Verarbeitungsmethode von Informationen? „Bedächtigkeit ist die Mutter der Klugheit,“ verlautet der Grimm. Und in diesem Sinn liesse sich die Handschrift als Lehrerin der Klugheit definieren.
Wenn ich sagte, das Medium sei materiell, dann lässt sich auch sagen, dass sich im Schreibgerät eine intellektuelle Tugend materialisiert, die sich der Arbeit auf dem Papier verdankt. Am Laptop materialisiert sich eine andere Tugend. Das ist gut so. Nur sollte dies nicht als Konkurrenz der Medien, sondern als Kooperation interpretiert werden – weder als Lamento noch als Lobhudelei.
„Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.“ Renaissance der Handschrift bedeutet, dass Nietzsches Satz wirklich ernst genommen werden müsste, nämlich als Aufforderung zu einer kritisch-anthropologischen Erkundung aller heute verfügbaren Medien, ihrer Grenzen und Potenziale. Und in ihrem Zentrum steht immer der menschliche Körper, das Medium der Medien. Eine solche Erkundung wäre quasi der Anfang einer neuen Aufgeklärtheit. Sie hebt an bei so banalem Zeug wie dem Schreibstift.
Die Arbeiten von Manfred Spitzer (Digitale Demenz) sind auch sehr interessant in diesem Zusammenhang. Es gibt von ihm auf youtube ein paar Vorträge, die es in sich haben.
Toller Text, vielen Dank! "
...wie alles Körperliche manifestiert es eine Ambivalenz von Disziplinierung und Personalisierung. " Das könnte aus meiner Sicht für alle Kunst gelten (tut es heute natürlich nicht).
Der Verfall unserer Kulturtechniken hat, zumindest für eine Zeit, wohl auch den von den Ingenieuren und Sozialpädagogen wohl kaum gewollten Vorteil, dass man sich durch ihre Pflege einen Distinktionsvorteil erarbeiten kann, der mit jedem Jahr etwas deutlicher wird. Kann man noch lesen, zitieren, gut von Hand schreiben, einordnen, beurteilen...? Ich muss auf jeden Fall auf meine Schrift achten.
Zwei Anmerkungen:
(1) Der oft beklagte "Verfall der Schreibsitten online" hängt m.E. damit zusammen, dass wir in den letzten 15, 20 Jahren (a) allen Unkenrufen zum Trotz eine massive Ausweitung der schriftlichen Kommunikation erlebt haben (SMS, Facebook usw.), die (b) zudem deutlich sichtbarer ist als früher. Kurz: die orthografischen Schwächen breiter Schichten sind heute nicht grösser als früher - mit dem Unterschied, dass heute eine Vielzahl von Leuten schriftlich kommuniziert, die früher eben nur in Ausnahmefällen einen Stift in die Hand genommen haben.
(2) Die erwähnte Studie Handschrift vs. Laptop hat wohl einige Schwächen. Der Vorteil jener, die handschriftliche Notizen gemacht haben, liege darin, dass sie das Gehörte "in eigener Sprache" notiert hätten, während die Laptop-Schreiber eine Mitschrift angefertigt haben. Als Kontrollgruppe müsste man nun Personen hinzuziehen, die handschriftlich in Stenografie eine Mitschrift anfertigen, um diese Hypothese zu überprüfen.